Hans-Christian Roestel
Die Hamburger „Linga-Bibliothek für Lateinamerikaforschung“ und ihr Bestandsschwerpunkt zu mittelamerikanischer Religions- und Theologiegeschichte
Am 17. August 1956 läuft die „MS Augsburg“, ein Schiff der Hamburger Ballin-Reederei HAPAG, aus dem mexikanischen Hafen Veracruz aus. Ihre wertvolle Fracht sind 6000 Buchbände, Drucke und Briefe, verpackt in 65 Kisten. Weitere zehn sind mit Möbeln und Gemälden gefüllt. Eigentümer dieser Schiffsladung ist der aus Hamburg stammende Carl Robert Linga. Durch Vermittlung des damaligen Leiters des Hamburger Völkerkundemuseums, Prof. Dr. Hans Termer, hat er sich entschlossen, seine kostbare Büchersammlung nach Hamburg zu überführen. Dort soll sie als Grundstock für eine Bibliothek dienen, die ein Jahr später, am 12. Oktober 1957, am Alsterglacis in den Räumen der Iberoamerikastiftung im Iberoamerika-Haus eröffnet werden wird. Für Termer ist Lingas Bestand „die gegenwärtig vollständigste, wertvollste México-Bibliothek in deutschem Besitz“ [1]. Ein Urteil, dass auch heute noch zutrifft.
Lesesaal der
Linga-Bibliothek in den 1960er Jahren (Iberoamerika-Haus
am Alsterglacis)
© Linga-Nachlass/Sammlung der Linga-Bibliothek
1894 hatte es Linga als Siebzehnjährigen von Hamburg-Altona in die „Fremde“ gezogen. So jedenfalls sah es seine Mutter, die später auf der Rückseite einer Fotographie ihres Jungen schrieb: „Unser Junge, wie er von uns ging, um in die Fremde zu ziehen“ [2]. Die Fremde war Mexiko. In Hamburg war der junge Linga bei „Wöhler, Bartning und Sucesores“ in die Lehre gegangen. Nun sollte er in dem mittelamerikanischen Staat die Interessen seiner Lehrherren vertreten. In den ersten zehn Jahren war er vorrangig im Zuckerhandel tätig. Dann baute er aber seine Unternehmungen durch eine Reederei und Handels- und Finanzberatungen aus. Als „Don Carlos“ Linga gelangte er schließlich zu Ehre und Ansehen und materiellem Vermögen.
Im Laufe der Zeit lernte der Kaufmann das gesamte Land kennen. Zunächst hielt er sich im Nordwesten, in Mazatlán an der Pazifikküste, auf. Später siedelte er nach Chihuahua – die Grenzregion zu den Vereinigten Staaten von Amerika – um. Zuletzt war sein Lebensmittelpunkt beruflich wie privat in der Hauptstadt Ciudad de México. 1927 heiratete er Bertha Probst und starb im Oktober 1963 in Cuernavaca nahe der Hauptstadt.
Um 1908, vierzehn Jahre nach seiner Ankunft in dem
mittelamerikanischen Staat, begann Linga sich mit der Geschichte
Mexikos und der Mesoamerikanistik – der Kultur- und Siedlungsgeschichte
Mittelamerikas – auseinander zu setzen, zunächst im Norden des
Landes,
wo besonders die Geschichte der jesuitischen Missionierung spürbar
war. Mit wachsender Intensität wandte er sich der Vergangenheit
und Gegenwart seiner neuen Umwelt zu. Dank seiner erfolgreichen
Geschäftstätigkeit konnte er sich eine einzigartige
Bibliothek aufbauen, die sein umfassendes Interesse an Land und Leben
Mexikos widerspiegelte.
Carl
Robert Linga mit einem Teil seiner Schätze vor dem neuen Domizil
seiner Bibliothek: dem Iberoamerika-Haus am Alsterglacis in Hamburg
(1957)
©
Linga-Nachlass/Sammlung
der Linga-Bibliothek
Ein wesentlicher Teil des Sammlungsbestands ist die religiös-missionarische Literatur. Hierzu zählen nicht nur rein konfessionelle Schriften wie Gebets- und Andachtsbücher oder Predigtbände, sondern vor allem die für die theologische Forschung bedeutsamen Quellen zur mexikanischen Kolonial- und Missionsgeschichte: sozial- und missionskritische Abhandlungen und Rechtstexte – beispielsweise eine Kassetten-Ausgabe mit acht Werken von Bartolomé de las Casas, darunter auch dessen „Brevissima Relación de la destruyción de las Indias“ (Sevilla, 1532). Bedeutsam ist allerdings, dass Lingas Bestand Quellen in autochtonen Idiomen wie Quechua, Nahua, Zapotec oder Mixtekisch versammelt: vornehmlich jesuitische Grammatiken und Wörterbücher, aber auch Missions- und Ordensberichte.
Bei den Historiographien sticht die „Historia natural y moral de las Indias“ von José de Acosta (Salamanca, 1589) hervor. Ist sie doch Zeugnis der sich etablierenden Wissensvermittlung über und der Erforschung der Welt unter naturwissenschaftlichen oder überhaupt unter wissenschaftlichen und interdisziplinären Prämissen. Neben den Büchern zählen auch zahlreiche Drucke und Briefe zum Bestand: Besonderen Stellenwert besitzen hier Erstausgaben zweier Briefe des Eroberers, aber auch ersten kolonialen Geschichtsschreibers, Hernan Cortés, an den spanischen König und Habsburgischen Kaiser Karl V. („Cartas de relación“, Sevilla um 1522). Die Linga-Bibliothek verwaltet jedoch nicht nur den wertvollen historischen Bestand. Sie sammelt bis heute auch Gegenwartsliteratur. So ist für die theologische Forschung gewiss der Bestand an Werken zur Befreiungstheologie von besonderem Interesse.
Nach dem Tod ihres Mannes führte Bertha Probst de Linga den Ausbau seines Lebenswerkes fort und gründete in den sechziger Jahres die „Stiftung Linga-Bibliothek“. Heute ist der wertvolle Bücherbestand in der Staats- und Universitätsbibliothek der Freien und Hansestadt Hamburg untergebracht.
Linga hat in den Beziehungen zwischen Deutschland und Mexiko
wirkungsvolle und heute noch sichtbare Spuren hinterlassen. Auf ihn
geht nicht nur die „Linga-Bibliothek für Lateinamerikaforschung“[3]
an der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek zurück,
sondern auch das „Instituto Cultural Mexicano-Alemán“ in Taxco
(im Humboldt-Haus), die Deutsch-Mexikanische Handelskammer und
der Mexikoplatz in Berlin-Zehlendorf.
[1]
Vgl. Wiebke von Deylen, u.a., Linga-Bibliothek für
Lateinamerikaforschung. Eine Tür zur Neuen Welt (Carlos Linga y su
colección de libros sobre América Latina), Hamburg
2007, S.13
[2]
Vgl. ebd., S.3
[3]
Linga-Bibliothek für Lateinamerikaforschung, Von-Melle-Park 3,
20146 Hamburg , Tel. 040.42838.6273, Fax. 040.42838.3352, Internet: www.sub.uni-hamburg.de/linga
und www.linga-bibliothek.de
Zum Autor:
Hans-Christian Roestel, geb. 1980, M.A., Journalist in Hamburg
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