theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Norbert Reck

„... daß uns in unseren Tagen ein Kampf verordnet ist“

Eine Relektüre von Predigten Martin Niemöllers[1]



„Martin, ich wundere mich, daß du trotz der wenigen systematischen Theologie,
die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!“
Karl Barth

„Karl, ich wundere mich, daß Du trotz der vielen systematischen Theologie,
die du getrieben hast, doch fast immer das Richtige triffst!“
Martin Niemöller [2]



Martin Niemöller wird geachtet als Protagonist des Kirchenkampfs und als mutige und eloquente Stimme der kirchlichen Opposition gegen das NS-Regime. Als einer, der auch theologisch etwas zu sagen hätte, wird er heute kaum wahrgenommen. Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass für die theologischen Diskurse der Nachkriegszeit – insbesondere für den Umgang mit Schuld und für die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts der Massenverbrechen der NS-Zeit – die Position Niemöllers ein wichtiges Korrektiv hätte sein können.
Ob hier etwas nachgeholt werden kann, muss offen bleiben; gewiss aber kann die Auseinandersetzung mit Niemöllers Denken auch heute noch den Blick schärfen für manche Schieflagen des theologischen Gesprächs in Deutschland seit 1945.

Dass Niemöllers Theologie kaum rezipiert wird, hat seinen Grund zum einen sicher darin, dass er so gut wie keine explizit theologischen Texte verfasst hat. Seine Theologie ist in erster Linie die angewandte Theologie seiner Reden und Predigten. Aus diesen muss sie erst herausgearbeitet werden. Zum anderen behinderten sicher die immer wieder in den Texten auftretenden antijudaistischen Motive und Denkfiguren eine intensivere Befassung mit seinem Denken. Die folgende Relektüre einiger seiner Predigten – die in diesem Rahmen notwendigerweise exemplarisch bleiben muss – übergeht deshalb die Ambivalenzen von Niemöllers Theologie nicht, sondern fragt gerade nach dem widersprüchlichen Ineinander verschiedener Motive und Traditionen, nach den unverrückbaren Fixpunkten ebenso wie nach den Wandlungen seines Denkens.

Im Fokus meiner Betrachtungen stehen dabei die Erfahrungen Niemöllers mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen. Dass Niemöllers theologisches Profil gerade im Rahmen seiner eigenen oppositionellen und widerständigen Aktivitäten (und, wie ich meine, besonders in der zunehmenden Verfolgung seit 1937) seine Konturen gewann, verdient hierbei besondere Aufmerksamkeit.

Leonore Siegele-Wenschkewitz, die sich mit Niemöllers antijüdischen Auslassungen differenziert auseinandergesetzt hat, meinte mit Recht, von seiner familiären, politischen und theologischen Herkunft her sei Niemöller eigentlich dazu prädestiniert gewesen, „daß er einer der Führer der Deutschen Christen würde“ [3]. Das aber war für Niemöller niemals eine Versuchung. Bei aller Zustimmung zum Nationalsozialismus, dessen Partei er von 1924 bis 1933 gewählt hatte, weigerte er sich von Anfang an, politische Bewegungen als Ausdruck des Willens Gottes zu verstehen. Gegenüber den Deutschen Christen beharrte Niemöller auf dem reformatorischen Schriftprinzip, wonach durch das Wort Gottes allein – sola scriptura – der Wille Gottes zu vernehmen sei. In Anlehnung an die erste These der Barmer Theologischen Erklärung formulierte er 1934:


„Dies Wort ist die Gottesgabe, die unserer Kirche anvertraut ist; und mit ihr allein wird sie allezeit zu dienen haben, damit unser Volk nicht arm werde an ewigem Gut, und damit das gewaltige Werk der völkischen Einigung und Erhebung, das unter uns begonnen ist, einen unerschütterlichen Grund und dauernden Bestand gewinne!“ [4]


Im Wort Gottes lag Niemöllers archimedischer Punkt. Weder Partei, noch Bewegung noch Kirche konnte demgegenüber höhere Autorität beanspruchen. Von hier aus hat er gedacht und gesprochen, ohne je diesen Punkt zu verraten. Von hier aus entwickelte er allmählich auch eine Distanz zur „völkischen Einigung und Erhebung“, die ihn zunächst begeisterte; von hier aus sah er sich befähigt, furchtlos den Mund aufzumachen; und von hier aus konnte er sein Handeln kritisch beurteilen und seine Schuld bekennen.

Von diesem Fixpunkt aus unternahm es Niemöller, genau auf die jeweils konkreten Fragen und Problemlagen seiner Zeit zu antworten; ohne „Subjektverbergung“ [5] trug er seine Situation und seine Perspektive immer reflektiert in sein Reden ein, sodass die drängenden Fragen der Zeit nicht hinter der Verkündigung des Evangeliums zurücktraten, sondern gerade zu seinem tieferen Verständnis beitrugen. [6]


Die Anfänge in Dahlem

Martin Niemöller kam 1931 als Pfarrer nach Berlin-Dahlem, 1933 wurde er auf die 1. Pfarrstelle der Dahlemer St.-Annen-Kirche gewählt. Wie er, der in dem eher konservativen Villenvorort zunächst als „der nationalsozialistische Pfarrer“ [7] galt, schließlich zum Vorsitzenden des Pfarrernotbundes und zu einem der wichtigsten Protagonisten der Bekennenden Kirche wurde, muss hier nicht nacherzählt werden. [8] Wichtiger ist es festzuhalten, mit welcher theologisch-religiösen Haltung er nach Dahlem kam.
Exemplarisch mag dafür eine Passage aus Niemöllers autobiographischem Bericht Vom U-Boot zur Kanzel stehen, der 1934 erschien und bald zu einem Bestseller wurde. Darin ist die Rede von einem Gewissenskonflikt im Ersten Weltkrieg. Niemöllers U-Boot-Mannschaft hatte (am 25. Januar 1917) ein französisches Dampfschiff versenkt, und ein französisches Torpedoboot versuchte, die Überlebenden des Dampfschiffs an Bord zu nehmen. Sollten die Franzosen an der Rettung gehindert werden? War es in Ordnung, eine solche Rettungsaktion zu stören? Oder war dies sogar eine Pflicht, da die geretteten französischen Soldaten nur weiter gegen Deutschland gekämpft hätten? Niemöller zeigt sich – für einen Moment – als Zweifelnder und reagiert auf diese Situation mit einer knappen theologischen Überlegung:


„Und plötzlich breitete sich das ganze Rätsel ‚Krieg‘ vor unsern Augen aus; mit einemmal wußten wir aus einem Stückchen eigenen Erlebens um die Tragik der Schuld, der zu entgehen der einzelne kleine Mensch einfach zu schwach und zu hilflos ist. [...] Aber das sahen wir, daß es Lagen gibt, wo jede gesetzliche Moral Bankrott macht, wo keine Möglichkeit bleibt, sich ein unverletztes Gewissen zu bewahren. Und wo die Frage, ob wir in Verzweiflung oder Trotz scheitern oder aber mit lebendigem Gewissen durch die Anfechtung hindurchgehen, daran und allein daran hängt, ob wir eine Vergebung glauben! [...] Mir aber ist dieser 25. Januar für mein Leben bedeutsam geworden, weil er mir die Augen öffnete für die Unmöglichkeit eines moralischen Weltbildes.“ [9]


Hier sind mehrere Motivstränge ineinander verflochten: Die Rede von der Tragik, der kein Mensch entgehe, klingt ernst und bitter, macht aber jedes ethische Reflektieren grundsätzlich gleichgültig: Ganz egal, wie man sich entscheidet – es wird unentrinnbar falsch. Die Rede von der Kleinheit, Schwäche und Hilflosigkeit des einzelnen Menschen will bescheiden und auf gar keinen Fall überheblich sein, aber sie legt vor allem fest, dass der Mensch als Einzelner zum verantwortlichen Handeln gar nicht in der Lage sei. Trotzdem scheint auch ein Wissen von einer Moral auf, die anderes verlangt. Niemöller nennt sie „gesetzliche Moral“ und meint in diesem Kontext jene Moral, die sich zu eindeutigen Entscheidungen in der Lage sieht. Zugleich bezieht sich der polemische Ausdruck „gesetzlich“ auf die verbreitete antijüdische Gegenüberstellung von „Gesetz“ und „Evangelium“. „Gesetzlich“ ist demnach das alttestamentliche bzw. jüdische Festhalten an der Tora und ihren klaren Forderungen – eine Moral, die nur „Bankrott“ machen könne. Demgegenüber steht das Evangelium für eine Moral der Liebe, der es mehr auf die innere Haltung ankommt als auf die tatsächliche Entscheidung zu einer Tat. Wer sich nur ausreichend innerlich zerrissen und angefochten erlebt und dann so oder anders oder gar nicht entscheidet, darf auf Gottes Vergebung hoffen.

Dass diese Sichtweise sowohl Tora als auch Evangelium nur karikaturhaft verzerrt wiedergibt, muss hier nicht diskutiert werden; zu fragen aber bleibt, was ein „lebendiges Gewissen“ sein soll und was dieses dem Menschen tatsächlich sagen kann, wenn in der Pose der Nachdenklichkeit und „Anfechtung“ grundsätzlich alle Handlungsalternativen von vornherein verworfen werden. Ist die Rede vom angefochtenen Gewissen hier nicht bloß eine prätentiöse rhetorische Figur, mit der sich ein Mensch moralisch schmückt, der seine konkreten Entscheidungen aber keinerlei Kritik unterwirft, weil sie allesamt der Tragik des menschlichen Daseins zuzurechnen seien? In dieser Perspektive bleibt wohl tatsächlich nur die intensiv empfundene Hoffnung auf Gottes Vergebung – aber das muss man fast eine andere Religion nennen, denn nach den Evangelien gilt die Zusage der Vergebung Gottes dem reuigen Menschen, der umkehrt von seinen falschen Wegen und sich zuerst mit seinem Bruder versöhnt, bevor er zum Altar tritt (Mt 5,23f); sie gilt nicht demjenigen, der leugnet, dass es ein gerechtes Tun gibt und sich allein auf sein tragisch-subjektives Angefochtensein beruft.

Prononcierter kann man die kurze Reflexion, die Niemöller hier vorträgt, wohl als Herzstück einer Tätertheologie bezeichnen, die den religiösen Ermöglichungsgrund für die Teilnahme an jeder nur denkbaren Art von Taten bereitstellt. Wenn ohnehin jedes Handeln schuldig macht, dann spielt es keine Rolle, an welchen Handlungen man sich letzten Endes beteiligt. „[W]o alle schuldig sind, ist es keiner“ [10], schreibt Hannah Arendt, und dieser Gedanke charakterisiert die Theologie, mit der wir es hier zu tun haben, als eine umfassende Entmoralisierungsstrategie. Zahlreiche NS-Verbrecher haben sich nach der Schoa mit Figuren dieser Tätertheologie – insbesondere mit dem Verweis auf ihren subjektiv guten Willen bei objektiv „tragischen“ Anforderungen – zu rechtfertigen versucht.

