Gerhard Besier/Hermann Lübbe (Hrsg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2005, 415 S., EUR 34,90, ISBN: 978-3525369043.
Das „Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung“ an der TU
Dresden, nach der politischen Wende des Jahres 1989 gegründet, „wurzelt“,
so die Selbstdarstellung, „in der beinahe 60-jährigen, doppelten Diktaturerfahrung
Ostdeutschlands und im aufklärerischen Impuls der friedlichen Revolution
von 1989/90“. Der hier zu besprechende, von Hermann Lübbe und dem (damaligen)
Leiter des Instituts, dem evangelischen Kirchenhistoriker Gerhard Besier herausgegebene
Sammelband gibt die Arbeitsergebnisse einer hochrangig besetzten Konferenz
dieses Instituts aus dem Herbst 2004 wieder. Deren ursprünglicher Titel
„Pluralismus, Fundamentalismus und die Freiheit der Religion. Über Formen
bürgerlicher Koexistenz im kulturellen Dissens“ benennt noch genauer,
worum es geht. Die 20 Vorträge renommierter Juristen, Philosophen, Religions-
und Sozialwissenschaftler problematisieren, durchgängig auf hohem Niveau,
das Verhältnis von Religion und Modernisierung in Europa und den USA.
Dies geschieht unter der mittlerweile breit akzeptierten Voraussetzung, dass
„entgegen den wirkungsreichen Annahmen religionskritisch inspirierter Theorien
kultureller und sozialer Emanzipation … sich die Religion grundsätzlich
als modernitätskompatibel“ (9) erwiesen habe und sich zudem die „religiöse
Kultur“ in vielfältiger Hinsicht modernisierungsabhängig pluralisiere.
Im Zentrum steht dabei die Analyse dessen, was die Einleitung die „wichtigsten
Typen des Religionsrechtes“ nennt und nicht ohne gewisse untergründige
Wertung vorstellt: die „religionsfreundliche(.) strikte(.) Trennung von Staat
und Religionsgemeinschaften“ in den USA, die „französische(n) Laizität“
und das u.a. in Deutschland bestehende „so genannte Staatskirchenrecht(s)
mit seiner Privilegierung einiger Religionsgemeinschaften vor anderen.“ Diese
Modelle sollen dabei auf „Nutzen und Nachteil in ihrer unterschiedlichen Kapazität
zur Verarbeitung religionskultureller Modernisierungsprozesse“ hin untersucht
(10) werden. Die Vielzahl der Artikel wird dabei, mehr oder weniger trennscharf,
unter einer zeithistorischen, einer zeitgenössischen und einer systematischen
Perspektive gruppiert.
Die Lektüre des Buches lohnt ohne Zweifel ob des Reichtums instruktiver
Einsichten und Einzelbeobachtungen. Der Beitrag Claus-Georg Riegels etwa,
ganz der Totalitarismustheorie des veranstaltenden Instituts verpflichtet,
beschreibt den Marxismus-Leninismus nicht nur, wie schon länger üblich,
als „politische Religion“, sondern belegt durchaus nachvollziehbar, dass sich
schon vor der „stalinistischen Anstaltskirche“ (37) die „leninistische Virtuosenreligion
als ecclesia militans und trimphans“ (24) definierte und in der Praxis auch
so gerierte. Der Duisburger Politologe Claus-Ekkehard Bärsch resümiert
eindrucksvoll seine einschlägigen Forschungen zu Goebbels, Rosenberg
und Hitler, nunmehr fokussiert um den Volksgemeinschafts“-Begriff und charakterisiert
Hitlers Denken theologisch präzise als „physiko-theologisches Weltbild“
(73) eines „religiösen Rassismus“ (65). Fast schon handbuchartigen Überblickscharakter
besitzt Gerhard Besiers Artikel zu den konkreten Umsetzungsversuchen des katholischen
„berufsständischen“ Ordnungsdenkens in Folge von
Quadragesimo anno Papst Pius XI’ während der Zwischenkriegszeit
und teilweise auch noch danach in Österreich, Spanien, Portugal, der
Slowakei und anderswo. Besier zeigt deren interne Differenz, aber auch ihre
gemeinsame autoritäre Struktur - Pius XI. soll von einem „katholischen
Totalitarismus“ gesprochen haben (82) - und dokumentiert damit nicht nur
einmal mehr, wie sehr die freiheitliche Demokratie in der römischen
Zentrale der katholischen Kirche gefürchtet wurde, sondern eben auch,
wie einflussreich dieses außerhalb der Fachwissenschaft beinnahe vergessene
berufsständisch-harmonistische Gesellschaftskonzept Roms in Europa zeitweise
war. Dies freilich, wie anders angesichts seiner illusionären Grundlagen,
letztlich dann doch mit eher bescheidenem Erfolg und bei stets gewahrter
Suprematie auch des katholischen Staates über die Kirche in allen politischen
Angelegenheiten.
