theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Florian Schuller / Giuseppe Veltri / Hubert Wolf (Hg.), Katholizismus und Judentum. Gemeinsamkeiten und Verwerfungen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Pustet: Regensburg 2005, 312 Seiten, EUR 26,90, ISBN 3-7917-1955-6

Das Christentum hat die größten Probleme mit der Wahrnehmung des Judentums in seiner Wirklichkeit. Das ist von Anfang an so. Das aus dem Judentum als messianische Bewegung entstehende Christentum versteht sich sehr bald als das neue, das wahre Israel und formt sich substitutionell im Kontrast ein Fremdbild des Judentums, das als Negativfolie die Aufgabe hat, die Positivität des Christentums umso heller erstrahlen zu lassen. Da dieses Kontrastbild des Judentums eng in die zentralen Lehren des Christentums verwoben wird, kann eine Veränderung des Judentumsbildes Identitätsstörungen im Christentum verursachen. So haftet durch die Jahrhunderte dem Bild des Judentums und seiner Geschichte etwas Konstruiertes an. Die antijüdischen Klischees und Stereotypen, wirksame Metaphern der simplen Volksfrömmigkeit, versperrten den Blick auf die vielfältige Wirklichkeit der Juden. Die religiösen Konstruktionen wurden dann zu Beginn der Neuzeit durch säkularisierte erweitert, die sich im Juden wiederum die Kontrastfigur zu Volk, Nation, Rasse schufen. Die Wahrnehmung des einzelnen Juden wie der gesamten Judenheit stand unter dem fatalen Zwang des Bildes, das man sich geschaffen hatte.

Die Fatalität des Zwangs zur Konstruktion wurde deutlich, als nach der Schoah Christen in ihrem Versuch der Revision des traditionellen Bildes vom „bösen Juden“ sich im „frommen“ Juden wiederum ein Bild konstruierten, das nur noch dem praktizierenden, betenden, den Sabbat haltenden, die Feste feiernden, toragläubigen Judentum das christliche „koscher-Zeugnis“ ausstellen wollte. Die christliche Hagiographie des Judentums heute verweigert dem Judentum seine Wirklichkeit und Menschlichkeit genauso wie die Dämonisierung gestern. Die in fundamentalistischen und philosemitischen Kreisen beliebte Konstruktion zum Gleichheits- oder gar Vorbildtyp selektiert entweder einen Teil des Judentums oder konfessionalisiert es als Ganzes. Eine Konfessionalisierung reduziert aber das Judentum auf seine bloß religiösen, hier konfessionalistischen Konstituenten und blendet die in jüdischen Selbstverständnissen wichtigen Identitätsmerkmale von Volk, Geschichte, Kultur von vorneherein aus. Nur am Rande bemerkt sei, dass auch in der deutschen Literatur, zumindest bis in die Endsechziger Jahre, die Darstellung willkommener Judengestalten größtenteils den hier gängigen Bewältigungsmustern angepasst wurde, dabei aber kaum realistisch erschien. Auch hier eine philosemitische Scheu, sich auf jüdische Erfahrung wirklichkeitsgetreu einzulassen.