Martin Niemöller sah sich in Dahlem indessen mit Anforderungen konfrontiert, die ihn bald weit von diesem Ausgangspunkt seines theologischen Denkens wegtrugen. Den beginnenden Kirchenkampf erlebte er zwar einerseits als sehr ernste Angelegenheit, andererseits aber als eine Herausforderung zum Bekenntnis, auf die er entschlossen und durchaus freudig zuging. Auch in dieser Situation hätte er leicht einen Gewissenskonflikt sehen können: Ist es recht, sich mit der staatlichen Obrigkeit anzulegen, wenn man dadurch eventuell Leib und Leben seiner Familie gefährdet? Dieses Mal aber gab es für ihn kein Zögern.

Am 30. Januar 1937 zieht Niemöller in einem Gottesdienst eine Bilanz der ersten vier Jahre der NS-Herrschaft. Er spricht davon, dass in diesen vier Jahren „Tausende von evangelischen Christen Bekanntschaft mit der Polizei gemacht haben“ und erwähnt offen – wie auch schon in den Jahren zuvor –, „daß Hunderte von evangelischen Predigern kürzere oder längere Zeit in Gefängnissen und Konzentrationslagern festgehalten wurden“ (HJC 109) [11]. Bedrückender noch als diese erwartbaren Einschüchterungsmaßnahmen sei für ihn aber die Tatsache, „daß die Kirche selber in Gefangenschaft geraten ist“ (HJC 110), womit er sich auf die Kämpfe um die Unabhängigkeit der Kirchenleitungen bezieht, die in den Auseinandersetzungen um die von der NS-Regierung eingesetzten Kirchenausschüsse einen bitteren Höhepunkt erreicht haben. [12] Zugleich aber zögert Niemöller nicht, die Situation der Kirche der Gegenwart mit der Gefangenschaft des Paulus zu vergleichen: Paulus habe schließlich aus seiner Gefängnishaft an die Gemeinde von Philippi geschrieben, dass Gottes Wort durch Gefängnismauern nicht aufzuhalten sei (Phil 1,12–21). Aus dem stummen Gefängnis sei ein lautes Zeugnis für das Evangelium geworden, und diese einzigartige Gelegenheit zum Zeugnis habe auch die verfolgte Kirche der Gegenwart:


„Liebe Gemeinde, wer von uns möchte eigentlich – im Rückblick auf die vier Jahre – als Christ wieder in der Zeit vor 1933 leben? Wer von uns wüßte nicht etwas von dem Segen dieser Jahre kirchlicher Gefangenschaft, die zur Förderung des Evangeliums haben dienen müssen?“ (HJC 115)


Aus diesen Worten ist weniger Tapferkeit als eine gewisse Begeisterung zu spüren: Das christliche Leben hat wieder Zeugnischarakter, es hat nichts mehr gemein mit dem bequemen Kulturchristentum – man muss für seinen Glauben einstehen, und das kann nur ein Segen sein.

So ging es für Niemöller in dieser Situation zuallererst um das Evangelium, das verkündet werden soll, und das hat Bedeutung in zweierlei Hinsicht. Erstens: Der Vorwurf, der gelegentlich gegen die Bekennende Kirche erhoben wurde, es sei ihr lediglich um die unbehelligte Fortsetzung der kirchlich-institutionellen Arbeit gegangen, ist, zumindest was Niemöller anbelangt, nicht stichhaltig. Für Niemöller war das Funktionieren der Institution keineswegs das oberste zu bewahrende Gut; das Höchste, dem er dienen wollte und dem auch die Kirche zu dienen hätte, war das Wort Gottes allein, die Verkündigung des Evangeliums. Und wo diese Verkündigung vom NS-Staat behindert wurde, fielen vollkommen klare Worte.

Das heißt aber – zweitens –, dass in jenen Jahren nicht etwa Fragen der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und des Schicksals der Verfolgten im Mittelpunkt von Niemöllers Aufmerksamkeit standen. Sein Denken und seine Arbeit drehten sich in erster Linie um die unerschrockene Verkündigung des Evangeliums, d.h. um das Evangelium als Botschaft des Christentums, die angenommen werden sollte, um das Bekenntnis zum Heiland Jesus Christus – nicht zuerst um die Werte des Evangeliums (wie etwa Nackte bekleiden, Hungernde speisen und Gefangene besuchen nach Mt 25).

Aus diesem Grund auch spielen die verfolgten Juden in den Dahlemer Predigten Niemöllers keine Rolle. Als Juden haben sie das Evangelium von Jesus Christus nicht angenommen und teilen somit nicht das, wofür Niemöller bereit ist, alles hinzugeben. Antijüdische Bemerkungen sind dementsprechend in den Texten immer wieder anzutreffen. Allenfalls können Christen jüdischer Herkunft, die als Prediger an der Verkündigung des Evangeliums gehindert werden, auf Niemöllers Unterstützung rechnen.

Martin Niemöller sah sich nicht als politischer Gegner des Nationalsozialismus, er war kein Verteidiger der Menschenrechte oder gar der Demokratie – er war ein Verteidiger des Evangeliums.


Eine neue Welle der Verfolgung

Wenige Wochen später ändert sich der Ton von Niemöllers Predigten radikal. Der Bittgottesdienst vom 7. April 1937 markiert einen deutlichen Einschnitt. Mit einem Mal ist nichts mehr zu spüren vom kämpferischen, fast freudigen Geist des Eintretens für das Evangelium. Große Nüchternheit und die Suche nach Trost – nicht mehr im „Sichtbaren“, sondern „allein bei Gott“ – herrschen vor. Den Grund dafür spricht Niemöller offen an: Eine neue Verfolgungswelle hat begonnen. Es kommt vermehrt zu Verhaftungen, Beschlagnahmungen kirchlicher Schriften, Enteignungen von Druckereien ...


„Und wenn wir heute und gestern und vorgestern in der Zeitung gelesen haben von Prozessen gegen katholische Geistliche, so zeigt uns das nur, daß die Verordnung des Führers vom August vorigen Jahres, nach der in kirchlichen Prozessen keine Hauptverhandlungen stattfinden durften, liquidiert worden ist, und daß die Verfahren nicht nur gegen katholische, sondern auch gegen evangelische Geistliche und Laien wieder in Gang kommen.“ (HJC 181)


Das ist nun nicht mehr das Erwartbare – Angst und Schrecken machen sich breit:


„Wenn heute ein Bote Jesu Christi festgesetzt wird wegen seines Bekenntnisses, dann ist es nicht so, wie noch vor zwei Jahren, daß andere dafür aufstehen, sondern daß die anderen es mit der Angst kriegen. Ich habe Beispiele genug erlebt, noch vor wenigen Wochen, kurz vor meinem Urlaub. Wir hatten einen Mann, der für uns druckte; er wurde verhaftet und nach einer Zeit wieder freigelassen, aber drucken tut er nicht mehr, der Mann wagt es einfach heute nicht mehr. Und darauf hat es der Feind ja abgesehen, daß alles eingeschüchtert wird; das ist ja seine Absicht, das Wort Gottes so zu binden, daß es nicht mehr laut wird.“ (HJC 183)


Niemöllers erste Reaktion auf die veränderte Lage besteht darin, der äußeren politischen Wirklichkeit in einer großen Anstrengung des Glaubens die Wirklichkeit Gottes entgegenzuhalten. Nur „durch ein gewaltiges Aber“ lasse sich „aus der Trübseligkeit des wirklichen Zustandes“ ausbrechen und das Bekenntnis aufrechterhalten, dass Gottes Wort weiterhin nicht gebunden sei (HJC 183). Nicht mehr das mutige Vorangehen, sondern das tapfere Aushalten ist nun gefordert:


„[...] ich meine, es geht heute im gewöhnlichen Alltag unseres Lebens, mitten in dieser Welt, bereits um das eine, um dieses Entweder-oder: ‚Dulden wir?‘ oder ‚Verleugnen wir?‘, und jene Brüder und Schwestern, die um des Evangeliums willen leiden und dulden wie die Übeltäter, verkündigen eben mit ihrem Leiden, daß Gottes Wort nicht gebunden ist, daß es frei und ungebunden waltet, daß Gottes Wort stärker einschließt als eine Gefängnistür und eine Konzentrationslagertür, stärker bindet, als irgendeine irdische Macht binden kann – und wenn sie noch so viel Kerkertüren und Konzentrationslagertore aufmacht! –, weil das Wort Gottes eine Freiheit schafft, die keine Macht der Welt uns zu geben vermag.“ (HJC 185f)


Auf längere Sicht aber können die Appelle zum Durchhalten nicht genügen, besonders wenn, wie Niemöller am 2. Mai 1937 sagt, „es nicht so aussieht, als ob der Kampf leichter würde oder bald von uns genommen würde“ (HJC 194). Hier ist mit Händen zu greifen, dass das, was er der Gemeinde vorträgt, keineswegs allzeit gültige Verkündigung ist, die so oder ähnlich Jahr für Jahr wiederholt werden könnte. Niemöller nimmt seine Gemeinde in ihrer konkreten gegenwärtigen Situation ernst, er behelligt sie nicht mit billigen Existentialismen („In jedem Leben gibt es dunkle Zeiten ...“), sondern versucht, vom Wort Gottes her präzise zur Lage des jeweiligen Tages zu sprechen. Dabei führt er als Pastor nicht eine wünschenswerte aufrechte Haltung vor, sondern macht auch aus seiner eigenen Fassungslosigkeit kein Hehl:


„Mich hat doch innerlich seit langem nichts mehr so erschüttert wie das Wort, das ich in der vergangenen Woche aus dem Munde eines einsam gewordenen Amtsbruders hörte, dem ich auf dem Friedhof begegnete. ‚Ach, lieber Bruder‘, sagte er mir, ‚die Barmherzigkeit unter den Menschen ist gestorben.‘“ (HJC 195)


Nicht nur die zunehmende Verfolgung, sondern auch die voranschreitende Faschisierung der deutschen Gesellschaft findet in diesen Worten ihren Niederschlag. Unbarmherzigkeit breitet sich aus. Zugleich kündigt sich hier bereits leise an, dass neben dem Verkünden des Heilands auch dessen Werte der Menschlichkeit wichtiger werden. Fast flehend versucht Niemöller nun, der Gemeinde zum Festhalten an Christus und an seiner Liebe Mut zu machen:


„Wir trösten uns leicht mit der Härte dieser Zeit; aber wir sollten uns so nicht über unsern Mangel an Liebe und Barmherzigkeit hinwegtrösten, sondern wir sollten es ruhig eingestehen, daß diese Zeit ganz kräftig dabei ist, uns von der Liebe Christi zu trennen; wir sollten es eingestehen, damit wir umkehren und uns besinnen auf das Wort, das wir vergessen haben, das Wort, das Gott mit uns spricht von der Gnade über den Sünder; wir sollten es eingestehen, damit wir uns neu schenken lassen, was uns verlorenzugehen droht.“ (HJC 196)


Eingestehen: Dieses Wort gehört nicht ins Vokabular der furchtlosen Bekenner oder der verfolgten Opfer. Es ist eine Vokabel der Täterschaft, der schleichenden, bewussten oder unbewussten Einwilligung in die Brutalisierung der Gesellschaft. Niemöller nimmt seine Gemeinde der Dahlemer Getreuen davon nicht aus. Die Unbarmherzigen, die immer Barbarischeren, die dem Nationalsozialismus sich immer mehr Angleichenden sind nicht immer nur „die anderen“ [13].