Gegenüber diesen manifest anti-demokratischen und anti-liberalen Traditionen
nimmt sich dann der Blick auf die französische (Nicht-)Verführbarkeit
durch faschistische Anwandlungen (Gilbert Merlio) und die freiheitliche,
wettbewerbsbestimmte religionspolitische Kultur der USA (Michael Zöller)
natürlich ausgesprochen freundlich aus, vielleicht ein wenig zu freundlich
angesichts der jeweiligen internen Ambivalenzen. Instruktiv dabei ist freilich
Zöllers Beobachtung, dass auch im vorrevolutionären Amerika (gut
europäisch) die religiöse Einheit als die Voraussetzung der politischen
Einheit galt.
Wie nicht anders zu erwarten sind die Abschnitte zur zeitgenössischen
und systematischen Religionspolitik schärfer, kämpferischer, wohl
auch bestreitbarer. Ausgesprochen kritisch zum deutschen Staatskirchenrecht
etwa stehen die Beiträge des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Jürgen
Kühling („Wie viel Religion verträgt eine offene Gesellschaft?
Möglichkeiten und Grenzen religiöser Einflussnahme in demokratischen
Verfassungen“), des Frankfurter Rechtsanwalts und Honorarprofessors Hermann
Weber („Das deutsche ‚Kooperationsmodell’ von Staat und Amtskirchen in seinen
Auswirkungen auf religiöse Pluralität und gelebte Religionsfreiheit“)
und des Pädagogen Joachim Süss („Neureligiöse Bewegungen und
staatliches Handeln“). Weber etwa lässt keinen Zweifel an seiner Option,
wenn er das „Staatskirchenrecht des Grundgesetzes am Scheideweg (sieht) zwischen
einer bewussten Bevorzugung herkömmlicher Religionsformen unter Mutation
in ein neues Staatskirchen-Recht einerseits und dem Versuch, auch in Deutschland
ungewohnte Religionsformen in die behutsam weiterentwickelten Institutionen
eines als Religionsverfassungsrecht erneuerten Staatskirchenrechts einzugliedern
und damit dessen Legitimationsbasis zu verbreitern, andererseits“ (342).
Selbst der sehr differenziert und primär rechtsintern argumentierende
Beitrag von Hans Michael Heinig legt in seiner Analyse der Spannung von Religionsfreiheit
und Gefahrenabwehr den Akzent deutlich auf erstere. Da tut es gut, in den
Beträgen von Charles H. Lippy und Derek Davis aus genuin amerikanischer
Sicht differenziertere und (selbst-)kritischere Analysen eines solchen freiheitlichen
Religionsverfassungsrechtes zu lesen.