Der philosemitische Hang zur Wiedergutmachung zeigt sich besonders in der Konstruktion jüdischer Geschichte als permanenter Leidensgeschichte. Wie jüdische Geschichte früher in der Optik des Christentums als unaufhörliche Abfolge von religiösem Ungehorsam, Glaubensabfall und moralischer Verkommenheit gedeutet wurde, so wird sie nun von Auschwitz her gezeichnet als eine ewige Geschichte von Leid und Trauer, Verfolgung und Vertreibung. Niemand wird leugnen können, dass jüdische Geschichte, vor allem im christlichen Europa, vielfach Leidensgeschichte gewesen ist. Aber es ist wiederum eine sehr einseitige Geschichtskonstruktion, wenn Juden nur als Objekte und Opfer der Geschichte erscheinen, nicht aber als Schöpfer und Träger einer eigenen Kultur und als Mitgestalter ihrer Umwelt auch in ihren Selbstzeugnissen wahrgenommen werden. Salo W. Baron, der große amerikanisch-jüdische Historiograph des 20. Jahrhunderts kritisierte schon 1928 in einem Aufsatz die Neigung, die Geschichte der Juden lediglich als „lacrimose“ Opfer- und Unterdrückungsgeschichte zu sehen. Vielmehr seien auch die großen Freiräume, vor allem in der Vormoderne, wahrzunehmen, in denen es Subjekt eigener Geschichte habe werden können. In der Tat hat es immer auch Zeiten und Regionen gegeben, wo sich eine vom traditionellen Mainstream abweichende Wahrnehmung positiv auf die Lebens- und Gestaltungsmöglichkeiten von Juden auswirkten. Eine sich eher auf die paulinisch-augustinische Sicht von Heilsgeschichte beziehende Theologenschaft und Geistlichkeit hat sich oft mildernd einer radikaleren Kirchen- und Theologenfraktion und später den vulgärtheologischen antijüdischen Maßnahmen entgegen gestellt. Die christliche Adversus-Judaeos-Literatur zeigt durchaus, wie stark das Ansehen des Judentums als der ursprünglichen Herkunftsreligion bei den Christen war, wie die kirchlichen Schriftsteller versuchten, den eigenen Anhängern die offensichtlich vom Judentum bedrohte Attraktivität des Christentums vor Augen zu führen. Passagen in den acht Predigten des Chrysosthomus zum Judentum am Ende  des 4. Jahrhunderts lassen dies ebenso erkennen wie die zu größeren theologischen Abhandlungen angewachsenen Briefe, die die beiden Bischöfe von Lyon, Agobard und Amolo, in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts an den fränkischen Hof schrieben. Juden waren als Nachfahren der Patriarchen und Propheten am fränkischen Hof wie beim einfachen Volk höchst beliebt, und das Judentum in den Augen der Christen eine offensichtlich attraktive Religion. Der oft geäußerte Vorwurf des „Judaisierens“ rückte zwar in die Nähe des Häresieverdachts, bestätigt aber nur, wie lebendig und aufgeschlossen das Judentum wahrgenommen wurde und für wie bedeutsam es für das Christentum gehalten wurde. Es ist bekannt, dass der große jüdische Historiograph des 19. Jahrhunderts, Heinrich Graetz, die Karolingerzeit als das „Goldene Zeitalter“ der jüdischen Geschichte in Deutschland charakterisiert hat. Andere haben vom „Goldenen Zeitalter“ im späteren maurischen Spanien gesprochen, und Salomon Maimon hat in seiner „Lebensgeschichte“ die Zeit vom 15. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Polen als „goldenes Zeitalter“ der Juden beschrieben.

Es ist das Anliegen des hier anzuzeigenden Sammelbandes, diese christlichen Konstruktionsmechanismen zu durchbrechen und das negative Image des Verhältnisses von Judentum und Christentum im kollektiven Gedächtnis aufzulösen. Auf einer gemeinsamen Tagung der Katholischen Akademie in Bayern, des Lehrstuhls für Jüdische Studien der Universität Halle-Wittenberg und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster sollte dieses negative Image grundsätzlich in Frage gestellt werden. Im untersuchten Zeitraum von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert spanne sich „ein großer Bogen der gegenseitigen Beziehungen von Judentum und Katholizismus, die nicht nur von  Abgrenzung und Bekämpfung gekennzeichnet“ seien, „sondern auch von gegenseitiger Befruchtung und Anregung.“ Der vorliegende Band gibt die in München 2004 gehaltenen Vorträge der Theologen, Judaisten und Historiker jüdischer wie katholischer Provenienz wieder.

Das 16. Jahrhundert als Beginn einer intensiveren Nachfrage nach engeren jüdisch-christlichen Kontakten ist insofern gut gewählt, als sich in diesem Jahrhundert religionsgesetzlich im Judentum endgültig eine positivere Beurteilung des Christentums  als einer nicht-paganen Religion durchsetzte. Die traditionelle jüdische Sicht Roms als Edom (oder Esau) hatte sich auch nach Konstantin fortgesetzt, die das Christentum als Götzendienst (Abodah zarah) oder zumindest als götzendienstverdächtig ansah. Die Anerkennung nun im 16. Jahrhundert hatte einen Wandel im Verhältnis zur christlichen Umwelt zur Folge. Man begann sich in verstärktem Maße mit der Bildung und Kultur der Mehrheitsgesellschaft zu beschäftigen. Daher seien zunächst die Beiträge aufgeführt, die eine Öffnung des Judentums gegenüber der christlichen Mehrheitsgesellschaft zum Inhalt haben.