Dass man sich sein eigenes Versagen in dieser politischen Situation eingestehen kann, hat zahlreiche Implikationen. Hier werden Keimlinge einer anderen Theologie sichtbar. Das hat nichts mehr zu tun mit dem privaten Eingestehen diverser moralischer Unvollkommenheiten. Wer hier Niemöller folgte, verstand sich bereits als Akteur in einem gesellschaftlich-politischen Verantwortungsgeflecht. Wer sich hier etwas eingestehen konnte, war bereit, in sich erneut Kräfte der Widerständigkeit zu wecken. Zugleich bedeutete das den Abschied von der selbstgewissen Haltung: „Wir sind Christen, wir sind die Anständigen.“ Die immer zu schnell gezogene Scheidelinie zwischen Opfern und Tätern wird nun problematisch; die von vielen bereitwillig vollzogene Selbststilisierung als Opfer wird erschwert. Eine neue, realistischere christliche Selbsteinschätzung beginnt, Platz zu greifen. Und die christliche Hoffnung auf die „Gnade über den Sünder“ ist jetzt nicht mehr an Pirouetten der Gewissenstragik, sondern klar an die Umkehr gebunden.

Niemöller sieht, wie sich darüber das Christsein verändert. Eine Woche später, am 8. Mai 1937, benennt er die Veränderung bereits als eine Art Abschied vom Kulturprotestantismus:


„Das ist wohl das besondere Kennzeichen unserer Tage, und darin unterscheidet sich unser heutiges Christsein von aller Frömmigkeit, von der wir herkommen, daß wir wieder von neuem lernen, wie das Reich Gottes keine friedliche Verschmelzung eingeht mit irgendwelchen Reichen dieser Welt, ob diese Reiche nun auf äußere Macht oder auf geistige Kultur oder auf beides gleichzeitig sich gründen mögen.“ (HJC 198)


Die Identifikation des Reiches Gottes mit „irgendwelchen Reichen dieser Welt“ – und schienen sie noch so kompatibel mit christlichen Werten – ist endgültig unmöglich geworden. In diesem Punkt war Niemöller immer schon zurückhaltend, aber nun entspricht das nicht nur theologischen Grundsätzen, sondern ist dem Gang der Ereignisse selbst zu entnehmen. Das NS-Regime wird nun in aller Offenheit als „der Feind“ bezeichnet (HJC 183), und das ist ein ganz grundlegender Schritt. [14] Das Reich Gottes erscheint nun in einem prinzipiell kritischen Kontrast zu allen menschlichen Versuchen, sich in der Welt zu beheimaten. Die bürgerliche Vorstellung, in einer Welt zu leben, die im Großen und Ganzen in Ordnung ist und bestenfalls einiger karitativer Korrekturen bedarf, ist zerbrochen. [15]


„Wir leben heute als Christenmenschen auf dieser Erde nicht mehr in jener naiven Gläubigkeit wie noch vor ein paar Jahren, als ob wir hier eine geruhsame und gesicherte Heimat hätten, aus der es lediglich mit dem Tode auszuwandern gilt in eine noch bessere, noch friedvollere, noch gesichertere Heimat, sondern wir wissen, daß wir mit dem Herrn Christus Gäste und Fremdlinge sind auf Erden und daß es nicht Zufall ist, dass uns in unseren Tagen ein Kampf verordnet ist [...]“ (HJC 199).


Die Sicht der menschlichen Geschichte verändert sich: Die Kämpfe mit den irdischen Mächten sind kein Zufall, sondern die klare Konsequenz aus der Tatsache, dass die „Christenmenschen“ sich als einem Reich zugehörig verstehen, das „nicht von dieser Welt“ ist. Dementsprechend geht es im Christenleben auch nicht mehr um eine möglichst reibungsarme Kontingenzbewältigung, sondern um das entschiedene Zeugnis für das Reich Gottes, um kritische Distanz zu den Reichen dieser Welt, um das tapfere Kreuztragen in der Verfolgung. Dass die Gemeinde Jesu damit „Schmach und Leiden“ auf sich zieht, hat durchaus „seine Richtigkeit“; verheißen ist ja nicht ein bequemes Erdenleben, sondern die Erwartung „eines neuen Himmels und einer neuen Erde“ (HJC 199).

Wo die christliche Gemeinde sich solchermaßen nicht mehr in einem bürgerlichen, sondern in einem widerständigen Paradigma verortet, werden auch die apokalyptischen Töne des Neuen Testaments besser verständlich: Das angekündigte „Ende aller Dinge“ (1 Petr 4,7) mag für den bürgerlichen Menschen „schreckender Posaunenton des Jüngsten Gerichts“ gewesen sein; nun aber wird es hörbar „als Frohe Botschaft, als tröstliche Antwort“ (HJC 200). Und „angesichts des kommenden Endes“ (HJC 204) gewinnen neben dem „Bekenntnisbetrieb, der nur Betrieb ist“ (HJC 205) auch die Werte der Solidarität wachsende Bedeutung: „die unscheinbare, helfende Tat, das freundlich tröstende Wort, das Offensein für die fragende Not des Bruders“ (ebd.). Christus selbst verbirgt sich „in dem Bruder an unserer Seite“ (HJC 225), dessen Durst und Hunger gestillt werden sollen.

Gewiss: Niemöller hat hier weiterhin primär die „Leiden vieler Christenbrüder“ (HJC 226) vor Augen, angesichts derer er die Gemeinde zur Verantwortung ruft. Andere, nichtchristliche Verfolgte kommen noch nicht explizit in den Blick. Dennoch hat das solidarische Handeln gegenüber der Verkündigung des Wortes Gottes mehr Gewicht bekommen. Und die Wirklichkeit der Welt – die „Königsherrschaft des Todes“, der Hass der Menschen, die Feindschaft der Welt (HJC 221) – sollen nun nicht mehr mit Blick auf die Wirklichkeit Gottes relativiert werden, sondern gilt als Betätigungsfeld für die Verwirklichung der Liebe. In dem Maße, wie Christsein als Widerstehen gegenüber den Gewaltmächten der Welt entdeckt wird, erschließen sich auch biblische Texte sehr viel unmittelbarer, als das im bürgerlichen Christentum möglich war:


„Ich muß sagen, mir ist in dem Zusammenhang dieser Bibelstelle – die ich doch von Jugend auf kenne – am heutigen Tage erst aufgegangen, daß der Herr Christus der Jüngergemeinde sagt: ‚Ihr werdet geschmäht werden und verfolgt werden, ihr werdet diffamiert werden, und zwar mit Lügen‘, und darauf: ‚Ihr seid das Salz der Erde; ihr seid das Licht der Welt!‘“ (HJC 243)

„Erst in diesen Tagen ist mir klar geworden, erst seit heute verstehe ich, was der Herr Christus meint: ‚Nehmt nicht das Scheffelmaß! Ich habe das Licht nicht angezündet, damit ihr es unter den Scheffel stellt, um es vor dem Wind zu schützen. Weg mit dem Scheffelmaß! Das Licht gehört auf den Leuchter! Es ist nicht eure Sorge, ob das Licht von dem Luftzug ausgelöscht wird.‘“ (HJC 246)


Dass sich im letzten Zitat auch der Abschied von der Kategorie des Erfolgs ankündigt, verbindet Niemöller und seine Gemeinde mit vielen christlichen Widerstands- und Befreiungsbewegungen in Verfolgungssituationen zu allen Zeiten. Tatsächlich kann es seit Frühjahr 1937 für die bekennenden Christinnen und Christen in Deutschland nicht mehr um Erfolg, sondern nur noch um das Festhalten an der Wahrheit gehen, denn die Lage ist „so dunkel und unsicher wie nur möglich“ (HJC 242); die im Gottesdienst regelmäßig verlesene Fürbittenliste mit den Namen der von Redeverboten, Ausweisungen und Verhaftungen Betroffenen „ist nun erschreckend lang geworden“ (HJC 238); „[d]ie Bedrängnis wächst“ (HJC 259). Neben zahlreichen repressiven Maßnahmen gegen die Bekennende Kirche – u.a. der Schließung der Predigerseminare – wurden allein im Jahr 1937 fast 800 Pfarrer und Kirchenjuristen der Bekennenden Kirche vor Gericht gestellt.

In seiner vorletzten Gemeindepredigt, bevor er selbst verhaftet wurde, sprach sich Niemöller – am 19. Juni 1937 – noch einmal entschieden gegen allzu große Leisetreterei und Diplomatie aus. Solche komme etwa in der Mahnung zum Ausdruck: „Um Gottes willen, redet doch nicht so laut, ihr kommt ja sonst ins Gefängnis“ (HJC 247). Ein bekanntes Jesuswort deutet er neu im aktuellen Kontext der Verfolgung:


„Die stumme Kirche, die nicht mehr sagt, wozu sie da ist, verleugnet sich selbst. Das Wort Gottes laut zu verkündigen, das ist unser Dienst; aber daß die Kirche weiterlebt und nicht umgebracht wird, daß das Licht nicht ausgepustet wird, Freunde, das ist nicht unsere Sache. ‚Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.‘ Und das gilt vom Leben der Gemeinde genau so, wie es im Leben des einzelnen Christen seine Geltung hat. Das heißt doch wohl praktisch: ich muß heute noch mal so reden, vielleicht kann ich es am nächsten Sonntag nicht mehr; ich habe euch das heute noch einmal mit aller Deutlichkeit zu sagen – denn wer weiß, was am nächsten Sonntag ist!?“ (HJC 247)


Am 1. Juli 1937 wurde Niemöller von der Gestapo verhaftet und ins Untersuchungsgefängnis Moabit verbracht. Nach einer Gerichtsverhandlung am 2. März 1938 wurde er umgehend ins KZ Sachsenhausen eingeliefert; am 11. Juli 1941 erfolgte die Überführung ins KZ Dachau. [16]


Im Konzentrationslager Dachau

Aus den letzten Monaten von Niemöllers Gefangenschaft im Lagerarrest des KZ Dachau (im sog. „Bunker“, nicht im Häftlingslager) sind sechs Predigten überliefert. [17] Natürlich unterschied sich die Situation radikal von jener der Gemeindegottesdienste; die Gemeinde bestand nun aus einer kleinen Gruppe von Mitgefangenen, die kaum Ähnlichkeit mit den bekennenden Christen in Dahlem hatte:


