theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Maria Katharina Moser, Opfer zwischen Affirmation und Ablehnung. Feministisch-ethische Analysen zu einer politischen und theologischen Kategorie, LIT-Verlag: Wien/Berlin 2007 (Studien der Moraltheologie, Bd. 34), 544 S., 44,90 EUR, ISBN: 3-8258-9417-7

Dieses Buch von Maria Katharina Moser ist eine ausführliche Auseinandersetzung  mit dem Opferbegriff, um zu einer ethisch reflektierten Opferrede zu gelangen. Dabei formuliert die Autorin fünf Ansprüche an ihr Werk. So ist die Aufarbeitung feministischer Opferkritik ein zentrales Ziel der Arbeit, wobei besonders im Zentrum steht, wie und mit welchem Interesse von Opfer die Rede ist. Als zweites möchte die Autorin in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Theorie und Erfahrung miteinander verschränken, drittens ihre Auseinandersetzung mit dem Opferbegriff interkulturell und kontextuell gestalten. Auf diese Weise, so die Zielformulierung, soll Opfer als theologische und politische Kategorie verstanden und analysiert werden und schließlich eine Ethisierung des Opferbegriffs erarbeitet werden.

Um ihre Zielvorgaben einzulösen, untersucht Moser, ihre Vorgehensweise immer offen legend und kommentierend, nach einer einleitenden Darstellung verschiedener Facetten des Opferbegriffs den praktischen Umgang mit diesem: Sie bezieht die Erfahrungsebene in ihre Überlegungen ein durch einen praktischen Teil, in dem sie Gruppendiskussionen über den Opferbegriff  - in Österreich und auf den Philippinen – darstellt und behutsam interpretiert. Dabei werden interessante Dimensionen der Rede von Opfer deutlich. So ist in mehreren Gruppen zunächst beinahe selbstverständlich, dass Opfer passiv zu verstehen ist. Auch wenn das freilich nicht vollständig bestritten wird, stellt sich im Verlauf der Diskussionen doch heraus, dass dies nicht immer so sein muss, sondern dass dem Opferbegriff eine Ambivalenz innewohnt, die aktiv und passiv nicht immer eindeutig unterscheiden lässt. Neben dem Opfer-Sein wird etwa auch das Opfer-Bringen als Erfahrung benannt. Dabei zeigen sich in diesem und anderen Punkten der Erörterung bedeutende Unterschiede zwischen dem philippinischen und dem österreichischen Kontext. Außerdem gilt die Frage nach Selbst- und Fremdwahrnehmung von „Opfern“ als relevant, und es zeigt sich, dass, auch wenn die Erfahrungen mit der Opferrede häufig negativ sind und die Frauen dem Begriff „Opfer“ sehr kritisch gegenüber stehen, sie doch nicht bereit sind, ganz auf den Begriff zu verzichten, weil sie ihm – kritisch reflektiert – auch Positives abgewinnen.

Im Anschluss unternimmt Moser eine sorgfältige Darstellung und Systematisierung zahlreicher v.a. feministischer Theorieansätze. Diese Auseinandersetzung ist sehr ausführlich und zeugt von guter Kenntnis der Literatur zum Thema. Sie kann hier nur angedeutet werden. Während für die Vordenkerinnen der zweiten Frauenbewegung die Rede von „Frauen als Opfer“ wichtig war, um geschlechtsspezifische Gewalt überhaupt sichtbar zu machen, ist es für Theoretikerinnen heute zentral, diese Rede in Frage zu stellen und zu kritisieren. Mosers Behandlung verschiedener Diskurskontexte zeigt die Gefahren der Opferrede deutlich auf: Indem Frauen zu Opfern  werden, werden sie Objekte, der Subjektstatus wird ihnen aberkannt. Sie gelten als passiv und handlungsunfähig. Es findet eine Homogenisierung  - „die Migrantinnen sind Opfer“ – und Totalisierung – „einmal Opfer, immer Opfer“ – statt. Außerdem ist die Rede von Frauen als Opfer  in eine dualistische Grundstruktur eingebaut, nach der Gegensätze wie Täter – Opfer, aktiv – passiv, Subjekt – Objekt, schuldig – unschuldig einander unvereinbar gegenüber stehen. In ihrer Darstellung der Theorie deckt Moser wichtige Stereotypen und Vereinfachungen in der Rede von Opfer auf. Sie weist auf die verschiedenen Konstruktionen von Frauen als Opfer hin und benennt deren performativen Charakter.

