Diskussionspapier:
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K. Hannah Holtschneider
Verhältnisbestimmung zwischen Juden und Christen in Deutschland: Auf dem Weg zu einer „realistischen und unbefangenen Beziehung zwischen Juden und Christen“?
Dieser Beitrag geht auf ein Impulsreferat zurück, das ich im Mai 2007 auf einer Tagung der Katholischen Akademie Stuttgart-Hohenheim mit dem Titel „Gott denken nach der Shoah“ gehalten habe. Vorangegangen war die Vorstellung und Diskussion jüdischer Reflexionen zur Gottesfrage nach der Shoah. Diese Auseinandersetzung sollte der Tagungsbeschreibung zufolge die Teilnehmenden sensibilisieren „für die Begegnung mit heute in Deutschland lebendigem Judentum. Sie können mehr Verständnis für die Standpunkte der jüdischen Gesprächspartner entwickeln – nicht nur was theologische Fragen, sondern auch Fragen des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens angeht.“
Die folgenden Ausführungen möchten als Denkanstöße verstanden werden, die z.T. polemisch provokant Schwierigkeiten und Anstößigkeiten einer Verhältnisbestimmung von Juden und Christen in Deutschland in den Vordergrund rücken.
Nach den Anfängen und der ersten Welle theologischer Nachkriegsreflexion, geht es mir darum, die Kategorien, in denen Christen und Juden bisher über einander und miteinander gesprochen haben, zu benennen, zu prüfen und gegebenenfalls nach Alternativen zu fragen. Grundsatzfragen sind dazu am besten geeignet, da Antworten auf diese scheinbar banalen Fragen unsere gedanklichen Strukturen innerhalb eines Themenkomplexes aufdecken können und unter Umständen Motive zu Tage fördern, deren wir uns nicht bewusst waren.
Meine Ausführungen gliedern sich in drei Teile. Ich beginne mit einer Vorstellung zweier Texte zum christlich-jüdischen Verhältnis, der Arbeitspapiere des Gesprächskreises „Juden und Christen“ des Zentralkomitees des deutschen Katholiken (ZdK) Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs von 1979 und Juden und Christen in Deutschland: Verantwortete Zeitgenossenschaft in einer pluralen Gesellschaft von 2005. Dem letzteren Text ist auch das Zitat im Untertitel meines Vortrags entnommen. Ich werde versuchen, aus diesen Texten und maßgeblichen theologischen Entwürfen christliche Axiome einer Verhältnisbestimmung zu Juden abzuleiten. In einem zweiten Teil möchte ich die Verhältnisbestimmung von Juden zu Christen, aus jüdischer Sicht ein wenig beleuchten, und dies sowohl in historischer Perspektive als auch und gerade in der Gegenwart, wie es sich im Jahr 2000 durch das Dokument Dabru Emet („Redet Wahrheit“) und die darauf folgende Diskussion darstellte. Besonders wichtig in beiden Teilen ist mir dabei der Kontext, in dem solche Verhältnisbestimmungen entwickelt und angewendet werden. Abschließen möchte ich mit Überlegungen zu Kriterien der Verhältnisbestimmung, mit denen Christen und Juden miteinander „ins Gespräch“ kommen können und fragen ob und inwieweit sich Juden und Christen in Deutschland auf dem Weg zu einer „realistischen und unbefangenen Beziehung“ befinden.
