Anke Silomon, Anspruch und
Wirklichkeit der „besonderen
Gemeinschaft“. Der Ost-West-Dialog der deutschen evangelischen Kirchen
1969-1991,Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 764 S. (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B:
Darstellungen,
Bd. 45), ISBN: 978-3-525-55747-1.
Die hier vorgestellte Studie ist im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Rolle der evangelischen Kirchen im geteilten Deutschland“ des Rates der EKD entstanden und 2005 als Habilitationsschrift angenommen worden. Die Verfasserin Anke Silomon lehrt Neuere Geschichte an der Universität Karlsruhe und ist sei 2006 stellv. Vorsitzende der Gesellschaft zur Förderung vergleichender Staat-Kirche-Forschung. Durch ihre langjährige Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an verschiedenen EKD-Forschungsprojekten sowie durch Monografien und Aufsätze zur kirchlichen Zeitgeschichte ist die fachlich bestens ausgewiesen [1]. Die umfangreiche Studie untersucht die Beziehungen zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) in den Jahren 1969 bis 1991 unter dem Aspekt ihres Bekenntnisses zur „besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland“ [2]. Mit dieser Formulierung sollte die fortbestehende geistliche Verbundenheit der evangelischen Kirchen im Osten und Westen Deutschlands ungeachtet ihrer institutionell-organisatorischen Trennung nach der Gründung eines eigenen Kirchenbundes in der DDR im Jahre 1969 programmatisch zum Ausdruck gebracht werden. Ziel der Studie ist es, „herauszuarbeiten, wie der ‚Anspruch’, also die Vorstellungen von einer ‚besonderen Gemeinschaft’ der beiden deutschen evangelischen Kirchenbünde entwickelt und in welcher Form und mit welchen Ergebnissen sie in der ‚Wirklichkeit’ umgesetzt wurde.“ (S.13). Es handelt sich nach Auskunft der Autorin um die erste wissenschaftliche Arbeit, „die sich explizit dem Thema ‚besondere Gemeinschaft’ widmet“. (S.18).
Quellenlage und Vorgehensweise
Ihrer Zielsetzung kommt Anke Silomon durch eine
äußerst
sorgfältige Auswertung der zugänglichen Quellen in
kirchlichen, staatlichen und
privaten Archiven sowie durch Heranziehung zahlreicher kirchlicher
Veröffentlichungen und wissenschaftlicher Publikationen nach, wie
das Quellen-
und Literaturverzeichnis ausweist (S. 669-701). Durch die Einbeziehung
und
Aufarbeitung der z. T. gerade erst erschlossenen Archivbestände
ist es der
Verfasserin gelungen, die unterschiedlichen bis kontroversen
Interessenlagen
und Positionen der beteiligten kirchlichen und staatlichen Akteure zum
Problemkreis „besondere Gemeinschaft“ herauszuarbeiten und zu einer
differenzierten Gesamtschau zusammenzuführen. So schildert sie
ausführlich die
kirchlichen Erwartungen und politischen Zielvorstellungen, mit denen
die
Leitung des BEK, der Rat der EKD und die DDR-Regierung – in der Regel
vertreten
durch ihren Staatssekretär für Kirchenfragen – das Konstrukt
der „besonderen
Gemeinschaft“ betrachtet und befrachtet haben. Weiter analysiert sie
die
inhaltlichen Schwerpunkte, aber auch die Spannungen und wechselseitigen
Irritationen zwischen EKD und BEK einerseits und zwischen BEK und
DDR-Führung
andererseits, die den Prozess der praktischen Umsetzung und
Ausgestaltung der
„besonderen Gemeinschaft“ über zwanzig Jahre lang begleitet und
belastet haben.
Im Ergebnis hat Anke Silomon nicht nur eine sehr sorgfältige,
viele bislang
unbekannte Details einbeziehende zeitgeschichtliche Analyse vorgelegt,
sondern
eine in dieser Form einmalige Synopse kirchlicher und staatlicher
Positionen,
Entscheidungsprozesse, Einflussnahmen, Interaktionen und Bewertungen,
die von
der Gründung des BEK ab 1967 bis in die Phase der
„Wiedervereinigung“ des BEK
mit der EKD 1991 reicht. Das im Anhang beigefügte
ausführliche Personenregister
(S. 709-764) enthält wichtige und zum Teil wenig bekannte
biografische
Detailinformationen zu den handelnden Personen.