Stellenweise folgt sie dabei jedoch den einzelnen Ansätzen so weit, dass die kritische Distanz schwindet: An einigen Stellen werden dem öffentlichen Diskurs über Frauen als Opfer auch da Dichotomisierung, Vereinheitlichung und „Entsubjektivierung“ von Frauen unterstellt, wo es – zumindest für die Leserin – nicht nachvollziehbar ist. Dadurch entsteht die Gefahr, selbst Gegensätze festzuschreiben oder eine Homogenisierung vorzunehmen. So stellt etwa die Aussage auf Seite 408, dass für Männer Migration nicht als Akt der Verzweiflung dargestellt wird, sondern als aktiver und mutiger Schritt, selbst eine Vereinheitlichung dar, die zumindest angezweifelt werden kann.

Im weiteren Verlauf der Arbeit wird sich die Autorin jedoch von Verkürzungen und einseitiger Wahrnehmung mancher Theoretikerinnen distanzieren.

In einem dritten Teil verbindet Moser die Ergebnisse beider Teile und erhält so Einsichten zu einer reflektierten Rede von Opfer. Hier zeigt sich, dass sie ihren Anspruch, Erfahrung und Theorie miteinander zu verbinden, einlösen kann und dabei weit über die Erkenntnis hinausgelangt, dass Theorie und Erfahrung einander bedingen. Sie kann eine dekonstruktivistische Herangehensweise an die Opferdiskurse, die falsche Gegensätze aufdeckt und Interessen entlarvt, sinnvoll verbinden mit dem Erfahrungparadigma, das sie befreiungsethisch anreichert. Die Opferrede wird zu einer kontextuell situierten und gilt nur als solche als angemessen. Ihr Rekurs auf die Gruppendiskussionen hat relevante Erkenntnisse gebracht, die aus der Theorie allein nicht einsichtig gewesen wären.

Indem Moser die falsche Alternative von autonom handelndem Subjekt und passivem Opfer aufbricht, gelingt es ihr zudem, mit ihrer Analyse der Rede von Opfer an aktuellen fundamentalethischen Diskussionen anzuknüpfen und zu diesen beizutragen. Autonomie und die Orientierung an anderen sind keine Gegensätze, sondern Autonomie ist immer relational zu verstehen. Eine angemessene Rede von Opfer hat dieser Einsicht Rechnung zu tragen.

Auch der theologischen Rede von Opfer versucht sie in den Reformulierungen des Schlussteils neuen Sinn zu verleihen. Allerdings rekurriert sie hierbei weniger auf Erkenntnisse aus den beiden vorangegangenen Teilen der Arbeit, sondern greift bei ihrer Ethisierung der theologischen Rede von Opfer und Kreuzestod Jesu auf andere, bisher nicht behandelte, theologische Ansätze zurück. Das bringt wichtige Einsichten zum Verständnis der Rede von Opfer in der Theologie. Es bleibt jedoch ein kleines Fragezeichen, welche theologischen Ansätze an dieser Stelle als Reformulierung präsentiert werden und welche im zweiten Teil im „Diskurskontext Theologie“ dargestellt werden. Kern des letzten Teils sind Leitlinien einer feministisch-ethisch angemessenen Rede von Opfer, die die gesamte Arbeit resümieren und prägnant in neun Thesen auf den Punkt bringen. In ihnen gelingt es Moser, den Einwänden feministischer Theorie Rechnung zu tragen und die Erfahrungen der Gruppendiskussionen zu berücksichtigen, um so die Rede von Opfer nicht völlig aufzugeben, sondern in ihrer Ambivalenz und Verwobenheit in verschiedene Diskurse als neu bestimmte beizubehalten.

Das Buch ist daher nicht nur eine hilfreiche Systematisierung theoretischer Ansätze, sondern es leistet wertvolle Arbeit im Aufdecken und Entlarven von Konstruktionen rund um den Opferbegriff, die eine angemessene Rede von Opfer überhaupt erst möglich macht.


Rezensentin:
Michelle Becka


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