So zeigt Giuseppe Veltri in seinem Beitrag „…in einigen Glaubensartikeln neigt die jüdische Nation eher zur römischen Kirche“ (S.15-29), wie jüdische Gelehrte der Renaissance und der Frühneuzeit sich typisch christlichen Themen zuwenden und christliche Traditionen und Methoden übernehmen, die für die rabbinische Diskussion als wichtig erachtet wurden. So stellt der berühmte Rabbiner Simone Luzzatto einen Katalog von Übereinstimmungen mit der katholischen Glaubensgemeinschaft zusammen, um „die jüdische Natur der katholischen Religion unter Beweis zu stellen“ (S.25). Das von Rabbi Löw in Prag unterstützte jüdische Erziehungssystem basierte auf der Ratio Studiorum der Jesuiten. Diese eher punktuellen Beispiele zeigen, wie die Öffnung zur Mehrheitskultur hin vor allem im privaten und akademisch-gelehrten Bereich neue Impulse gab.

Gianfranco Miletto (S.73-90) macht an einigen Beispielen deutlich, wie stark die kulturelle Beeinflussung durch die erfolgreiche Mehrheitskultur sein konnte, wie reformfreudige Rabbiner sich die katholische Kirche der Gegenreformation als Vorbild genommen und Formen ihres Rituals und Inhalte ihrer Morallehre  anglichen. Bei der kulturellen Aufgeschlossenheit der Zeit  nimmt es nicht wunder, dass ein im Argen liegendes jüdisches Bildungssystem des 16. Jahrhunderts Anleihe nimmt beim so erfolgreichen jesuitischen Schulsystem. An zwei ausgeführten Beispielen zeigt Miletto, wie der Katechismus von Petrus Canisius und die Ratio Studiorum als Vorbild für zwei Projekte des jüdischen Schulwesens in Mantua dienten, die leider beide nicht realisiert werden konnten, aber als Programme lange in den aschkenasischen Gemeinden Nord- und Osteuropas in deutscher und jiddischer Übersetzung weit verbreitet waren.

In seinem Beitrag „Katholische Bildung und jüdische Identität“ (S.91-101) weist Gerold Necker „Die humanistische Tradition im Werk Abraham Cohen de Herreras“ (+1635) auf. Im Amsterdam des frühen 17. Jahrhunderts bestand die jüdische Gemeinde zu einem Großteil aus ins Judentum zurückkehrenden spanischen und portugiesischen Marranen. Diese christlich hochgebildeten jüdischen Conversos versuchten im Geiste des Humanismus ein neues jüdisches Selbstverständnis zu gewinnen, das die orthodoxen Gemeinderabbiner vor schwer lösbare Probleme stellte, wie die bekannteren Schicksale eines Uriel da Costa und auch Baruch Spinozas deutlich machen. Auch Abraham Cohen de Herreras, der 1620 nach Amsterdam kam, versuchte eine Harmonisierung seines immensen katholischen Bildungshorizontes und der jüdischen Tradition in Form der lurianischen Kabbala. Doch schon bei der Übersetzung seiner spanischen Werke ließ sein ebenfalls noch als Katholik aufgewachsener Schüler Isaak Aboab alle Zitate christlicher Autoren weg: Die Suche nach einer versöhnten christlich-jüdischen Existenz fand keine Nachahmer mehr.

Die bislang weitestgehende Annäherung des Judentums an das Christentum vollzog sich im 19. Jahrhundert im Gefolge der Aufklärung und der jüdischen Emanzipation. Klaus Herrmann zeichnet „Die jüdische Reformbewegung zwischen Protestantismus und Katholizismus“ nach (S. 222-240). Es zeigt sich, dass die frühe jüdische „Reformation“ (Israel Jacobson) den Rationalismus und Universalismus im Protestantismus der Aufklärung problemlos adaptieren konnte. Unverkennbar schon der protestantische Einfluss bei der Einweihung des Seesener Tempels am 17.Juli 1810. Protestantische Kirchenlieder konnten in großer Zahl bei geringfügigen Textänderungen übernommen werden. In den nun deutsch gesprochenen Gebeten strich man die Passagen der Sionssehnsucht und Messiashoffnung und die Gebete für die Wiedereinführung des Opferdienstes. Orgelmusik und Ornat des Zelebranten, Liturgie und Predigt hatten im Protestantismus ihr Vorbild. Interessant ist, dass die jüdische Reform sich in katholischen Regionen und Ländern naturgemäß eher katholischen Traditionen anschloss, insgesamt aber zurückhaltender blieb. In katholischen Ländern scheint auch die jüdische Orthodoxie stärker gewesen zu sein, in protestantischen das liberale Judentum. Da es aber weder im katholischen Frankreich, im katholischen Belgien, auch in England, wo die herrschende Religion „ein Katholicismus ohne Papst“ (Abraham Geiger) sei, noch in den calvinischen Niederlanden eine Reform gab, scheint eine moderne wissenschaftsfreundliche Umweltkultur ausschlaggebender gewesen zu sein als die jeweilige konfessionelle Prägung (S.235). Nach entsprechendem Protest gegen die kritiklose Übernahme protestantischer oder katholischer Gottesdienstästhetik in der frühen Phase der Reformbewegung, geht ab Mitte des 19. Jahrhunderts der außerjüdische Einfluss zurück. Wie einseitig allerdings die interreligiöse Wahrnehmung war, zeigt das bittere Wort Michael Meyers (geb. 1937 in Berlin), dass er bei keinem einzigen noch so liberalen Theologen in Deutschland „Äußerungen gefunden habe, die auf ein Gefühl der Solidarität mit dem sich reformierenden Judentum hätten schließen lassen (Zitat S. 238).