„Ein holländischer Minister, zwei norwegische Reeder, ein englischer Oberst aus der indischen Armee, ein jugoslawischer Diplomat und ein mazedonischer Journalist bildeten die kleine Gemeinde, der ich zum ersten Male seit siebeneinhalb Jahren am heiligen Abend 1944 im Zellenbau (Kommandantur-Arrest) des Lagers Dachau einen Gottesdienst halten durfte. [...] Dabei war unsere Gemeinde fast ebenso reich an Konfessionen wie an Nationen: Calvinisten, Lutheraner, Anglikaner und Griechisch-Orthodoxe fanden sich hier zusammen, fast alle Einzelgänger, die von ihrer kirchlichen Gemeinschaft ebenso abgeschnitten und getrennt waren wie von ihren Familien und Freunden.“ (DAH 3)


Niemöller geht es in den Predigten vor dieser „Gemeinde“ immer darum, möglichst genau auf die Situation der Gefangenschaft einzugehen und darüber vom Evangelium her zu sprechen. Ein wichtiges Thema ist – von Weihnachten bis Ostern – die Gefahr der Verbitterung und des Defätismus. Im Weihnachtsgottesdienst am 24. Dezember 1944 spricht sie Niemöller umgehend an:

„So kommt’s denn, daß wir uns in diesen Tagen unsrer selbst sehr wenig sicher fühlen und eigentlich beständig fürchten, daß wir vor uns selbst die Haltung verlieren könnten. Das Bitterwerden unter der uns aufgelegten Last und das Aufbegehren gegen unser Los sind uns da besonders nahe, und wir haben mit einer ganzen Fülle widerstreitender Gefühle in unsrer Brust zu ringen.“ (DAH 5)


Man kann sich leicht ausmalen, dass in dieser Lage die Versuchung groß ist, zu einem wieder stärker spiritualisierten, aufs Innerliche bezogenen Glauben Zuflucht zu nehmen. Dagegen aber stemmt sich Niemöller mit aller Kraft. Er hält fest, „daß unser Glaube niemals ein bloßes Ruhekissen sein kann und darf“ (DAH 24), und beschreibt den tätigen Weltbezug als ein unverzichtbares Konstitutivum des christlichen Glaubens:


„Deshalb ist ein Christentum, das sich selber isoliert, das der bösen Welt ihren Lauf läßt und sich damit begnügt, auf ein besseres Jenseits zu hoffen, nicht mehr als ein Zerrbild, eine törichte Karikatur. – Das Erdenleben Jesu selber wie das Wirken seiner Apostel erweist es, wie das Evangelium eine Kraft Gottes ist, die immer vorwärts drängt zur Tat, zum Wirken, solange es Tag ist; und wo jemals wirklicher, lebendiger Christusglaube gewesen ist, da ist Arbeit geleistet worden [...]“ (DAH 24)


Wie aber können KZ-Häftlinge tätig sein? Der Zweck ihrer Haft besteht ja gerade darin, sie von weiterem Tätigsein abzuhalten. Heißt nicht „das Los, das Gott uns zugewiesen hat, Einsamkeit“? Niemöller will das nicht gelten lassen. Er sieht darin eine Gefahr:


„Es wäre verhängnisvoll für uns, wenn wir uns in diese Überzeugung hineinverrennen würden, um damit alle Verantwortung von uns zu werfen und auf Gott zu schieben, der uns in diese Lage gebracht hat. – In Wirklichkeit sind wir ja doch von Gott gerufen zu seinem Dienst, und keiner von uns macht da eine Ausnahme [...] “ (DAH 25)


Dies ist in meinen Augen einer der bewegendsten Gedanken in den Dachauer Predigten: Eine der zerstörerischsten Gefahren für den politischen Gefangenen liegt darin, den Sinn für die eigene Verantwortung zu verlieren und stattdessen mit Gott zu hadern und ihm die Verantwortung für die persönliche Lage zuzuschieben. Auf diese Weise wird aus dem Widerstandskämpfer, der genau wusste, warum er sich an oppositionellen Aktivitäten beteiligte, und der die Gefahr der Verfolgung bewusst auf sich nahm, schließlich doch noch ein Opfer – ganz im Sinne seiner Verfolger.

Niemöller kämpft hier darum, sich und seine Mitgefangenen nicht zu Opfern machen zu lassen. Der Kampf geht dahin, im Widerstand zu bleiben, sich nicht dem Fatalismus zu ergeben, aus dem heraus man dann nur noch die Theodizeefrage wälzen kann. Die Theodizeefrage ist hier ein Kennzeichen von Fatalismus und Viktimisierung. Dem darf man – wenn es irgend möglich ist – nicht nachgeben. Es ist eine Frage des Überlebens. Sobald der Gefangene es nicht mehr schafft, sich als handelndes Subjekt zu verstehen, schwinden seine Kräfte des Standhaltens.

Auch in der Holocaust-Literatur – d.h. selbst mit Blick auf die als Juden Verfolgten, die nicht wegen oppositioneller Aktivitäten, sondern wegen ihrer Abstammung verfolgt und deportiert wurden – spielt die Frage des Subjekt-bleiben-Könnens eine Rolle. So wird man beispielsweise Imre Kertesz’ Roman eines Schicksallosen als einen großen Text des Widerstehens gegen die Annahme einer Opferrolle, eines Schicksals, lesen dürfen: Der jugendliche Ich-Erzähler legt auf jeder Seite des Buchs den größten Wert darauf, kein passives Opfer gewesen zu sein, sondern ein Handelnder, ein mit Anstand Handelnder. Nach seinem Erleben „war es nicht einfach so, daß die Dinge ‚kamen‘, wir sind auch gegangen. [...] Jeder hat seine Schritte gemacht, solange er konnte: auch ich, und das nicht nur in der Kolonne in Birkenau, sondern schon hier zu Hause. [...] Ich und kein anderer hatte meine Schritte gemacht, und ich behaupte, mit Anstand.“ [18]

Dieses Bestehen darauf, auch im KZ seinen Weg „mit Anstand“ gegangen zu sein, ist ein beharrliches, manchmal verzweifeltes Festhalten am eigenen Subjektsein in einer Situation, die darauf abzielt, Menschen zum Opfer zu machen. Es ist Widerstand dort, wo die Möglichkeit, Widerstand zu leisten, kaum mehr erkennbar ist.

Gewiss hatten viele KZ-Häftlinge nicht diese Chance, sich als Handelnde zu verstehen und so den Opferstatus abzuwehren, deshalb darf der Kampf gegen die Viktimisierung nicht zur moralischen Forderung erhoben werden. Wichtig ist es aber zu sehen, dass solche Kämpfe von Gefangenen in den Lagern tatsächlich geführt wurden.

Niemöller führt in Dachau diesen Kampf auch auf dem theologischen Feld: indem er gegen die Vorstellung predigt, es sei sinnvoll, Gott für das „Schicksal“ der eigenen KZ-Haft verantwortlich zu machen und anzuklagen. Denn das wäre die Einwilligung ins Opferdasein. Gott sei nicht anzuklagen, mit Gott sei nicht zu „rechten“ – vielmehr solle Gottes Ruf weiterhin gehört werden: Jener Ruf, der ihn und seine Mitgefangenen bereits in Widerstandsaktivitäten hineingeholt habe, sei auch weiterhin wahrzunehmen. Deshalb gebe es auch im KZ etwas zu tun. Im oben begonnenen Zitat fährt Niemöller fort:


„In Wirklichkeit sind wir ja doch von Gott gerufen zu seinem Dienst, und keiner von uns macht da eine Ausnahme [...] So einsam sind wir in unserer Isoliertheit ja doch nicht, daß wir nicht noch den christlichen Bruder an unserer Seite hätten, an den wir als an unsern Nächsten durch Gottes Gebot gewiesen sind, auf daß wir ihm zur Förderung und nicht etwa zum Hemmnis für seinen Glauben werden sollen; und selbst dann, wenn wir wieder in strenger Einzelhaft wären, Gottes Ruf an uns bliebe in Kraft.“ (DAH 25)


So stellt Niemöller gegen den drohenden Fatalismus den Ruf in die Verantwortung. Gegenüber den verschiedenen Formen der Theodizeefragen, der Verunsicherung, des Haderns mit Gott zeigt er sich ablehnend, weil er um ihre verhängnisvollen Auswirkungen weiß. Es geht ihm dabei aber nicht bloß um eine Überlebensstrategie, sondern auch um ein theologisches Problem.

Das Gefühl der Gottverlassenheit kennt er selbst und äußert es auch. Er spricht vom Schweigen Gottes („Er antwortet kein Wort“, DAH 39) und davon, dass „Gott oft so unendlich ferne zu sein scheint, daß wir meinen, er kümmere sich um unseren Planeten nicht. Es sieht ja auch in der Tat so aus, als hätte er diese Welt sich selbst überlassen, damit die Menschen sie vollends zugrunde richten.“ (DAH 6) Seine theologischen Bedenken dagegen, bei diesen zermürbenden Gedanken allzu lange zu verweilen, dürften etwas zu tun haben mit seinem Abschied vom bürgerlichen Christentum, den er in Dahlem vollzogen hat.

Christentum ist eben in seinen Augen nicht mehr ein „bloßes Ruhekissen“, es ist nicht Kontingenzbewältigung und Hoffnung auf ein noch angenehmeres Leben nach dem Tode. Es ist nicht die Verheißung eines rundum behüteten Lebens, weshalb es auch nicht darum gehen kann, Gott den eigenen Vorstellungen von einem guten Leben dienstbar zu machen. Christentum ist das Antworten auf Gottes Ruf und in der Folge das Verlassen aller bürgerlichen Sicherheiten. Wer sich darauf einlässt, muss auf Schmähungen, Verleumdungen und Verfolgung gefasst sein: auf das Kreuz. In dieser Perspektive erscheint es als widersinnig, Gott wegen unterwegs erfahrener Widrigkeiten anzuklagen. In solcher „Kritik Gottes“ setze man zudem den „eigenen Begriff von Gerechtigkeit gegen die grund- und uferlose Liebe Gottes, von der wir doch allein selber leben können“ (DAH 31). Es gelte deshalb, nicht auf halbem Wege umzukehren und seine Ansprüche einzuklagen, sondern weiter auf dem Weg zu Gott zu bleiben und zu erkennen, dass seine Gnade und Liebe bereits eine Brücke zu uns gebaut haben.


„Die Brücke zwischen Gott und mir stürzt ein, wenn ich mich auflehne, wenn ich Gott für sein Tun oder Lassen zur Rechenschaft zu ziehen versuche und mich so zu seinem Richter mache. Und diese Brücke bleibt unbegangen und darum nutzlos, wenn ich resigniere, wenn ich aus Gottes Schweigen oder Reden ein endgültiges Nein heraushöre, um mich dann dahineinzufinden und mich von ihm zurückzuziehen.“ (DAH 41)


Es ist deutlich, dass Niemöllers Kritik der Theodizeefragen sich aus seiner Perspektive als politischer Häftling ergibt: aus der Ablehnung eines bürgerlichen Christentums und aus dem Widerstand gegen den Fatalismus im KZ. Andere Gefangene, die etwa im Holocaust ihre Angehörigen verloren haben, würden sich von seinen Gedanken womöglich nicht davon abhalten lassen, ihre Klagen und ihre Verzweiflung vor Gott zu bringen. Zudem zeigt auch die alttestamentliche Tradition, die ja eindrucksvolle Gestalten des Protests gegen Gott und der Klage kennt, dass Niemöllers Position hier keineswegs Universalisierbarkeit beanspruchen kann. Sie kann nur sinnvoll gewürdigt werden, wenn sie in ihrem partikularen Kontext gelesen wird, den Niemöller ja immer angibt. Niemöllers Thema sind die Christen, die (wie in Dahlem) zu Mittätern werden können, wenn sie nicht widerstehen; sein Thema sind auch die Gefangenen, die (wie in Dachau) zu Opfern werden können, wenn sie nicht im Widerstand bleiben. Sein Thema sind hier nicht die Opfer: die Überwältigten ohne Handlungsspielraum.