Der Weg in die
Gründung des BEK ab 1967 – Forschungsstand und Vorgeschichte
Anke Silomon wählt für ihre Darstellung einen
chronologischen Aufbau. Ihre Einführung (S. 11-147) spannt einen
Bogen von der
Gründung der gesamtdeutschen EKD 1948 in Eisenach bis zur
EKD-Synode im April
1967, die, bedingt durch den DDR-Mauerbau 1961, an getrennten Orten in
Berlin-Spandau und Fürstenwalde tagte und mit der
„Fürstenwalder Erklärung“
noch einmal ein klares Bekenntnis zur Einheit der EKD abgelegt hatte
[3]
Ausführlich geht die Autorin auf die Geschichte der Gründung
des BEK zwischen
1967 und 1971 ein (s.u.) und widmet ihr ein instruktives Kapitel zum
„Forschungsstand“. Darin referiert sie das ganze Spektrum
unterschiedlicher bis
gegensätzliche Antworten auf die Frage nach den Faktoren, die den
Prozess der
organisatorischen Trennung der DDR-Kirchen von der EKD und damit deren
(vorläufiges) Ende als gesamtdeutsche Kirchen-Institution bestimmt
haben
(S.18-37).
In ihrer Darstellung der Vorgeschichte der Gründung des
BEK (S. 45-146) rückt die Autorin die
Entwicklungen ins Blickfeld, die für das Fortbestehen und
Funktionieren der EKD
als organisatorischer und rechtlicher Gemeinschaft in der
Bundesrepublik und in
der DDR zum Problem geworden waren, vor allem die immer deutlicher auf
Abgrenzung zur Bundesrepublik zielende Politik der SED, die
Verabschiedung der
neuen sozialistischen Verfassung der DDR vom 9. April 1968, den damit
verbundenen de-facto-Verlust des Status einer Körperschaft des
öffentlichen
Rechts für die evangelische Kirche in der DDR sowie die massiven
Behinderungen
des gesamtkirchlichen Handelns der EKD durch das SED-Regime. Mit dem
Schritt
der Loslösung von der EKD und damit in die
rechtlich-institutionelle
Selbständigkeit eines separaten DDR-Kirchenbundes war nach Meinung
der Autorin
eine Entwicklung zu ihrem Abschluss gekommen, die schon in den
50erjahren in
der EKD trotz gegenteiliger öffentlicher Bekundungen nie
gänzlich
ausgeschlossen worden war: ein „Abrücken von der Vorstellung einer
im Glauben
und in der Organisationsform geeinten evangelischen Kirche, die
zugleich eine
Art Stellvertreterrolle für die fehlende staatliche, nationale
deutsche Einheit
einnehmen sollte“.(S. 147) Die
befürchtete Gefährdung des kirchlichen Auftrags zur
Verkündigung des
Evangeliums in der DDR durch das Festhalten an einer gesamtdeutsch
organisierten EKD schien mit der politischen Entwicklung in der DDR ab
Mitte
der 60erjahre eingetreten zu sein. EKD-seitig hätte man sich
allerdings mit
einer weniger definitiven Entscheidung leichter arrangieren können
als mit dem
förmlichen Auszug der DDR-Kirchen aus dem EKD-Verbund.
„Während die
Gliedkirchen der ‚Alt-EKD’ und ihre Protagonisten maximal dazu bereit
waren,
eine auch für den SED-Staat akzeptable Zwischenlösung zu
finden, beschritten
die östlichen Brüder recht unbeirrt und selbstbewusst den Weg
zur Gründung
eines rechtlich und organisatorisch selbständigen Kirchenbundes in
der DDR. Mit
der Aufnahme des Art. 4. (4) in dessen Ordnung allerdings brachten sie
– und
dies in der theologisch grundlegenden und bedeutsamen Formulierung
eines
Bekenntnisses – ihr Festhalten an der ‚besonderen’, ‚geistlichen’
Gemeinschaft
mit der evangelischen Christenheit in Deutschland zum Ausdruck“. (S.
147) Mit
dem Übergang von der „bestehenden“ zur „besonderen“ Gemeinschaft
begann 1969
ein neues Kapitel zwischen den evangelischen Kirchen in den beiden
Teilen
Deutschlands.