1979 veröffentlichte der Arbeitskreis „Juden und Christen“ des ZdK das Arbeitspapier Theologische Schwerpunkte des jüdisch-christlichen Gesprächs. Darin stellt der Arbeitskreis die Motivation, Bedingungen und Themen des Dialogs von Christen mit Juden vor und diskutiert sie in kurzen Thesen. Diese Erklärung versteht sich als theologisches Dokument und interpretiert das Verhältnis von Juden und Christen zueinander im Kontext der biblischen Erwählungsgeschichte sowie der jüngsten deutschen Vergangenheit des Krieges und des Holocausts. Eine grundlegende Annahme, auf die sich das gesamte Dokument stützt, lautet folgendermaßen: „Juden und Christen sind durch das, was ihnen von Gott her widerfahren ist, und sie sind von der Welt, in der sie leben, zu einem gemeinsamen Zeugnis herausgefordert.“ (4)
Daraus folgt, dass Juden und Christen auch dem Gespräch miteinander verpflichtet sind, obgleich die historische Erfahrung des Verhältnisses und Verhaltens von Christen zu Juden nicht dazu einlädt. Jedoch, vor dem Hintergrund der gemeinsamen Berufung durch Gott wird der Dialog in der Gegenwart als imperativ dargestellt. Eine Bedingung des Dialogs ist, dass Christen Juden nicht als ihre eigene Vorgeschichte begreifen, ohne wahrzunehmen, dass Juden in der Gegenwart ebenfalls Vertreter einer lebendigen Glaubenstradition sind, und Juden die Authentizität christlichen Glaubens nicht auf die ersten christlichen Gemeinden beschränken, sondern ebenfalls in der Gegenwart wahrnehmen. Ein wichtiges Wort in dieser und der Stellungnahme des Jahres 2005 ist „Zeitgenossenschaft“, das hier die gegenseitige realistische Wahrnehmung der Gesprächspartner in der deutschen Gegenwart beschreibt. Themen des Dialogs sind zunächst der Juden und Christen jeweils eigene biblische Erwählungsauftrag. Die Frage nach dem Messias, obwohl trennend, sollte nicht ausgeklammert werden, doch ein über ein gegenseitiges tieferes Verständnis der Glaubensgrundlagen des anderen hinausgehendes Bestreben, Juden zum Christentum zu konvertieren, ist ausgeschlossen. Stattdessen ringen Juden und Christen gemeinsam mit Fragen wie der Möglichkeit, nach dem Holocaust weiterhin an Gott zu glauben und Möglichkeiten die gemeinsame Verpflichtung zur Bezeugung von Gottes Gerechtigkeit in der Welt zu suchen und im Dialog zusammen zu erarbeiten. Letztlich ist der Dialog zwischen Juden und Christen auch daran interessiert, sich gegenseitig kritisch zu befragen, z.B. zu den unterschiedlichen Auslegungen des Gesetzesbegriffs und den Folgen, die sich dadurch für jüdische und christliche Praxis sowie das gegenseitige Verständnis ergeben.
Das Thesenpapier Juden und Christen in Deutschland: Verantwortete Zeitgenossenschaft in einer pluralen Gesellschaft, das im April 2005 vom Arbeitskreis „Juden und Christen“ des ZdK veröffentlicht wurde, versteht sich als eine Erneuerung und Fortsetzung der Stellungnahme von 1979. Anders als der Text von 1979 nimmt die gegenwärtige Lebenssituation von Juden und Christen in Deutschland einen großen Teil des Thesenpapiers in Anspruch. Es wird gezielt darauf hingewiesen, dass die jüdische Gemeinde im Nachkriegsdeutschland in den 1990er Jahren zahlenmäßig durch Migration aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugenommen hat, und dass diese Einwanderer das Gemeindeleben maßgeblich beeinflussen. Antisemitische Übergriffe, die eine fortwährende Bedrohung jüdischer Bürger in Deutschland darstellen, ein Generationswechsel von der Generation der Überlebenden zu der der Nachgeborenen, sowie das Aufleben und die Erweiterung der Gemeinden, deren Mitglieder nun tatsächlich die sprichwörtlichen „gepackten Koffer“ ausgepackt haben, werden ebenfalls erwähnt. Bemerkenswert ist auch, dass dieser Teil der Erklärung sich mit der Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland auseinandersetzt und anspricht, dass die Einheitsgemeinde längst nicht mehr alle (religiösen) Juden repräsentiert (falls sie das jemals getan hat). In diesem Zusammenhang fordert die Stellungnahme Christen auf, diese Vielfalt in ihr Verständnis jüdischen Lebens in Deutschland konkret mit einzubeziehen: „Falsche religiöse Erwartungen an die hier lebenden Juden müssen ein Ende haben. Dazu zählt die Annahme, dass alle Juden die Speisegesetze und den Schabbat in orthodoxer Weise beachten. Eine solche Sicht kommt aus der irrigen Voraussetzung, das orthodoxe Judentum sei allein als "echt" anzusehen. Es macht aber nur 6-10% der jüdischen Weltbevölkerung aus. Aufklärung ist nötig, um eine realistische und unbefangene Beziehung zwischen Juden und Christen herzustellen und in den Juden und im Judentum nicht etwas "Exotisches" zu sehen.“ (9)
Im Bezug auf die Lebenssituation von Christen in Deutschland wird auf die weitergehende Säkularisierung hingewiesen. Die Stellungnahme schlägt vor, aus dieser gesellschaftlichen Entwicklung die Notwendigkeit verstärkter christlich-jüdischer Zusammenarbeit abzuleiten. Jedoch, ein Dialog sollte nicht von Erwartungen eines Konsenses von Juden und Christen geleitet werden, vielmehr soll das „freie Gespräch“ z.B. über den Holocaust auch in jüngeren Generationen gefördert und durch neue Medien unterstützt werden.