Was Niemöller anstelle von Klagen und Theodizeefragen vorschlägt, bewegt sich nicht auf der Ebene der schlüssigen Argumentation. Eher ist von einem Gegenentwurf zu sprechen. Gegen die Empfindung der Ferne oder des Schweigens Gottes stellt er seinen Mithäftlingen anheim, sich der Botschaft des Weihnachtsevangeliums zu öffnen:


„Du brauchst nicht auf die Suche zu gehen nach Gott; du darfst nicht meinen, er sei dir fern und kümmere sich nicht um das, was dich drückt! – Er ist da und ist dir nahe in dem Manne, der als ein Kind in Windeln gewickelt in der Krippe lag. [...] er wird endlich der Mann der Schmerzen, der von seinem eigenen Jünger verraten, von keinem seiner Freunde verstanden und selbst von Gottes Hand im Stich gelassen, sein irdisches Leben am Kreuz beschließt, und das heißt am Galgen: ‚Sehet, welch ein Mensch!‘ [...] Aber Gott hat seine eigene Überschrift über dieses Leben gesetzt; er läßt uns von diesem Kinde sagen: ‚Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr!‘“ (DAH 9f)


„Du brauchst nicht auf die Suche zu gehen nach Gott ...“ – so hört Niemöller die Weihnachtsbotschaft und lässt sich selbst davon ansprechen. Ein solcher Satz verträgt kein „Ihr“ und kein „Liebe Freunde“ – er ist ein Zeugnis der eigenen Auseinandersetzung. Man liest leicht über solche Sätze hinweg, so gängig fromm klingen sie zunächst. Aber hier spricht ein KZ-Häftling im achten Jahr seiner Gefangenschaft, einer, der in der Haft selbst Zeiten der Verzweiflung kennengelernt hat[19], einer, der eben noch von der Gottesferne in der Isolation der Einzelhaft gesprochen hat. Und wie er nun das Weihnachtsevangelium entfaltet, korrespondiert jedes Detail mit dieser Situation: Jesus ist – ähnlich wie die Gefangenen in Dachau – der Verratene, Unverstandene, von Gott Verlassene, vom Tode bedrohte und schließlich Ermordete. Jesus ist der Andere und doch nahe.

Dass das schutzlose Kind und der am Kreuz zu Tode Gefolterte nun der „Heiland“, der Retter der Welt sein soll, entbehrt jeder Plausibilität – aber in der fehlenden Plausibilität liegt auch der springende Punkt. Niemöller weiß, dass das nicht argumentativ entwickelt werden kann, und er weiß, dass man um eine solche Sicht der Dinge ringen muss, nach ihr greifen muss – sie legt sich nicht nahe. Sie ist das Gegenteil aller Plausibilitäten dieser Welt, aller Herrschaft durch Gewalt. Sich dieser Sicht zu öffnen ist ein Akt des Widerstands gegen die Mächte dieser Welt. Es ist ein aktives Erfassen, nicht ein bloß zustimmendes Nicken zu etwas Einleuchtendem, zu dem Niemöller ermuntern möchte, ein Akt des Widerstehens, der einen davor bewahren kann, zum Opfer zu werden: „Wer das im Glauben fassen kann, der ist auch im Gefängnis und im Sterben nicht verlassen ...“ (DAH 9). Glaube ist demnach auch etwas anderes als die gehorsame Zustimmung zu den von der Tradition vorgelegten Sätzen; „es bleibt in allen Fällen etwas besonderes um diese Erkenntnis; sie kommt nicht wie ein Naturereignis und zwingt sich den Menschen auf, ob sie wollen oder nicht, sondern sie kommt als eine Frage, die eine persönliche Antwort von jedem Einzelnen will“ (DAH 19).

Niemöller rät also nicht zu einem Ausweichen in die Innerlichkeit oder in den Mythos, sondern zum geistigen und spirituellen Widerstehen. Konsequenterweise führt das dann auch dazu, selbst noch im Gefängnis sich anderswo beheimaten zu können: am Abendmahlstisch der Kirche Christi, wie Niemöller am Gründonnerstag, dem 29. März 1944, ausführt:


„Zu dieser großen Gemeinde derer, die den Tod ihres Herrn als frohe Botschaft verkündigen, gehören am heutigen Abend auch wir, die wir hier zu seinem Tische kommen: eine kleine Schar, ein jeder von uns herausgerissen aus seiner irdischen Heimat und dem Kreis der Seinen, wir alle der Freiheit beraubt und im Ungewissen über das, was uns der nächste Tag oder gar die nächste Stunde bringt; und trotz alledem: wir sind daheim! Wir essen und trinken am Tisch unseres himmlischen Vaters und dürfen getrost sein: es gibt nichts mehr, was uns von ihm losreißen und trennen könnte [...]“ (DAH 51)


Die Predigten 1945 und 1946

Als Niemöller nach der Befreiung[20] im Sommer 1945 zu seiner Familie und im Herbst besuchsweise nach Dahlem zurückkehrte, überkam ihn selbst das Hadern mit Gott. Er hatte eine Tochter und einen Sohn verloren, ein zweiter Sohn war in Kriegsgefangenschaft, und in den Trümmern von Dahlem waren viele frühere Freunde nicht mehr anzutreffen. 1946 spricht er darüber in einer Predigt:


„Als sich mir das auf die Seele legte, da habe ich gehört und gespürt, wie mein Herz seufzte, wie es murrte: Mein Gott, war es noch nicht des Leidens und der Prüfung genug? [...] Mußte das auch noch sein, daß die Stunde der Rückkehr in meine irdische Heimat mir die Augen dafür auftun mußte, daß ich eine irdische Heimat nicht mehr habe? [...] Als ich sah, wie ich mein liebes deutsches Volk wiederfand, mein Volk, an dem ich gehangen habe und noch hänge mit jeder Faser meines Herzens, dies Volk, das nicht nur in der Tiefe der Not und im Abgrund des Elends saß, sondern das obendrein bedeckt ist mit Schmach und Schande vor aller Welt, da hat mein Herz wiederum geseufzt und gemurrt und hat geschrien zu Gott.“ [21]


Aus diesen Eindrücken entwickelt sich in den Predigten, Vorträgen und Reden, die Niemöller seit Sommer 1945 an vielen Orten hält[22], nach und nach seine theologische Position weiter. Sein „Murren“ schlägt dabei weiterhin nicht in ein Verzweifeln an Gott und seiner Gerechtigkeit um, sondern rückt bald die Begriffe Sünde, Schuld und Vergebung ins Zentrum der Überlegungen.

In seinen Predigten versucht Niemöller, die Sache seinen Zuhörern und Zuhörerinnen so annehmbar wie nur möglich zu machen, kommt ihnen mit antijüdischen Klischees (von den „vielen Opfern und Sühnevorschriften des mosaischen Gesetzes“, GvH 8) entgegen, um ihnen den Gedanken von der christlichen Vergebung nahezubringen. Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass ohne Anerkenntnis der eigenen Schuld auch in christlicher Sicht nicht von Vergebung geredet werden kann. Davon rückt er nirgends ab, damit macht er sich vielerorts unbeliebt und erntet Proteste. [23] Er wird als Eiferer und Fanatiker geschmäht und hält doch unbeirrt an seiner Position fest – und steht damit in der deutschen Nachkriegslandschaft ziemlich einsam da.

Niemöllers Argumentation ist jedoch keine schlichte Moralpredigt; sie ist komplexer, als es zunächst den Anschein hat. Er situiert die Verantwortung des Einzelnen in einem differenzierten Geflecht von Opfern, Tätern, Mitläufern und Zuschauern und achtet immer darauf, die Kategorien nicht zu vermischen. Er hat nun wieder zumeist Christen und Christinnen in evangelischen Kirchengemeinden vor sich und knüpft theologisch an Überlegungen an, die ihm im Frühjahr 1937 in Dahlem wichtig geworden sind: Fragen an die persönliche Verantwortung in einer sich zunehmend gewaltförmig ausrichtenden Gesellschaft, Fragen nach Werten wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit, nicht mehr allein nach tapferer Verkündigung des „Evangeliums an sich“.

Nach der Rückkehr aus dem Konzentrationslager aber ist seine Perspektive umfassender und radikaler: Die Solidarität allein unter Christen genügt ihm nicht mehr. Er bezieht sich auf die Lage seiner Zuhörer, aber seine Gedanken gehen dann weit darüber hinaus.

So spricht er zunächst davon, „daß wir Menschen so heimatlos geworden sind“ (GvH 35); selbst diejenigen, die ihr Haus und ihre Heimat nicht verloren haben, „haben Teil an der allgemeinen Heimatlosigkeit, denn wir sind wurzellos geworden. Zwischen heute und einst klafft ein Abgrund, und keine Brücke führt mehr hinüber. Unsere Wünsche sind in Nichts zerronnen, unsere Hoffnungen liegen in Scherben, unser Glaube ...“ (GvH 36); „nun stehen wir vor Trümmerhaufen, wie sie die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat“ (GvH 44), „in Schande und Schmach, in Jammer und Elend“ (GvH 45).