„Besondere
Gemeinschaft“ (I): Die
Ost-West-„Beratergruppe“
Dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit der
„besonderen Gemeinschaft“ widmet Anke Silomon auf mehr als 500 Seiten
das
Hauptaugenmerk ihrer Studie. In Teil I „Die ‚besondere Gemeinschaft’ in
der
Praxis – Die Beratergruppe und der Ost-West-Dialog (1969-1989)“
beschreibt sie
in minutiöser Rekonstruktion der Abläufe, wie „die
Vorstellungen von einer
institutionell verankerten, verantwortlichen kirchlichen
Zusammenarbeit,
gegenseitiger Beratung und wechselseitigem Informationsaustausch“
(S.153) in
den beiderseitigen Beziehungen allmählich Gestalt annahmen und in
welcher Weise
sie verwirklicht wurden (S. 151-453).
Bereits Ende 1969 trat auf Anregung des BEK erstmals ein
Ost-West-Gesprächsgremium, die spätere „Beratergruppe“, in
Ost-Berlin zusammen.
Sie bestand aus je fünf Mitgliedern des Vorstandes des BEK und
fünf Abgesandten
der EKD, letztere in Vertretung des EKD-Rates, dessen Mitgliedern zu
diesem
Zeitpunkt die Einreise in die DDR verwehrt war, und ohne wirkliche
Vollmachten.
Kritisch vermerkt die Autorin, wie ungeklärt und angefochten das
Selbstverständnis dieser „Beratergruppe“ von Beginn an war und
auch in den
folgenden Jahren geblieben ist. Überlegungen zu ihrem Stellenwert
und ihrer
Aufgabenstellung „wiederholten sich mit einer gewissen Stetigkeit und
wurden
zu keinem Zeitpunkt durch tragfähige
Beschlüsse der kirchlichen Leitungsgremien in Ost- und
Westdeutschland
nachhaltig geklärt und abgeschlossen“.(S. 452) Sogar die
Auflösung der Gruppe
sei wiederholt erwogen, letztlich aber immer wieder verworfen worden,
weil sie
nicht nur „das Festhaltens an der grenzüberschreitenden
kirchlichen
Gemeinschaft symbolisierte, sondern auch faktisch den Zweck
erfüllte, das
Wissen um den unterschiedlichen Weg von BEK und EKD im geteilten
Deutschland
und den Dialog als solchen nicht abreißen zu lassen“.(ebd.)
Wie problembehaftet „das Wissen um den unterschiedlichen
Weg“ der beiden Kirchenbünde für die Verständigung in
der Beratergruppe bzw.
zwischen BEK und EKD war, sollte sich bald an öffentlichen
Äußerungen zeigen,
in denen der BEK Stellung zu politischen Fragen bezog. Als ein Beispiel
unter
anderen nennt die Autorin die Ausarbeitung des BEK von 1974 „Vietnam
und wir“
für die Gemeinden in der DDR. Sie veranlasste den EKD-Beauftragten
für die
Beratergruppe, Olaf Lingner, intern zu der Bemerkung, „ob hier nicht
‚Tendenzen
sichtbar’ würden, dass der Kirchenbund ‚in offiziellen
Stellungnahmen sich zum
Anwalt der DDR-Politik macht?’“(S. 215). Unüberhörbar war
damit ein latentes
Misstrauen der EKD gegenüber dem BEK und eine „wichtige Divergenz
in der
politischen Wahrnehmung“ (S. 216) zwischen beiden angesprochen, die die
Kommunikation in der „Beratergruppe“ ständig belastete. Die
Verfasserin benennt
die Punkte, an denen derartige Divergenzen in der „Beratergruppe“ immer
wieder
aufbrachen: „Grundsatzfragen wie die nach dem Ausmaß der Trennung
von Kirche
und Staat, die Existenz eines politischen Mandats der Kirchen, ihres
Selbstverständnisses und ihrer Aufgaben in der Gesellschaft sowie
spezielle Fragen
nach der kirchlichen Position zu Demokratie und Sozialismus, zur
Friedensfrage,
zu Menschenrechten und Toleranz.“ (S. 453). Aber kaum einmal sei
über eine so
grundsätzliche Frage wie die der theologischen Legitimation von
kirchlichen
Äußerungen zu politischen Angelegenheiten in der
„Beratergruppe“ gesprochen,
geschweige denn gründlich diskutiert worden. Und immer wieder
seien die
Protagonisten von EKD und BEK „ins Grübeln“ geraten, „inwieweit
sie ihren
mühsam erarbeiteten Status quo beziehungsweise ihre Beheimatung in
der
Bundesrepublik und im Ostteil Deutschlands für das aktive
Zusammengehen mit den
Kirchen im jeweils anderen Bereich ‚opfern’ sollten.“ (S. 453). Hier
seien
bereits die Grenzen der „besonderen Gemeinschaft“ sichtbar geworden.