Michael Graetz stellt in seinem Beitrag „Bossuets Schrift „Politique tirée des propres paroles de l’Écriture Sainte“ (1709) und deren Relevanz für das moderne Judentum“ (S. 102-111) vor. Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704), Bischof und Wortführer des Gallikanismus unter König Louis XIV sah im politischen System der Hebräer und vor allem in Mose als Gesetzgeber das Modell für den absolutistisch-aufgeklärten Staat. Im Gallikanismus, der sich dem französischen Königtum gegenüber verpflichtet fühlte, stellten die Verfechter das idealisierte Bild des antiken Israels gegen die Kritik von Deisten, Philosophen und Staatstheoretikern. Diese gallikanische Aktualisierung der antiken Geschichte Israels wurde nach der Französischen Revolution, als das Judentum in die Geschichte und Politik zurückkehrte und nach neuer Identität suchte, geradezu zu einer Inspirationsquelle für jüdische Intellektuelle im 19. Jahrhundert bis hin zum Zionismus. Da alle französischen Gallikaner im traditionellen Sinne Anhänger der antijüdischen Substitutionstheorie waren, ist die Hochschätzung des biblischen Judentums, das als Vorgeschichte des Christentums seinen Wert behielt und der Stützung des absolutistischen Staates diente, nicht dem zeitgenössischen Judentum zugute gekommen.

Stephan Wendehorst gibt in seinem Beitrag „Der pluralistische Gesellschaftstheoretiker und Labour-Politiker Harold Laski und seine katholische Welt“, „ein(en) methodische(n) Anstoß zur Erforschung der Geschichte der Juden und des Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert“ (S. 140-161). Der methodologische Ansatz gilt erst einer künftig zu schreibenden „indirekten Beziehungsgeschichte“ von Juden und Katholiken. In beider Geschichte als Minderheiten spiegele sich eine strukturelle, partielle Parallelität im Verhältnis zu Staat, Nation und Nationalstaat. Im Anschluss an das in Deutschland unbekannt gebliebene Oeuvre des britischen Politikers Harold Laski macht Wendehorst den Vorschlag, die Geschichte der Juden und des Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert auch „als Geschichte des Zusammenstoßes zweier Fälle von nicht mit Staat und Nation deckungsgleichen Formen der Vergesellschaftung mit den Ansprüchen des souveränen Staates und der modernen Nation zu untersuchen, und damit als Varianten eines strukturellen, von den spezifischen Problemen des Katholizismus und des Judentums abstrahierten allgemeinen Anpassungsprozesses“(S.144f.). Dies ist wissenschaftstheoretisch ein hochinteressanter Forschungsansatz, mit dem auch größere Verständigungs- und Solidarisierungseffekte verbunden sein könnten.