Wer bereit ist, dies zu sehen, ist bereits einen Schritt weiter als jene, die so tun, „als ob sich gar nichts ereignet hätte und als ob es nur darum eben ginge, das Zusammengestürzte wieder aufzubauen, so, wie es zuvor gewesen ist“ (GvH 20f). Um aber aus dieser Einsicht heraus nicht in den eigenen Leiden hängen zu bleiben oder sich vornehmlich als Opfer der Geschichte zu betrachten, richtet Niemöller den Blick auf den weiteren Horizont:


„Wir denken an das Leid um uns her, das grauenhaft ist, und wissen zugleich: Es ist ja nur ein winziger Ausschnitt des gesamten Leides, in dem Menschen heute versinken zu Hunderttausenden und Millionen, in dem Menschen gestern versunken sind zu Millionen und Abermillionen.“ (GvH 39)


Nur von hier aus, d.h. in Anbetracht der Leiden der Menschen in ganz Europa und darüber hinaus, ist es auch legitim, an die Leiden der verfolgten Christen zu denken. Das geschieht nicht mit der Absicht, einen christlichen Opfermythos zu installieren, sondern um den Nichtverfolgten das Grauen der NS-Verfolgung deutlich vor Augen zu führen – und nicht ohne den Hinweis, dass gewiss nicht alle Christen solche Erfahrungen machen mussten:


„Christenbrüder und -schwestern wanderten zu Hunderten ins Gefängnis, nur weil sie Christen waren, Christenmenschen wurden hingerichtet und umgebracht, nur weil sie sich zu ihrem Herrn bekannten. – Ja, [...] wahrhaftig, man hat grausig Theater mit uns gespielt bis hin zu jenem katholischen Priester, dem die SS-Soldateska eine Dornenkrone aufs Haupt drückte und ihn dann niederknien und beten hieß. –

Wir haben diese Schmach und Trübsal nicht alle in der gleichen Weise zu schmecken und zu tragen bekommen; es hat auch in diesem Leidensabschnitt ruhigere Abschnitte gegeben; aber mit daran getragen haben wir alle, offen oder insgeheim.“ (GvH 17f)


Von seinen eigenen Erlebnissen in der Haft erzählte Niemöller nie. [24] Es war ihm wichtig, sich nicht als NS-Opfer oder gar als Held des Widerstands darzustellen, sondern gerade seine Versäumnisse und seine eigene Schuld zu thematisieren. Immer wieder berichtete er von einem Besuch im ehemaligen KZ Dachau einige Monate nach der Befreiung:


„Ich stand mit meiner Frau vor dem Krematorium in Dachau, und an einem Baum vor diesem Gebäude hing ein weißgestrichenes Kistenbrett mit einer schwarzen Inschrift. Diese Inschrift war ein letzter Gruß der Dachauer Häftlinge, die in Dachau zurückgeblieben sind und am Ende dort von den Amerikanern angetroffen und später befreit wurden. Es war ein letzter Gruß dieser Menschen für ihre ihnen im Tod vorangegangenen Kameraden und Brüder, und dort stand zu lesen: ‚Hier wurden in den Jahren 1933–1945 238 756 Menschen verbrannt.‘ [25] [...] Was mich in diesem Augenblick in einen kalten Fieberschauer jagte, das [...] waren die anderen zwei Zahlen: ‚1933–1945‘, die da standen. Und ich faßte nach meinem Alibi und wußte, die zwei Zahlen, das ist der Steckbrief des lebendigen Gottes gegen Pastor Niemöller.

Mein Alibi reichte vom 1. Juli 1937 bis zur Mitte 1945. Da stand: ‚1933–1945‘. Adam, wo bist du, Mensch, wo bist du gewesen? Ja, ich weiß, Mitte 1937 bis zum Ende hast du dein Alibi. Hier, du wirst gefragt: ‚Wo warst du 1933 bis zum 1. Juli 1937?‘ Und ich konnte dieser Frage nicht mehr ausweichen. 1933 war ich ein freier Mann. 1933 – in dem Augenblick, dort im Krematoriumshof fiel es mir ein –, ja 1933, richtig: Hermann Göring rühmte sich öffentlich, daß die kommunistische Gefahr beseitigt ist. Denn alle Kommunisten, die noch nicht um ihrer Verbrechen willen hinter Schloß und Riegel sitzen, sitzen nun hinter dem Stacheldraht der neu gegründeten Konzentrationslager. Adam, wo bist du? Mensch, Martin Niemöller, wo bist du damals gewesen? so fragte Gott aus diesen beiden Zahlen. [... D]aß diese Menschen, die ohne Gesetz, ohne Anklage, ohne Untersuchung, ohne Urteil, ohne vollstreckbares Urteil, einfach ihrem Beruf, ihrer Familie, ihrem Leben weggenommen, der Freiheit beraubt wurden, daß diese Menschen eine Frage Gottes an mich waren, auf die ich im Angesicht Gottes damals hätte antworten müssen, daran hab ich nicht gedacht. Ich war damals kein freier Mensch. Ich hatte mich damals bereits meiner wahren Verantwortung begeben.“ [26] (WiF 18f)


Dieses persönliche Schuldbekenntnis ist nicht bloß eine rhetorische Ermunterung der Zuhörer, nun auch die eigene Schuld zu bekennen. Es ist aufrichtig. Erkennbar ist Niemöllers ernste Auseinandersetzung insbesondere mit seiner ursprünglichen Gleichgültigkeit gegenüber den verfolgten Kommunisten, die er im KZ dann als seine „kommunistischen Brüder“ (WiF 20) kennen- und respektieren lernte. In ähnlicher Weise sprach er nach der Befreiung auch den einzigen Überlebenden einer jüdischen Familie als Bruder an (WiF 27). Insofern verbirgt sich in dieser Episode die Erfahrung, dass wahre Verantwortung sich keineswegs auf die verfolgten Mitchristen beschränken dürfe. Sie muss jedem Menschen gelten, „der als Mensch meinen Weg, meinen Menschenweg kreuzt“ (WiF 8).

Des Weiteren wird hier aus Niemöllers Nachdenken über sein fehlendes Alibi deutlich, was er jetzt unter Schuld versteht: nämlich ein persönliches Versäumnis oder Versagen, wo die konkrete Möglichkeit bestand, anders zu handeln (und keine „Tragik“, der letztlich niemand entgehen kann). Vorstellungen von einer „Kollektivschuld“ erscheinen ihm anthropologisch und theologisch unsinnig. [27] Schuldig wird man demnach nicht aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Nation, sondern allein aufgrund eigenen Tuns oder Lassens dort, wo das Gewissen etwas anderes verlangt hätte.

Von seinen Zuhörern und Zuhörerinnen erwartet Niemöller deshalb nicht, sich unter dem Mantel einer „deutschen Schuld“ zu versammeln; er will vielmehr zu einer echten Gewissenserforschung ermuntern, die den Einzelnen hilft zu erkennen, wo sie etwas hätten tun können, aber ihrer Verantwortung nicht nachgekommen sind. Es ist der Weg der Konkretion, den er vorschlägt – jenseits von Kollektivschuld einerseits und Opferpose andererseits. Nur jenseits von Pauschalisierungen lasse sich auch wieder Verantwortungsübernahme lernen. Deshalb führt er in seinen Predigten Täter, Mitläufer und Zuschauer vor Augen. Und auch in diesem Zusammenhang spricht er wiederum von seiner eigenen Schuld:


„Menschen unserer Tage, Menschen, die mit uns eine Sprache sprechen, Menschen, die neben uns lebten, sind zu wahren Unmenschen geworden, haben alles, was uns und unseren Vorfahren seit Jahrhunderten heilig war, außer Geltung gesetzt, haben ohne Scheu gestohlen, geschändet, gemordet, gelogen, noch und noch, und haben dabei die Stirne gehabt, große Reden zu halten: ‚Wir bauen eine neue, bessere Welt!‘ – Sünde? – Jawohl: Sünde über Sünde. Welches Gebot wurde nicht wissentlich und willentlich außer Kraft gesetzt, wo trat nicht der menschliche Götze an die Stelle des lebendigen und heiligen Gottes? – Und wir? Nun, was sollten wir tun: Wir haben geschwiegen und uns geduckt, in der Hoffnung, der Sturm möchte vorübergehen. Wir haben so getan, als gehörten wir auch zu ihnen, damit sie wenigstens uns verschonten. Wir haben unser Gewissen mit dem Gedanken beruhigt, vielleicht wäre an diesem Neuen doch noch etwas Gutes. – Sünde? Jawohl: Sünde über Sünde.“ (GvH 6f)


Sünde über Sünde: So muss das Geschehene benannt und theologisch qualifiziert werden, niemals pauschal, immer konkret. Dabei ist es wichtig, Sünde nicht mehr als bloß individuelle Verfehlung im bürgerlich-privaten Rahmen zu sehen, sondern als ein Verhalten, das politische und gesellschaftliche Auswirkungen hat und das Leben anderer Menschen beeinträchtigt oder zerstört. Dies gilt für ideologische Täter, die die Welt verändern wollten, ebenso wie für diejenigen, die geschwiegen haben und sich aus Furcht dem Gang der Dinge angepasst hatten.

Den Einwand, man habe nicht aus Bosheit, sondern aus Furcht vor Sanktionen nicht entschiedener gehandelt, lässt Niemöller nicht als Entschuldigung gelten. Furcht ist für Niemöller, der ja die Repressionsmacht des NS-Staates am eigenen Leibe erlebt hat, eine Sünde, die den Menschen quasi götzendienerisch an Gottes Stelle setzt. Er macht es deutlich, wenn er bekennt: „Wir haben uns vor Menschen mehr gefürchtet als vor Gott.“ (GvH 7)

Auch andere Einwände gegen die Anerkennung von Schuld spricht Niemöller an. Ein zentraler Punkt ist für ihn – wiederum – die Vorstellung, dass Gott als Herrscher der Welt für Krieg und Völkermord verantwortlich sei. Das aber sei keine rechte Theologie, sondern eine Einflüsterung des Teufels. Diesen lässt er folgendermaßen sprechen:


„Wenn es einen Gott überhaupt gibt, dann ist er sicher nicht der Gott der Liebe, von dem ihr träumt; denn wie soll es sich vertragen, daß ihr von einem Unglück immer nur ins andere stürzt, daß er ein Völkermorden nach dem andern über euch bringt!“ (GvH 27)


Wer also Gott für Völkermorde und Krieg anklagt, tut dies in Niemöllers Augen zum Zweck der Abwehr der Schulderkenntnis. Für Niemöller ist klar, dass hier nicht Gott, sondern die Menschen anzuklagen sind, unter ihnen nicht zuletzt die Christen, die theologisch sich allzu leicht auf die Rechtfertigung von Kriegen verstanden hätten:


„Nein, Gott will den Krieg nicht. Sein Gebot steht eindeutig und klar vor uns, die wir sein Wort kennen, und es heißt: Du sollst nicht töten, und es heißt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd, Vieh, noch alles, was dein Nächster hat! [...] Wer Gott hier verantwortlich machen will, der kennt Gottes Wort nicht, oder will es nicht kennen. Freilich, das ist eine andere Frage, ob nicht wir Christen ein gut Teil Schuld an den ewigen Kriegen tragen? Und von dieser Frage kommen wir so leicht nicht los; man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß bis in unsere Tage hinein die Kirchen selten ein Wort gefunden haben, um deutlich zu sagen, daß Kriege kein erlaubtes und von Gott gebilligtes Mittel sind, um noch so gute und berechtigte Ziele zu erreichen; man kann mit gleichem Recht daran erinnern, daß sich christliche Kirchen Jahrhunderte hindurch immer aufs neue dazu hergegeben haben, Kriege, Truppen und Waffen zu segnen und daß sie in ganz unchristlicher Weise für die Vernichtung der Kriegsgegner gebetet haben. Alles das ist unsere Schuld und die Schuld unserer Väter; aber gewiß nicht Gottes Schuld.“ (GvH 27)


Was Menschen angerichtet haben, darf nicht zu Gottes Schuld erklärt werden. Das liefe auf eine Zerstörung der Ethik und auf ein Verharren des Menschen in der Unmündigkeit hinaus. Ebenso wenig macht – auch das eine beliebte Figur der Schuldabwehr – der Hinweis darauf, dass andere auch Verbrechen begangen hätten, aus der eigenen Schuld keine Unschuld:


„[W]as nützt es uns, daß oder ob andere auch schuldig geworden sind? Davon wird der Berg von Sünde und Schuld, der uns belastet und erdrückt, ja nicht geringer und leichter; wir müssen dennoch darunter ersticken, denn wie sollen wir ihn los werden? Allein die 51/2 Millionen gemordeter Juden?“ (GvH 53f)


An dieser Bemerkung lässt sich auch erkennen, dass Niemöller keineswegs durch die Lande zog, um andere schuldig zu sprechen. Er sah, daß die Menschen unter dem Berg der angehäuften Schuld ersticken müssten, und deshalb trat er auf als einer, der einen Ausweg kannte: das ehrliche Bekenntnis konkreter Schuld und die Umkehr. Deshalb war es notwendig, die Ausflüchte und Abwehrargumentationen der Reihe nach zu destruieren: Verharrte man in der Abwehr, war der geistige Erstickungstod gewiss.