„Besondere
Gemeinschaft“ (II): Die
Ost-West-„Konsultationsgruppe“ (1980-1991)
Im zweiten Teil ihrer Untersuchung „Die
‚besondere Gemeinschaft’ in der
Wirklichkeit –Die Konsultationsgruppe und die gemeinsame
Friedensverantwortung der evangelischen Kirchen (1980-1991)“ wendet
sich Anke
Silomon einem Thema zu, das ab 1979 für die Kontakte zwischen BEK
und EKD
vorrangige Bedeutung erlangen sollte: die Friedensfrage und die
Verständigung
über die Friedensaufgaben der Kirchen in Ost und West an der
Nahtstelle der
beiden Weltsysteme (S. 457-653). Grund für die Bereitschaft der
EKD, „mit dem
Kirchenbund in einen Dialog über die Friedensfrage einzutreten,
mag das große
Engagement der DDR-Kirchen auf diesem Gebiet und die daraus
resultierende
Kritik an der Passivität der bundesdeutschen Kirche gewesen sein“
(S. 654). Die
Verfasserin schildert detailliert, wie die hochrangig zusammengesetzte
„Konsultationsgruppe“ ab März 1980 ihren Anspruch einzulösen
suchte, die
kirchlichen Leitungsgremien auf beiden Seiten zum Friedensthema zu
beraten und
ihnen für gemeinsame öffentliche Äußerungen
zuzuarbeiten. Mit der Fokussierung
auf die Friedensfrage habe die „Konsultationsgruppe“ – im Unterschied
zur
„Beratergruppe“ - eine präzise inhaltliche Aufgabenstellung
erhalten. Gerade beim
Friedensthema traten aber die Unterschiede und Kontroversen
bezüglich
politischer Vorgänge umso deutlicher zutage. Je direkter und
drängender die
behandelte friedens- oder abrüstungspolitische Problematik, desto
spürbarer die
Einbindung in den gesellschaftlich-politischen Kontext der je eigenen
Seite.
Dies sollte sich an nahezu allen Vorhaben zeigen, die die
„Konsultationsgruppe“ in den 80erjahren in Angriff nahm. Akribisch
rekonstruiert Anke Silomon die Diskussionen, Wege und Umwege zur
Verständigung
in diesem Gremium. Die „Konsultationsgruppe“ war wiederholt mit
Positionen aus
der Friedensarbeit des BEK konfrontiert, die für die EKD kaum oder
gar nicht
zustimmungsfähig waren. Dies betraf z.B. die Beurteilung des
Pazifismus, u. a.
die pazifistische Ausrichtung des Rahmenkonzeptes „Erziehung zum
Frieden“
(1980), die Qualifizierung der Verweigerung des Waffen- und
Wehrdienstes als
„deutlicheres Zeugnis“ (erstmals 1965), die friedensethische Position
„Absage
an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“ der Bundessynoden (ab
1982/1983),
das Eintreten für „Sicherheitspartnerschaft“ und für das Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ (ab
1983) oder die Haltung zum Görlitzer Synodenbeschluss
„Bekennen in der Friedensfrage“ (1987). Die
Autorin zitiert u. a. den EKD-Ratsvorsitzenden Lohse, der in einem
Interview
vom März 1980 die tief greifenden Meinungsunterschiede zwischen
den Kirchen in
Ost und West in der Friedensfrage mit ihren „unterschiedlichen
gesellschaftlichen Strukturen“ begründet hatte und den Kirchen in
der DDR
bescheinigte, sie seien „also nicht in gleicher Weise in eine
Mithaftung und
gesamtgesellschaftliche Mitverantwortung hineingenommen wie wir.“[4]
Derartigen Divergenzen widmet Anke Silomon ein eigens Kapitel
„Systembindung
der evangelischen Kirchen als Hindernis gemeinsamer
Friedensaktivitäten“ (S.