Wie stand es mit den christlichen Annäherungen, Kontaktnahmen, Einwirkungen?
Johann Maier verfolgt in seinem Beitrag „Christliche Elemente in der jüdischen Kabbala?“, wie sich Juden und Christen zu Beginn der Neuzeit durch die religionsgesetzliche Neubewertung des Christentums gegenseitig öffnen und sich besonders in gebildeten Kreisen eine größere Bereitschaft zu Kontakten ergab. Christliches Einwirken auf das Judentum geschah schon etwas früher durch Marranen, zwangsgetaufte Juden, die es am Ende des 14. Jahrhunderts in Spanien und Portugal schon in größerer Zahl gab und die später nach Flucht oder Vertreibung ins Judentum zurückkehrten. In der Kabbala nun wird vielfach die erste große religiöse Kontaktnahme von Judentum und Christentum gesehen. Christliche Kabbalisten versuchten z.B. die Trinitätslehre aus der Kabbala zu begründen und sie glaubten, christliche trinitarische Vorstellungen hätten auf das kabbalistische System der Sefirot eingewirkt, was nach Maier auszuschließen ist. Wenn auch einige katholische Vorstellungen von einigen jüdischen Kabbalisten aufgegriffen wurden, die Adams-, Davids-, Messiasseele „christologisch“ verarbeitet zu sein scheint, so handelt es sich wie bei Jakob Franks Konversion zum Katholizismus um extreme Randerscheinungen. Sicher mehr als die beiderseitige Beschäftigung mit der Kabbala hat das christliche Erbe in der Gedankenwelt der ins Judentum zurückgekehrten Marranen Wirkung gezeigt in der Tendenz zur Assimilation, in der Vorbereitung der jüdischen Aufklärung wie auch im Dienst jüdischer Selbstbehauptung.

Wilhelm Schmidt-Biggemann zeigt in seinem Beitrag „Katholizismus und Kabbala“ (S. 46-72), wie schwer sich die Kirchen mit der Kabbala getan haben. Nach Umsetzung der Dekrete des Konzils von Trient, nach der dogmatischen Verschärfung in der katholischen Theologie der Gegenreformation wurden alle hebraistischen und jüdischen Studien zunächst zurückgedrängt, dann sogar verboten. Am Beispiel des Jesuiten Athanasius Kircher (1602-1680) zeigt der Autor, wie selektiv der christliche Umgang mit der jüdischen Kabbala war, dass jüdische Traditionen nur zur Legitimierung christlicher Standpunkte herangezogen wurden und dass er weniger zur Annäherung, eher zur Vertiefung der Fremdheit beigetragen hat (Juden verstehen ihre eigene Ur-Offenbarung nicht). Nach Kircher „war die Auseinandersetzung mit der Kabbala im Katholizismus kein ernsthaftes Thema mehr“ (s.68).

Thomas Brechenmacher rekapituliert in seinem Beitrag „Das Ende der doppelten Schutzherrschaft. Päpste und Juden zwischen Gegenreformation und 1. Vatikanum (1555-1870)“(S. 162-180) die theologische Doppelrolle der Juden, wie sie vor allem aus den Werken des Augustinus, Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquins abgeleitet wurde: auf der einen Seite verstoßenes Volk Gottes und Feinde der Christen und auf der anderen Seite Wurzel und Zeuge des christlichen Glaubens zu sein. Dieser Doppelrolle der Juden entsprach seit der Spätantike eine doppelte Schutzherrschaft der Kirche: die Christen vor den Juden und die Juden vor den Christen zu schützen. Seit dem 16. Jahrhundert kam diese Schutzherrschaft einseitig nur noch den Christen zugute. Die universalhistorische Situation der Kirche änderte sich. Die Kirchenpolitik geriet durch Reformation, Rationalismus, Aufklärung, Emanzipation und die anhaltende Bedrohung der territorialen Integrität des Kirchenstaats in die Defensive. Die Aufgabe des Schutzes der Christen gegen die „perfidi Judaei“ wurde akzentuiert durch Beseitigung jüdischer Banken, Einschränkung jüdischer Handwerks- und Gewerbetätigkeit, fiskalische Ausbeutung. Die Wiedererrichtung des römischen Ghettos und die weltweite Empörung verursachende Entführung des notgetauften jüdischen Jungen Edgardo Mortara aus Bologna nach Rom zeigen, wie wirkungslos die doppelte Schutzherrschaft für Juden geworden war.

Eine Instrumentalisierung ganz anderer Art zeigt Tobias Lagatz in seinem Beitrag „Der „Ewige Jude“ des 19. Jahrhunderts im Fokus von Römischer Inquisition und Indexkongregation. Zerrbild seiner selbst und Spiegelbild der Zeit“(S. 209-221). Die seit dem 16. Jahrhundert verbreitete antijüdische Legende vom jüdischen Schuster Ahasverus, der dem Kreuz tragenden Jesus vor seinem Haus in der Via dolorosa eine kurze Rast verwehrt und dafür von Jesus zu ewigem unruhevollen Leben verflucht wird, ist vielfach in der europäischen Literatur bearbeitet worden. Eugène Sues Roman „Juif Errant“ und Edgar Quinets „Ahasvérus“ sowie Bearbeitungen anderer Autoren wurden von der Römischen Inquisition und der Indexkongregation indiziert, weil man in der Figur des ruhelos fortschreitenden Helden den Fortschrittsglauben der Moderne personifiziert sah, der Kritik an einer stagnierenden Institution Kirche übte. Sues „Juif Errant“ galt dabei auch als Verbreiter sozialistischer und revolutionärer Theorien.