Das Thesenpapier von 2005 ruft die 1979 geforderte „Zeitgenossenschaft“ von Juden und Christen in Erinnerung und ruft „die Kirche [auf] das Gespräch mit dem Judentum der Gegenwart [zu suchen] und ... dessen Selbstverständnis [zu] hören. Denn "um Gottes willen" sind wir miteinander verbunden.“ (12) Damit wird der christlich-jüdische Dialog zum Teil der Ökumene, die die vom gleichen Gott unterschiedlich berufenen Gemeinschaften in Glauben und Gespräch verbindet. In diesem Zusammenhang wird das jüdische Thesenpapier Dabru Emet (2000) ausdrücklich begrüßt als ein Wegweiser für die Zukunft christlich-jüdischer Gemeinsamkeit, da hier von jüdischer Seite „offiziell“ christlich-theologisches Neuverständnis des Judentums positiv dokumentiert wird.
Erstmals weist die Stellungnahme von 2005 auch auf die Notwendigkeit eines Gesprächs mit Muslimen hin, da „Ohne ein intensives Gespräch der "monotheistischen Religionen" ... ein friedliches Zusammenleben der Menschen weder im Nahen Osten noch in Deutschland denkbar“ (24) ist. Es wird auf den Gesprächskreis „Christen und Muslime“ des ZdK hingewiesen und ein Kontakt des Arbeitskreises „Juden und Christen“ mit diesem befürwortet, wenngleich sich die Zielsetzungen der beiden Gesprächskreise unterscheiden.
Im deutschen Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs erscheint mir die Argumentationsweise der Stellungnahme von 1979 als typisch. Der Hinweis auf die gemeinsame Berufung von Juden und Christen und die heilsgeschichtliche Relevanz beider Gemeinschaften, historisch gesehen als auch in der Gegenwart, sind die grundlegenden Erkenntnisse, die ein Gespräch nicht nur ermöglichen, sondern sogar notwendig fordern.
Ein anderer Text von 1979, nämlich Johann Baptist Metz’ Aufsatz „Ökumene nach Auschwitz: Zum Verhältnis von Christen und Juden“ (Metz, 1979) spricht diese Beobachtungen ebenfalls an, bringt sie allerdings radikaler in die Gegenwart jüdischen und christlichen Lebens nach der Shoah. Dieser Text wird damit ein richtungsweisender Text christlicher Theologie in Deutschland zur Neubestimmung des Verhältnisses von Christen zu Juden, der zusammen mit der Stellungnahme des Gesprächskreises des ZdK gelesen werden kann. Ausgehend von der Frage wie christliche Theologie nach dem Holocaust glaubwürdig über Gott reden kann, stellt Metz eine grundsätzliche Abhängigkeit christlichen Glaubens und christlicher Theologie von Juden fest. Diese Abhängigkeit ist in der historischen Situation nach dem Holocaust begründet, die Christen, insbesondere in Deutschland, dazu anhält, aus der jüngst erfahrenen Katastrophe des Holocaust Lehren zu ziehen: Erstens, dass man vor Katastrophen nicht davonlaufen kann, und zweitens, dass aus der Konfrontation mit der Geschichte des eigenen Versagens und des Leidens der anderen die Autorität der leidenden Opfer spricht, die uns dazu anleitet, Geschichte neu zu interpretieren und gerade ihre Sichtweisen für uns als wegweisend anzunehmen (vgl. Metz, 1981, 18). Die Opfer einer konkreten historischen Situation leiten uns an, nach einer gerechteren Gesellschaft zu streben und Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit zu lesen. Durch das Hörbarmachen der Geschichte der Opfer sind politische Theologen in der Lage, unser Geschichtsverständnis zu verändern und uns auf die Spur der Gerechtigkeit zu setzen. Damit lehnt Metz es auch ab, sich auf die Theodizeefrage einzulassen, die sich letztlich mit einer Sinngebung des Leidens befasst. Der Lackmustest, den christliche Theologie zu bestehen hat, ist, ob sie nach dem Holocaust die Gleiche sein kann wie zuvor. Wenn Theologie von Auschwitz unberührt bleiben kann, dann sei vor ihr gewarnt.