479-498). Resümierend stellt sie fest, dass BEK und EKD gerade
durch die
Behandlung der Friedensfrage auf weithin ungeklärte
Grundsatzfragen nach ihrer
gesellschaftlichen Beheimatung, Selbstverständnis und
Aufgabenbestimmung
gestoßen seien, die sie erst einmal für sich selbst
klären mussten.
Entsprechend schmal fiel der Konsens bei den gemeinsamen
Äußerungen zur
Friedensfrage aus, auf die sich BEK und EKD in Wahrnehmung ihrer
„besonderen
Gemeinschaft“ nach langen und kontroversen Diskussionen (S. 549-593)
verständigen konnten [5].
„Besondere
Gemeinschaft“ und „Systembindung“
Das Stichwort „Systembindung“ zieht sich wie ein roter
Faden durch die gesamte Studie von Anke Silomon. Beiderseitige
Systembindung,
ja Systemgefangenschaft erklärt letztlich auch den dürftigen
praktischen Ertrag
aus der1969 verabredeten „besonderen Gemeinschaft“ für BEK und
EKD. Was die
östliche Seite betrifft, hat die Autorin an vielen
Einzelbeispielen deutlich zu
machen versucht, warum der BEK ein so großes Interesse daran
hatte, seinen
„Ort“ in der DDR positiv zu definieren. Er verstand sich als
„DDR-Kirchenbund“
in der sozialistischen Gesellschaft und wollte ein eigenständiges,
kalkulierbares Gegenüber zum Staat sein. Aber er befand sich dabei
in einer
doppelten Schwierigkeit. Zum einen musste er das notorische politische
Misstrauen der DDR gegen die „besondere Gemeinschaft“ mit der EKD zu
entkräften
suchen und immer neuen Versuchen der SED widerstehen, aus der
evangelischen
Kirche eine „sozialistische Kirche“ zu machen. Gegenüber der EKD
musste er sich
im Zeichen der „besonderen Gemeinschaft“ als souveräner und
vertrauenswürdiger
Partner erweisen und seine eigene „Beheimatung“ in der DDR
glaubwürdig
vermitteln. Die in dieser Hinsicht ungemein detailreiche Analyse von
Anke
Silomon lässt sich geradezu als Fallstudie lesen, wie
wirkmächtig die
Einbindung von Kirchen in das sie umgebende gesellschaftlich-politische
System
ist und wie wenig eine theologische Überwölbung, genannt
„besondere
Gemeinschaft“, ihre tatsächliche Vergesellschaftung transzendieren
kann.
Gleichwohl zieht die Verfasserin eine positive Bilanz:
„Die Verwirklichung der grenzüberschreitenden kirchlichen
Gemeinschaft
hatte…eine nicht zu unterschätzende katalytische Funktion für
die evangelischen
Kirchen, sich mit ihrem eigenen Kirchenverständnis und ihrem
jeweiligen Auftrag
in der Bundesrepublik und in der DDR auseinanderzusetzen“. Dadurch,
dass sich
beide Seiten den Spiegel vorgehalten hätten, beförderten sie
„den Prozess der
Bewusstwerdung über die eigene Situation inklusive aller
Unterschiede, die sich
in über zwanzig Jahren ihrer Existenz in zwei deutschen Staaten
herausgebildet
hatten“. (S. 655). Dass dieses Fazit am Ende dann doch etwas mager
bleibt, liegt
am Befund und nicht an der Autorin.