Zwei Beiträge werfen einen Blick auf das Verhältnis von Juden und Katholiken in Polen und Mittelosteuropa. Stefan Schreiner, Religionswissenschaftler und Judaist in Tübingen, verfasst unter dem Titel „Zwischen Polemik und Verbrüderung“ eine äußerst kenntnisreiche Kurzgeschichte von „Katholiken und Juden im Polen des 17. und 18. Jahrhunderts“ (S. 112-139). Trotz durchaus vorkommender Zusammenstöße ist die frühe Zeit in Polen und Litauen jüdischerseits als „Goldenes Zeitalter“ (Salomon Maimon) und als „paradisus Judaeorum“ (R. Mose b. Eliezer ha-Kohen) gepriesen worden. Bereits 1264 hatte das Statut von Kalisz die Juden christlichen Stadtbürgern gleichgestellt. Das zunächst nur für Kleinpolen gültige Statut ist im Lauf des 14. Jahrhunderts sukzessiv auf die Juden aller polnischen und litauischen Juden ausgedehnt worden. Diese Gleichstellung der Juden mit der christlichen Bevölkerung ist von der kirchlichen Hierarchie nicht hingenommen worden. Sie versuchte mit langem Atem, das kirchliche Judenrecht, z.B. die Beschlüsse des 4 Laterankonzils, durchzusetzen. Von besonderer Bedeutung für die weitere Entwicklung wurden dann zwei Privilegien, deren eines den Christen, deren anderes den Juden das Recht auf räumliche Trennung voneinander zusprach (Privilegium de non tolerandis Judaeis, Privilegium de non tolerandis christianis). Seit dem 15. und 16. Jahrhundert haben immer mehr polnische und litauische Städte von diesem Privileg Gebrauch gemacht und ihre Juden vertrieben. Das führte zu einem System jüdischer Autonomie, das Heinrich Graetz als eine „einzigartige Erscheinung in der jüdischen Diasporageschichte“ nannte. Doch bestand weiterhin eine vielfältige Interaktion zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, so dass auch später noch nach den polnischen Teilungen die Hoffnung auf Wiedererrichtung der polnischen Eigenstaatlichkeit vom jüdischen Messianismus genährt werden konnte. Ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der stärker gewordene polnische Nationalismus keinen Sinn mehr für solche Verbrüderungsgesten.

Hier setzt der Beitrag von Viktoria Pollmann „Struktur und Funktion des katholischen Antisemitismus in Mittelosteuropa im 19. Jahrhundert am Beispiel Polens“ ein (S.241-252). Sie zeigt, wie die katholische Kirche sich als Sachwalterin des religiösen und nationalen Erbes gegen alle Russifizierungs- und Germanisierungspolitik verstand, wie die geradezu symbiotisch verstandene Deckungsgleichheit von Polentum und Katholizismus zu einer Überhöhung des polnischen Nationalismus, ja Sakralisierung der polnischen Nation (das polnische Volk als „Christus der Völker“) führte, die nach dem äußeren Feind nun im Juden zunächst den Fremden, dann den inneren Feind entdeckte. Das blieb auch so, als 1918 nach der „Wiederauferstehung“ des polnischen Staates die mitgestaltende Kirche ein künftiges „Polen für Christus“ forderte. Diese antisemitische Instrumentalisierung der Juden im Kampf um die Erhaltung ihrer geistlichen Führungsposition betrieb die Kirche in allen mittelosteuropäischen Staaten.

Zu den verpassten und auch vereitelten Chancen gehörte das Breslauer Johannesgymnasium, das von protestantischen, katholischen und jüdischen Liberalen begründet, von der Mehrheit des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung getragen und 1872 als Modell einer pluralistischen Schulpolitik eröffnet worden war. Till van Rahden zeigt in dieser Detailstudie „Pluralismus, Kulturkampf und die Grenzen der Toleranz“ (S. 193-208), wie schließlich dieses Projekt, bei dem den protestantischen, katholischen und jüdischen Schülern und Lehrern dieselben Rechte und den drei Konfessionen die gleiche Anerkennung zukommen sollten, in den Sog des Kulturkampfes geriet und schließlich an der protestantischen Ministerialbürokratie Preußens scheiterte.