Eine Theologie, die den Holocaust in ihren Kontext einbezieht, muss für Metz jüdische Opferperspektiven mitbedenken, ja sich auf sie gründen. Konkret heißt dies, dass Christen ohne jüdisches Zeugnis nicht in der Lage sind, von Gottes Gegenwart in Auschwitz zu sprechen. Auschwitz bezeichnet hier symbolisch die ganzen Ausmaße des Holocaust, einer Sammlung von Ereignissen, die dem jüdischen Volk widerfuhren und zu denen Christen nur über jüdische Zeugnisse Zugang finden können. Ohne Berichte über betende Juden in Auschwitz bliebe der Holocaust ein gottleerer Raum, undenkbar in christlicher Theologie und damit ein Signal ihres Scheiterns. Diese „Gottleere“ ist aus christlicher Sicht in erster Linie durch das Scheitern der Christen im Widerstand gegen die antisemitische Politik des Nationalsozialismus begründet. Daher kann christliche Theologie keine unmittelbare Zeugenschaft zu Gottes Gegenwart in Auschwitz aufweisen. Jüdische Zeugen retten hier die christliche Denk- und Sprachfähigkeit in Bezug auf den Holocaust und ermöglichen damit christlichem Leben und christlicher Theologie eine Zukunft. Nach Metz hängen Christen somit nicht nur in ihrem historischen Ursprung von Juden ab, sondern sind in der Gegenwart von heutigen Juden abhängig. Jüdische Gegenwart und Vergangenheit werden wegweisende Kategorien christlicher Theologie, wenigstens in Deutschland.
Zwei Axiome werden in dieser Darstellung von Metz' Zugang zum christlich-jüdischen Verhältnis deutlich. Erstens weigert sich die Metzsche politische Theologie, das Subjekt ihrer theologischen Auseinandersetzung zu objektivieren. Juden, nicht „das Judentum“, stehen im Vordergrund der Überlegungen, wiederum konkretisiert in den Stimmen einzelner Opfer des Holocaust. Zweitens sind historische und politische Theologen als „Anwälte der Toten“ die Repräsentanten der Opfer der Geschichte und arbeiten somit daran, nicht nur in Gegenwart und Zukunft gerechte Geschichte zu schreiben, sondern ihre Tätigkeit auch „rückwärtig“ zu erstrecken und die Geschichte der Opfer aus ihrer eigenen Perspektive zu schreiben. Metz' Betonung der Autorität der leidenden Opfer wirkt als Korrektiv gegen jede Vereinnahmung der Opfer für einen theologischen Zweck, der sie wiederum ihrer eigenen Geschichte beraubt und entfremdet. Unter keinen Umständen, warnt Metz, darf christliche Theologie sich der Geschichte der Opfer bemächtigen und sie sich zu Eigen machen, indem sie sie heilsgeschichtlich interpretiert (vgl. Metz, 1981, 19). Metz plädiert damit für eine kontextuelle Theologie, die es ablehnt, allgemeingültige Glaubenssätze und Interpretationen geschichtlicher Ereignisse zu formulieren. Diese Maxime soll garantieren, dass die jüdischen Gesprächspartner im christlich-jüdischen Dialog in ihrem Selbstverständnis ernst genommen werden und sich in einer daraus erwachsenden, geschichtlich bewussten Theologie wieder erkennen können. Die christliche Interpretation des Verhältnisses des Christentums zum Judentum, der Christen zu Juden, ist damit einerseits ein konkreter Kontext, in dem christliche Theologie auf die Autorität der Opfer hören muss, um theologisch weiterbestehen zu können. Andererseits rückt der „Sonderfall“ Juden und Judentum in christlicher Theologie gerade nach dem Holocaust in den Mittelpunkt christlicher Theologie, ja werden Juden nun zu unentbehrlichen Voraussetzungen sowohl christlicher Theologie als auch christlicher Existenz.