Anke Silomon kommt das große Verdienst zu, mit ihrer
Studie erstmals ein zentrales und schwieriges Kapitel kirchlicher
Zeitgeschichte als deutsch-deutscher Beziehungsgeschichte aufgearbeitet
und
dargestellt zu haben. Mit großer Sorgfalt bei der Auswahl und
Präsentation
ihrer Quellen und sicherem Gespür für das Konfliktpotential
des untersuchten
Forschungsgegenstandes hat sie ein umfassendes, ebenso ehrliches wie
ernüchterndes Bild der „besonderen Gemeinschaft“ zwischen BEK und
EKD
gezeichnet, das sich durch enorme Detail-Kenntnis und große
analytische
Klarheit auszeichnet. Ohne die sorgsame Erschließung des
äußerst umfangreichen
Quellen-Materials wäre das nicht möglich gewesen. Wohltuend
sind die
Sensibilität und Fairness der Autorin gegenüber den
handelnden Personen, ihren
Interessen, Motiven und Zielsetzungen. Sie verzichtet weitestgehend auf
wertende Urteile, vielmehr eröffnet sie Zugänge des
Verstehens und überlässt
das Urteil dem kritischen Leser.
Als Problem erweist sich die ungeheure Fülle an Fakten
und Vorgängen, die die Autorin auf fast 700 Seiten vor ihren
Lesern ausbreitet
und die wegen ihrer chronologischen Anordnung nur schwer systematisch
zu
strukturieren sind. Gelegentlich schlagen die drögen
bürokratischen Abläufe,
mittels derer das kirchliche Personal die „besondere Gemeinschaft“
immer von
neuem ans Laufen bringen will, ermüdend auf den Leser durch.
Ausgesprochen
spannend dagegen lesen sich viele Passagen über die
Auseinandersetzungen der
leitenden Vertreter des BEK mit den „Staatsorganen“ der DDR. Sie sind
dank
ihrer differenzierten Darstellung geeignet, das gängige Bild von
der
angepassten „Kirche im Sozialismus“ zu korrigieren. Allerdings
vermitteln die
zitierten Quellen manchmal auch Fakten, die für seinerzeit
handelnde Personen
nicht immer schmeichelhaft sind.
Es wäre sehr zu wünschen, dass die Studie von Anke
Silomon in der Diskussion über den Weg der evangelischen Kirchen
in beiden
deutschen Staaten deutliche Spuren hinterlässt. Darüber
hinaus könnte die
Arbeit dazu beitragen, das Gespräch über das Verhältnis
von theologischen
Deutungsmustern und realen gesellschaftlich-politischen Bindungen der
Kirchen
so zu stimulieren, dass der Erkenntnisgewinn am Ende nicht nur lautet:
„Der Weg
war das Ziel“.
[1] Anke Silomon, Synode und SED-Staat. Die Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR in Görlitz vom 18. bis 22. September 1987, Göttingen 1997; Dies., „Schwerter zu Pflugscharen“ und die DDR. Die Friedensarbeit der ev. Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980-1982, Göttingen 1999; Dies., Verantwortung für den Frieden. In: Claudia Lepp/Kurt Nowak (Hg.), Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945-1989/90), Göttingen 2001, S. 135-160; Die Protokolle des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bd. 4. 1950. Bearbeitet von Anke Silomon, Göttingen 2007
[2] Im Wortlaut identisch in der Ordnung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 10. Juni 1969, Art. 4.(4) und in der Erklärung der Synode der EKD vom 10. Mai 1970
[3] Erklärung der zur 1. Tagung der 4. Synode der EKD in Fürstenwalde (Spree) versammelten Synodalen zur Einheit der EKD von 5. April 1967, in: Bericht über die Erste Tagung der Vierten Synode der EKD, S. 378-381
[4] „Zum Frieden erziehen. Gespräch mit dem EKD-Ratsvorsitzenden D. Eduard Lohse.“ In: Evangelische Kommentare Nr. 5, Mai 1980, zit. bei A. Silomon S. 471
[5] Arbeitsbericht über die Konsultationen von BEK und EKD zur Friedensverantwortung der Kirchen in beiden deutschen Staaten (August 1982);Gemeinsames „Wort zum Frieden“ zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges (19. März 1985); „Hoffnung auf Frieden“. Gemeinsame Stellungnahme von BEK und EKD zum kirchlichen Versöhnungsauftrag; (27. März 1986); „Versöhnung und Verständigung“. Wort von BEK und EKD zur Verständigung mit der Sowjetunion (28. Januar 1988); Stellungnahme von BEK und EKD zum 9. November anlässlich des 50. Jahrestages der Pogromnacht (26. Mai 1988). Hinzu kommen die ab 1980 gemeinsam von BEK und EKD verabschiedeten Vorlagen für einen „Bittgottesdienst für den Frieden“.
Rezensent:
Joachim
Garstecki
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