Der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts speist sich wohl aus mehreren Quellen. Claus Arnold untersucht das Verhältnis von „Antisemitismus und „liberalem Katholizismus““ (S. 181-192) und stellt sich der These, Antisemitismus sei zuallererst bei den ultramontanen Katholiken zu finden. Er kommt zum Ergebnis, dass die beiden Idealtypen ultramontaner und liberaler Katholizismus sich letztlich nicht völlig voneinander trennen lassen. Sie entstammen der gleichen Wurzel und sind daher beide anfällig für Antisemitismus. Der Antijudaismus des liberalen Katholizismus instrumentalisiere die Kritik an der jüdischen „Gesetzlichkeit“ gegen den Juridismus und Traditionalismus der eigenen Kirche. Am Judentum sei er höchst desinteressiert, zeigte aber eine größere Offenheit für völkisches und rassistisches Gedankengut. Das habe sich in den 1950er Jahren geändert.

Michael Brenner widmet seinen Beitrag „Von der Novemberrevolution bis zu den Adventspredigten“ dem „Verhältnis zwischen Juden und Katholiken in Bayern zwischen 1918 und 1933“ (S. 270-281). Die überproportional hohe Zahl jüdischer Mitglieder bei der Novemberrevolution und in der Münchner Räterepublik hatte eine entsprechende antijüdische Hetzkampagne im katholischen Bayern zur Folge, obwohl die Offiziellen der jüdischen Orthodoxie wie auch des liberalen Judentums sich distanziert hatten. Die Auswirkungen der revolutionären Ereignisse in Bayern hatten das Verhältnis zu den Juden in weiten Kreisen der gesamten Weimarer Republik geprägt. Die Ausweisung von osteuropäischen Juden, der Hitlerputsch und schließlich die Machtübernahme spitzten die antijüdische Stimmung zu. In seinen berühmt gewordenen Adventspredigten vom Dezember 1933 hätte Kardinal Faulhaber die Gelegenheit wahrnehmen können, mäßigend zumindest auf die bayerischen Katholiken zu wirken. In der Tat fand der Kardinal mutige Worte gegen den Nationalsozialismus und gegen den Versuch, die christliche Kirche ohne ihr jüdisches Erbe, aber mit arischem Jesus verstehen zu wollen. Er verurteilte mutig den rassischen Antisemitismus der Nationalsozialisten, hielt aber fest an einem traditionellen Antijudaismus, der ihn nicht einmal ein Wort zu der laufenden Judenverfolgung sagen ließ. Ja, man dürfe die Juden des Alten Testamentes nicht gleichsetzen mit den heutigen Juden. Diese Vivisektion des Judentums in das altbundliche Gottesvolk als Vorläufer des Christentums und das zeitgenössische Judentum hatte seine Entsprechung in der Vivisektion des Antisemitismus, in einen abzulehnenden „widerchristlichen“ rassischen und einen „guten“ Antisemitismus (Olaf Blaschke) der christlichen Tradition.

Den Recherchen des Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf in den vatikanischen Archiven verdanken wir einen bemerkenswerten Fund. In seinem Beitrag „Liturgischer Antisemitismus? Die Karfreitagsbitte für die Juden und die Römische Kurie (1928-1975)“ (S. 253-269) stellt der Autor eine Gruppe von Kardinälen, Bischöfen und Priestern vor, die sich 1926 in Rom als „Amici Israel“ gründete, deren Ziel die jüdisch-katholische Versöhnung war. Man wollte Verständnis für die Juden und ihren Glauben in der kirchlichen Verkündigung wecken und auf judenfeindlich klingende Elemente in der Liturgie verzichten. In diesem Zusammenhang wurde Papst Pius XI. gebeten, die Begriffe „perfidis“ und „perfidiam“ in der Karfreitagsbitte für die Juden zu streichen, weil ihnen etwas „Verhaßtes“ anhafte. Auch sollte die Kniebeuge wieder eingeführt werden, die erst seit dem 16. Jahrhundert „ex senso antisemitico“ entfallen sei. Die Causa, zunächst kontrovers durch die entsprechenden vatikanischen Gremien behandelt, gerät in den Verdacht des Modernismus und landet bei der Inquisition. Der Änderungsvorschlag wird schließlich vom Papst abgelehnt und die „Amici Israel“ aufgelöst. Hat diesmal in der Kurie noch die radikalultramontane, antimodernistische Richtung gesiegt, so zeigt die weitergehende Geschichte, dass sich der konziliantere Geist der „Amici Israel“ schließlich doch im Vaticanum II durchsetzen konnte.Von einer weiteren Öffnung der vatikanischen Archive verspricht man sich eine weitgehende, vielleicht sogar endgültige Klärung der Haltung Papst Pius XII. und seines „Schweigens“.