Das gilt auch für jenes Argument, das mit wachsendem zeitlichem Abstand von der NS-Zeit an Glaubwürdigkeit gewinnt: dass man nichts mitbekommen habe von den Verbrechen. Zu Anfang des Jahres 1946 war das Bewusstsein vom öffentlichen Charakter der Judenverfolgung noch nicht verwischt, und Niemöller kann die Ausrede mit einer knappen Bemerkung parieren:


„Nach einer Planke können wir allenfalls noch greifen; ich kann sagen: Ich war unschuldig an dem allen; doch ich glaube das ja selber nicht, habe ich doch die Synagogen mit meinen eigenen Augen brennen sehen; ich wollte nur nichts sehen und nichts wissen; ich wollte auf mein Gewissen nicht hören und habe es selber zum Verstummen gebracht.“ (GvH 54)


Anstatt auf Ausflüchten zu beharren, die man schon selber nicht glaube, meint Niemöller, könne man sich doch sein Versagen und seine Schuld eingestehen, und dies umso leichter, als für die offene Anerkenntnis die Zusage von Gottes Vergebung gelte. Niemöller spricht ganz offenkundig deshalb so freimütig von Schuld, weil er tief von Gottes Vergebungswillen überzeugt ist. Und das offene Sprechen davon, das klare Ansichtigwerden des eigenen schlechten Gewissens ist für ihn als Schritt notwendig, damit Gott seinen Vergebungswillen zum Zuge kommen lassen könne. Das Leugnen von Schuld verhindert Vergebung, Gott aber warte auf unsere Schulderkenntnis.


„Und wenn wir mit schlechtem Gewissen an die Vergangenheit zurückdenken, weil wir uns gedrückt haben vor dem klaren Bekenntnis und dem offenen Widerspruch gegen den Teufel und sein Werk in unserer Mitte, weil wir nicht wirklich mitgelitten haben mit den Brüdern, die unter die Mörder fielen, weil wir das Leiden scheuten, weil wir mit Gott gehadert haben, daß er es uns so schwer machte: Gott hat uns trotzdem nicht verworfen; Gott will uns immer noch unsere Schulden vergeben, die nun so lange schon auf uns lasten. [...] Ja wir sprechen ohne Rücksicht auf die Menschen und ihr Urteil von unserer Schuld und freuen uns seiner Vergebung und bitten ihn, daß er uns durch seinen heiligen Geist erneuern wolle, daß wir alle Menschenfurcht dahintenlassen und uns ganz ihm zu eigen geben.“ (GvH 19)


Dies aber darf nicht verwechselt werden mit der Vorstellung, dass Gott nach Art einer ödipalen Vaterfigur von den Menschen Unterwerfung fordere, damit die Welt wieder gemäß seinen Richtlinien weiterlaufen könne:


„[...] eben diesen Weg geht Gott nicht: es geht ihm nicht darum, daß die Welt richtig funktioniert und die Menschen sich, wenn auch widerwillig, seinem Machtwort fügen; es geht ihm darum, daß wir Menschen innerlichst zurechtkommen und dann uns selber daranmachen, unser Leben miteinander in dieser Welt in Ordnung zu bringen. Gott will andere Menschen haben, und damit faßt er das Übel an der Wurzel an.“ (GvH 29)


Die Menschen sollen sich ändern, sollen ihr Leben in Ordnung bringen: Niemöllers Verständnis von Vergebung und Umkehr ist damit inzwischen etwas Umfassenderes als die „Rechtfertigung“ des Sünders, der aus seiner Tragik der sündigen Existenz niemals herauskann. Es ist mehr als die Vorstellung, dass Gottes Vergebung einfach alles auslösche, was gewesen ist, und sodann ein unbeschwertes Fortfahren ermögliche. Niemöller deutet Vergebung theologisch als einen umfassenderen Transformationsprozess: als eine Erfahrung von Gottes Liebe, „die alle Welt zur Umkehr und zum Glauben ruft“ (GvH 33), und als eine Entdeckung des Werts der Gerechtigkeit als Grundlage für ein besseres Zusammenleben aller Menschen:


„Es kann keinen dauerhaften Frieden und kein echtes Verstehen unter uns Menschen geben ohne Gerechtigkeit; es geht nicht anders, wenn wir zueinander finden wollen, als daß das Unrecht, das sich zwischen uns schiebt, aufgedeckt wird.“ (GvH 30)


Deshalb ist die Vergebung Gottes kein Schlusspunkt unter ein böses Kapitel der Vergangenheit, sondern ein Doppelpunkt, der überhaupt erst den Weg freimacht zur Aufarbeitung des Geschehenen und zu einer Beseitigung des vorgefallenen Unrechts.


Fazit

Martin Niemöller hat seine Theologie, die in seinen Predigten zu Tage tritt, als präzise Antwort auf die jeweiligen Problemstellungen in seinen Gemeinden formuliert, Schritt für Schritt weiterentwickelt und radikalisiert. Was Leonore Siegele-Wenschkewitz über Martin Niemöller als Person sagte, nämlich dass er „in ungewöhnlicher Weise fähig und bereit war, sich mit einmal erworbenen Ansichten und Überzeugungen kritisch auseinanderzusetzen, wenn sie ihm für die Wahrnehmung und Bearbeitung von Wirklichkeit nicht mehr stimmig erschienen“ [28], gilt ebenso für seine Theologie. Aus der ihm überkommenen bürgerlichen Theologie der individuellen Heilsvergewisserung wurde nach und nach eine Art europäischer Befreiungstheologie[29], die die Botschaft des Evangeliums immer konsequenter als Handlungsperspektive in den Konflikten mit dem NS-Regime und den nachfolgenden Schuldverleugnungsstrategien zu sehen verstand.

Drei Elemente von Niemöllers Theologie haben sich im Laufe der Jahre entscheidend verändert:

1. Aus dem privatistischen Verständnis einer menschlich-tragischen „Schuldverhangenheit“ entwickelte sich schrittweise ein politisch-gesellschaftliches Verständnis von Verantwortung und Schuld.

2. Die Verkündigung des Heilands des Evangeliums wurde erweitert zu einem Eintreten für die Werte der Solidarität und Gerechtigkeit, wie sie dieser Heiland verkörpert.

3. Aus der anfänglichen Verantwortung gegenüber den „Christenbrüdern“ wurde langsam, aber immer klarer eine Verantwortung für alle Menschen, die den eigenen Weg kreuzen.

Ihr Kraftzentrum hat diese Theologie in der differenzierten Reflexion über die eigene gesellschaftliche Position: Sie weiß im Geflecht von Tätern und Opfern, Mitläufern und Zuschauern, aus welcher Perspektive sie spricht und zu wem sie spricht. Deshalb es ist eine Theologie, die das Subjektsein und die Verantwortung der Menschen auch angesichts der Übermacht der NS-Täter nie aus den Augen verloren hat. Deshalb ist es eine Theologie, die auch in ausweglosen Situationen noch einen Ruf zur Widerständigkeit wahrnehmen konnte. Und deshalb kam sie auch nie in Versuchung, die Schuld an den katastrophalen zwischenmenschlichen Verhältnissen Gott anzulasten.

Der in der deutschen Nachkriegstheologie gängigen Frage „Wie konnte Gott das zulassen?“ [30] setzte Niemöller unbeirrt sein entschiedenes Festhalten an Gott entgegen. Er sah in der Vorstellung von Gottes Gegenwart – auch in der Verfolgung, auch im Konzentrationslager! – keinen billigen Trost, sondern den unbedingten Ruf zur Verantwortung vor Gottes Angesicht. Nicht was Gott zulässt, sondern was Christen zugelassen haben, was sie ignoriert und was sie unterstützt haben, ist dabei wesentlich.

Gerade in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskursen über die NS-Zeit, in denen die menschliche Verantwortung und die realen Handlungsmöglichkeiten trivialisiert werden zugunsten einer pauschalen Ohnmachtsvermutung, könnte von Niemöllers Theologie aus – beglaubigt von seinem persönlichen Einsatz – der Weg zu einer allgemeinen Opfermythologie verstellt werden. Dabei könnte sich herausstellen, dass dort, wo Menschen lernen, für ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen, anstatt sie an einen abwesenden, verborgenen oder vermissten Gott zu delegieren, auch die Nähe Gottes wieder neu erfahren werden kann: als befreiende Liebe und Gnade, die zugleich Herausforderung und Inpflichtnahme ist, als befreiende Kraft, die mit den Widerständigen ist.