Auch jene Beiträge, die etwas aus dem thematischen Rahmen fallen, lohnen
durchwegs der (freilich: kritischen) Lektüre. So Bassam Tibis (allzu)
massive Vorbehalte gegenüber der türkischen AKP, Hermann Lübbes
Analyse weltanschaulicher Kulturkämpfe, welche „hinter uns“ (289) lägen,
da Wissenschaft nicht mehr wie Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts
als Religionsersatz tauge, eine Analyse, die man nach Dawkins und Co. freilich
mittlerweile auch anders sehen kann, oder auch Jan Philipp Reemtsmas’ essayistische
Überlegungen zur Frage, welche Religiosität und was genau an ihr
man als nicht-religiöser Mensch respektieren könne und müsse.
Dass sich Herbert Schnädelbach hinter Assmans Monotheismus-Thesen stellt
und Toleranz nur dort für möglich erachtet „wo die sozialen, psychischen
und politischen Funktionen der strukturell intoleranten monotheistischen
Offenbarungsreligionen an Bedeutung verlieren“ (307) überrascht nun
freilich weniger. Für christliche TheologInnen lehrreicher ist es da
schon, wenn der Islamwissenschaftler Tilman Seidensticker aufzeigt, wie flexibel
und praktisch unbegrenzt interpretationsoffen sich das Verhältnis religiöser
normativer Texte zu konkretem Handeln selbst in der Frage der religiösen
Legitimation von Gewaltanwendung darstellt.
Die Lektüre des Bandes hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck.
Die Artikel sind durchgängig lesenswert und von renommierten Experten
(leider keiner einzigen Expertin) verfasst, das garantiert ein hohes Diskussionsniveau,
teilweise gar intellektuelles Lesevergnügen. Gleichzeitig scheint in
einer Reihe von Beiträgen eine gewisse Zuspitzung diesmal eher anti-katholischer
Art gesucht zu werden. Schon das Titelbild - es zeigt den vor Johannes Paul
II. knienden Lech Walesa – markiert die katholische Kirche als Hauptgegner
einer wirklich freiheitlichen und liberalen Religionspolitik. Den christlichen
Kirchen in demokratischen Gesellschaften wird tendenziell abgesprochen, relevante
Beiträge zu einer „Kultur der Gemeinwohlbereitschaft und Bindungsfähigkeit“
als „Fundament der freiheitlichen Verfassung“ beizusteuern, wie das etwa
Paul Kirchhof ihnen attestiert. Es wirkt, als ob viele Autoren den Kirchen,
der katholischen zumal, wegen ihrer anti-liberalen Traditionen nicht wirklich
über den Weg trauen. Das erscheint angesichts der dogmatischen Festlegungen
des II. Vatikanums, der realen Pro-Menschenrechtspolitik auch des Vatikans
und der Geschichte der christlichen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland
dann doch ein wenig einseitig.
Es dürfte zudem geschichtlich logischer sein, statt nach einem Import des amerikanischen Religionsrechtes zu rufen, die alten Vorteile des modernen europäischen Kooperationsmodells (keine religiöse Aufladung politischen Handelns, Nutzen der sozial-integrativen Kraft stabiler großer Religionsgemeinschaften) auf der Basis der neueren Einsichten der christlichen Kirchen (Bekenntnis zu Demokratie und Religionsfreiheit, Einsatz für Menschenrechte, Kritik eines nicht sozial eingehegten Kapitalismus) weiterzuentwickeln hin zu einem Religionsrecht, das keine Illusionen hat auch über den möglichen destruktiven Charakter von Religion und das sich selbstverständlich zuallererst in den normativen Rahmen der verfassungsmäßig definierten Menschenrechte stellt und auf dieser Basis aktive Religionsfreiheit aller ermöglicht. Dies scheint mir im Übrigen auch politisch realistischer, insofern die langsame, aber doch sichtbar konvergierende religionsrechtliche Entwicklung Europas auf eine gelockerte Variante dieses Kooperationsmodells hinauslaufen dürfte.
Rezensent:
Rainer Bucher
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