Dominik Burkard referiert den „Stand der Debatte“ zum Thema „Papst Pius XII. und die Juden“ (S. 282-296). Die jüngste Archivöffnung hat insofern zu einem Perspektivwechsel geführt, als Pacelli als Kardinalstaatssekretär, seine theologischen Einlassungen im Hl. Offizium und seine grundsätzliche Haltung zu Versuchen, lehramtlich gegen den Nationalsozialismus vorzugehen, stärker in den Blick der Forschung geraten sind. Obwohl sich die Römische Kurie intensiv mit den Inhalten der nationalsozialistischen Weltanschauung auseinandergesetzt hat, Rosenbergs „Mythos“ in aller Form verdammt hatte, mit Kritik in den Noten und Depeschen an die deutsche Reichsregierung nicht gespart wurde, konnte sie sich nicht durchringen, dies alles öffentlich zu machen. Die zentrale Kategorie der vatikanischen Entscheidungen blieb wohl die politische Opportunität. Pacelli setzte weiter auf diplomatische Strategien und wollte weder das Reichskonkordat noch den völkerrechtlichen Status des Vatikans gefährden. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Reinhold Bohlen schließt mit seinem Beitrag „Wende und Neubeginn. Die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils zu den Juden „Nostra aetate“ Nr.4“ (S. 297-308), die er als „theologischen Quantensprung“ bezeichnet, der einen Jahrhunderte alten theologischen und kirchlichen Antijudaismus überwunden habe. Er beginnt mit der päpstlichen Initiative, die auf einige Anregungen von außen zurückging, schildert den verschlungenen, durchaus auch vom Scheitern bedrohten Werdegang des Textes durch vier Entwürfe, einen regelrechten „kurialen Guerillakrieg“ und den dramatischen Lernprozess der Konzilsväter, die zahlreichen diplomatischen Demarchen und politischen Drohungen seitens arabischer Länder, die kirchlichen Widerstände besonders orientalischer Kirchenführer, aber auch die beharrliche jüdische Lobbyarbeit und die versuchten Einflussnahmen durch in Umlauf gebrachte antisemitische Pamphlete. Die Kirche habe das Judentum wieder entdeckt, seinen Eigenwert, die tiefe Verbundenheit der Kirche mit ihm, seine heilsgeschichtliche Bedeutung anerkannt und alle Judenfeindschaft als zutiefst unchristlich verurteilt. Der mit großer Mehrheit verabschiedete Text habe mittlerweile eine erstaunliche Eigendynamik in Richtung katechetischer Praxis und vatikanischer Diplomatie entwickelt. Christologische und ekklesiologische Folgerungen stünden noch aus, ebenso eine theologische Verhältnisbestimmung in einer neuen Israel-Theologie und auch Theologie der Religionen.

Natürlich ist der hier anzuzeigende Band keine systematisch angelegte Geschichte des jüdisch-katholischen Verhältnisses. Das will er auch nicht sein. Dazu bedarf es noch vieler weiterer Detailstudien wie der hier vorgelegten. Die versammelten Beiträge aus unterschiedlichen Ländern ergeben auch noch kein zusammenhängendes Bild. Sie sind in den meisten Fällen punktuelle Einzelstudien, die auch eine unterschiedliche Nähe zu den Intentionen der Herausgeber haben. Die Ansätze der Annäherungen, ihre Instrumentalisierungsanfälligkeit, mangelnde Reaktionen und oft schnelles Ende zeigen, wie tief die Fremdheit war und auch geblieben ist. Ein Großteil der Beiträge setzt sich mit den vielfältigen Formen von Judenfeindschaft auseinander. Von den im Untertitel angezeigten „Gemeinsamkeiten“ ist wenig geblieben, Anregungen, Kenntnisnahmen, Übereinstimmungen ja. Der „große historische Bogen der gegenseitigen Beziehungen von Judentum und Katholizismus“, der sich „von der Reformation bis hin zum Ende des 20. Jahrhunderts“ (S.9) spanne, ist noch nicht zu sehen. Dazu bedarf es vieler weiterer Studien. Aber der Anfang ist gemacht.


Rezensent:
Herbert Jochum


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