[1] Gewidmet ist dieser Aufsatz Jon Sobrino, der mich ermutigt hat, den widerständigen Potentialen innerhalb der deutschen Theologie nachzugehen. Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Michael Hüttenhoff und Dr. Peter Noss, deren kritische Kommentare mich zu manchen Präzisierungen veranlasst haben.
[2] Zit. nach Karl Barth, Barmen, in: Joachim Beckmann/Herbert Mochalski (Hg.), Bekennende Kirche. Martin Niemöller zum 60. Geburtstag, München 1952, 9–17, hier: 9
[3] Leonore Siegele-Wenschkewitz, Auseinandersetzungen mit einem Stereotyp. Die Judenfrage im Leben Martin Niemöllers, in: dies. (Hg.), Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus. Theologische und kirchliche Programme Deutscher Christen (Arnoldshainer Texte, Bd. 85), Frankfurt am Main 1994, 261–291, hier: 264. Zu Niemöllers Antijudaismus vgl. auch Martin Stöhr, „…habe ich geschwiegen“. Zur Frage eines Antisemitismus bei Martin Niemöller, Martin-Niemöller-Stiftung, 19. 1. 2007, unter: http://www.martin-niemöller-stiftung.de/4/zumnachlesen/ a100.
[4] Martin Niemöller, Vom U-Boot zur Kanzel, Berlin 1934.
[5] Vgl. hierzu Krondorfer, Björn: Abschied von (familien-)biographischer Unschuld im Land der Täter. Zur Positionierung theologischer Diskurse nach der Shoah, in: Katharina v. Kellenbach u.a. (Hg.), Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoah, Darmstadt 2001, S. 11–28, bes. S. 15f.
[6] Zu Recht bezeichnet Conway, John S.: The Political Theology of Martin Niemöller, in: German Studies Review 9, Heft 3, 1986, S. 529–546, diese Arbeitsweise als „politische Theologie“ (im Sinne der neueren Diskussionen seit den 1970er Jahren, nicht im Sinne Carl Schmitts). Conway beschränkt sich allerdings weitgehend darauf, Niemöllers politisch-theologische Positionen im Kontrast zu seinen deutschnationalen Anfängen aufzuzeigen; von den damit zusammenhängenden Denkwegen ist wenig zu erfahren.
[7] Schmidt, Jürgen: Martin Niemöller im Kirchenkampf, Hamburg 1971, S. 455, Anm. 136.
[8] Siehe hierzu etwa J. Schmidt, Niemöller im Kirchenkampf; Schmidt, Dietmar: Martin Niemöller. Eine Biographie, Neuausg. Stuttgart 1983; Schreiber, Matthias: Martin Niemöller, Reinbek, 2. Aufl. 2008; Siegele-Wenschkewitz, Auseinandersetzungen.
[9] Niemöller, Vom U-Boot, S. 57f.
[10] Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München, 17. Aufl. 2006, S. 65.
[11] Niemöller, Martin: Herr ist Jesus Christus. Die letzten achtundzwanzig Predigten, gehalten in den Jahren 1936 und 1937 in Berlin-Dahlem, Gütersloh 1946 (im Text abgekürzt HJC mit Seitenzahl).
[12] 1935 erließ Hans Kerrl, der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, die „5. Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung der deutschen evangelischen Kirche“, wonach sämtliche Kirchenleitungsbefugnisse allein von den neugebildeten Kirchenausschüssen auszuüben seien. Sowohl die Deutschen Christen als auch die Bekennende Kirche wurden zur Mitarbeit aufgefordert. In der Bekennenden Kirche (BK) konnte man sich über den Umgang mit den Kirchenausschüssen nicht einigen. Niemöller und andere verweigerten jede Zusammenarbeit mit den Kirchenausschüssen und erkannten allein die in der Synode von Dahlem vom 19./20. Oktober 1934 eingesetzten Bruderräte als Leitungsgremien an, die seit Kerrls Verbot vom 20. Dezember 1935 als  „illegal“ galten. Die Spannungen traten insbesondere auf der 4. Bekenntnissynode 17.–22. Februar 1936 in Bad Oeynhausen zu Tage. Die Bekennende Kirche zerbrach in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel, der sich konsequent an den Beschlüssen von Dahlem orientierte und daher der „dahlemitische“ Flügel genannt wird. Dieser unterstützte nach der Synodaltagung die Bildung einer „Vorläufigen Kirchenleitung II“. Hingegen trat der „bischöfliche Flügel der BK“ gemeinsam mit den Bischöfen der „intakten“ Landeskirchen (Bayern, Hannover, Württemberg) dieser „Vorläufigen Kirchenleitung II“ nicht bei, sondern strebte eine Verständigung mit den Kirchenausschüssen an. Vgl. Mehlhausen, Joachim: Art. Nationalsozialismus und Kirchen, in: TRE, Bd. 24 (hg. G. Müller), Berlin 1994, S. 43–78, hier: S. 60f.; siehe auch Niemöller, Wilhelm: Die vierte Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche zu Bad Oeynhausen, Göttingen 1960.
[13] Vgl. im Kontrast dazu die Haltung in vielen innerfamiliären Nachkriegsdiskursen, wonach die Nazis immer „die anderen“ waren: Welzer, Harald u.a.,: „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main, 2. Aufl. 2002, S. 150ff.
[14] Gewiss kann man hier den gewachsenen Einfluss Karl Barths auf Niemöller heraushören, doch der Blick auf Barth lässt möglicherweise etwas Interessanteres übersehen: die Tatsache, dass Niemöller gerade in einer Situation der zunehmenden Bedrohung diesen theologischen Paradigmenwechsel vollzieht – als Antwort auf diese Situation. – Bemerkenswert ist hier des Weiteren, dass es im Jahr 1937 geschieht, dass der Nationalsozialismus ganz grundsätzlich und öffentlich als Feind bezeichnet wird. Die Mehrheit der Deutschen entdeckte ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus bekanntlich erst, als die Hoffnungen auf einen Sieg im Krieg sich verflüchtigten.
[15] Unter dem Begriff des Bürgerlichen wird hier jene Haltung verstanden, die die eigene Lebenssituation als repräsentativ für die allgemein-menschliche Situation annimmt und sich darum nicht genötigt sieht, andere Perspektiven ins Denken mit einzubeziehen. Historisch und etymologisch waren Bürger diejenigen, die sich im Schutze der Burg der Herrscher ansiedelten, um ihren Geschäften nachgehen zu können. Weiter ab vom Zentrum der Macht lebten die Leibeigenen, Bauern und Tagelöhner. Bürgerliches Denken, bürgerliche Religion sieht von deren Lage ab und verabsolutiert die der Bürger (im Sinne der bourgeois, nicht der cityoens). Zur theologischen Diskussion darüber vgl. Eicher, Peter: Bürgerliche Religion. Eine theologische Kritik, München 1990; Metz, Johann Baptist: Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, München/Mainz 1980. Vgl. auch die Präzisierung in meinem Portrait von Johann Baptist Metz: Reck, Norbert: Johann Baptist Metz (geb. 1928). Die neue Politische Theologie, in: Hubert Brosseder (Hg.), Denker im Glauben. Theologische Wegbereiter für das 21. Jahrhundert, München 2001, S. 86–96,hier: S. 92f.
Davon zu unterscheiden ist Niemöllers anti-bürgerliche Polemik in den frühen Dahlemer Predigten (vgl. etwa Niemöller, Martin: ... daß wir an Ihm bleiben! Sechzehn Dahlemer Predigten, Berlin 1935, S. 57–59; ders.: Alles und in allen Christus. Fünfzehn Dahlemer Predigten, Berlin 1935, S. 65-67); sie bezieht sich nicht auf die Absolutsetzung der bürgerlichen Lebenssituation, sondern auf die Privatisierung und kulturelle Funktionalisierung des religiösen Lebens. Niemöllers Absetzung vom Bürgerlichen im Sinne der kritischen Kategorie Eichers und Metz’ lässt sich erst an seiner Thematisierung der eigenen Erkenntnisfortschritte im Mai  1937 festmachen.
[16] Für eine knappe Darstellung der Details siehe z.B. Schreiber, Niemöller, S. 78ff.
[17] Niemöller, Martin: „... zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn!“ Sechs Dachauer Predigten, München 1946 (im Text abgekürzt DAH mit Seitenzahl).
[18] Kertesz, Imre: Roman eines Schicksallosen, Reinbek, 4. Aufl. 2001, S. 282–284.
[19] Vgl. Schreiber, Niemöller, 85ff.
[20] Zu den Umständen der Befreiung siehe z.B. Schreiber, Niemöller, 92f.
[21] Oeffler, Hans Joachim u.a. (Hg.): Martin Niemöller. Ein Lesebuch, Köln 1987, S. 116.
[22] Vgl. Niemöller, Martin: Ach Gott vom Himmel sieh darein. Sechs Predigten, München 1946; ders.: Die Erneuerung unserer Kirche, München 1946; ders.: Über die deutsche Schuld, Not und Hoffnung, Zürich 1946; ders.: Zur gegenwärtigen Lage der evangelischen Christenheit, Tübingen 1946. Ich konzentriere mich bei den folgenden Analysen vor allem auf die Predigtsammlung Ach Gott vom Himmel sieh darein (im Text abgekürzt GvH mit Seitenzahl).
[23] Aufschlussreich sind etwa die Proteste der Insassinnen des Frauenlagers 77 in Ludwigsburg (SS-Helferinnen, KZ-Aufseherinnen, Mitglieder von NS-Frauenschaft und BDM) gegen die Predigt, die Niemöller dort am 1. Juli 1946 gehalten hat. Vgl. hierzu Kellenbach, Katharina von: Schuld und Vergebung. Zur deutschen Praxis christlicher Versöhnung, in: Björn Krondorfer u.a., Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloh 2006, S. 227–313, bes. S. 246ff.
[24]  „Ich erzähle grundsätzlich nichts von meinen Erlebnissen. Ich könnte greuliche Dinge erzählen. Es genügt mir zu sagen: Keine Feder, kein Film reicht aus, um das zu schildern. Und wenn man mich fragt: War es wirklich so schlimm?, dann kann ich nur sagen: Es war tausendmal schlimmer.“ – Niemöller, Erneuerung, S. 7.
[25] Die Opferzahl des KZ Dachau ist anfänglich so angegeben worden – ob aus einer Fehleinschätzung der vorliegenden Häftlingsakten oder aus Gründen der reeducation, die auf die Wirkung möglichst erschreckender Zahlen setzte, kann nicht mehr festgestellt werden. In der aktuellen Forschung über das KZ Dachau werden Opferzahlen zwischen 32.000 und 42.000 erwogen. Vgl. dazu Zámecník, Stanislav: Das war Dachau, Frankfurt am Main 2007.
[26] Niemöller, Martin: Der Weg ins Freie, Stuttgart 1946, S. 18f (im Text abgekürzt WiF mit Seitenzahl).
[27] Vgl. hierzu etwa eine Bemerkung Niemöllers, zit. bei Mochalski, Herbert u.a. (Hg.): Der Mann in der Brandung. Ein Bildbuch über Martin Niemöller, Frankfurt am Main 1962, S. 44. Des Weiteren: Niemöller, Martin: About Questions of Guilt, in: Christianity and Crisis, 8. Juli 1946
[28] Siegele-Wenschkewitz, Auseinandersetzungen, S. 261.
[29] Der Begriff der Befreiungstheologie ist hier streng methodologisch zu verstehen als dasjenige theologische Verfahren, das die traditionelle Zuordnung von Botschaft und Gemeinde umkehrt, d.h. nicht aus der biblischen Botschaft etwas für die jeweilige Gegenwart ableiten will, sondern in der konkreten Situation der Gemeinde seinen Ausgangspunkt nimmt und in der Reflexion dieser Situation entdeckt, was die biblische Botschaft ihr zu sagen hat (vgl. etwa Boff, Leonardo und Clodovis: Wie treibt man Theologie der Befreiung? Düsseldorf, 4. Aufl. 1988). Niemöllers Fragen nach dem Evangelium von der Problemlage seiner Gemeinde her bedient sich exakt dieser Methodik – wie sie sich wohl an vielen Orten von selbst einstellt, wo Unterdrückung und Verfolgung echte Erfahrungen sind.
[30] Jüngst noch wiederholt von Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau am 28. Mai 2006: „Wo war Gott in jenen Tagen? Warum hat er geschwiegen? Wie konnte er dieses Übermaß von Zerstörung, diesen Triumph des Bösen dulden?“, im Internet unter: www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/speeches/2006/may/ documents/hf_ben-xvi_spe_20060528_ auschwitz-birkenau_ge.html.




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