Ähnlich formulieren es andere deutschsprachige christlich-theologische Versuche der Verhältnisbestimmung zum Judentum.[1] Nicht immer wird das Abhängigkeitsverhältnis über die Verbindung zum Holocaust so direkt und eng definiert. Jedoch ist der historische Hintergrund des Holocaust entscheidend für alle Neubestimmungen des Verhältnisses von Christentum zum Judentum. Erst durch den Holocaust scheint die christliche Theologie das heutige Judentum als eine ernst zu nehmende theologische Größe zu erkennen. So konstituiert die Mehrheit der theologischen Entwürfe zum christlich-jüdischen Verhältnis eine Abhängigkeit des Christentums, und vor allem christlicher Theologie, vom Judentum (vgl. z.B. Mußner, Thoma, Osten-Sacken, Marquardt, Klappert). Diese Abhängigkeit erwächst aus einer theologischen Notwendigkeit, das eigene Gottesverständnis und die eigene Beziehung zu Gott nur über das jüdisch-biblische Modell erkennen und verstehen zu können. Als solches ist jede Verhältnisbestimmung gleichzeitig biblisch-theologisch und kontextuell aktuell, da das heutige, parallel zum Christentum existierende Judentum als Vertreter des biblischen Gottesverhältnisses Israels angesehen wird. Daher, so diese theologischen Entwürfe, muss sich christliche Existenz und Theologie heute vor dem Judentum und seinen real existierenden Vertretern verantworten und sogar seine fortdauerende Existenz rechtfertigen. Kurz, Juden werden zu Wächtern christlicher Existenz, da sich das (Fort-)Bestehen der Kirche nur über das Judentum verstehen lässt. Christen werden wiederum zu Beschützern von Juden, da nur durch dauerndes jüdisches Leben christliche Existenz eine Zukunft hat. Die Verhältnisbestimmung des Christentums zum Judentum ist also ein zentrales Anliegen christlicher Theologie, ohne die sie in sich selbst zusammenfiele (vgl. besonders Marquardt, ²1992). So schreibt Peter von der Osten-Sacken in Grundzüge einer Theologie im christlich-jüdischen Gespräch folgendes: „So hat die jüdisch-christliche Begegnung, erfolge sie direkt oder indirekt, als Sitz im Leben für lange Zeit in erster Linie die heuristische Funktion, Christen zu helfen, sich dem fraglos langwierigen Wandel ihrer in erheblichem Maße antijüdisch geprägten Theologie, Verkündigung und Unterweisung zu unterziehen.“ (Osten-Sacken, 1982, 35)
Danach hätte christliche Theologie ohne ihre Opfer und deren Tradition keine Zukunft. Christen brauchen Juden besonders als Lehrer und Wegweiser, um Antijudaismus in ihrer „Theologie, Verkündigung und Unterweisung“ zu verhindern. Auf diese Kriterien christlicher Theologie in Deutschland in Verhältnisbestimmung zu Juden möchte ich im dritten Teil dieses Vortrags zurückkommen.
Zunächst ist festzuhalten, dass für Christen, insbesondere in Deutschland, das christlich-jüdische (Religions-)Gespräch und eine daraus erwachsende theologische Interpretation und Verhältnisbestimmung zu Juden oft ein Teil der Selbstfindung ist. Diese Selbstfindung vollzieht sich gerne, aber nicht zwingend, in der Gegenwart von (oder unter Beratung von) Juden statt. Da das jüdische Gegenüber bzw. die „jüdische Tradition“ für christliche Theologie notwendige Bezugspunkte darstellen, muss nun auch umgekehrt danach gefragt werden, wie Juden ihr Verhältnis zu Christen und Christentum bestimmt haben bzw. wie eine solche Verhältnisbestimmung in der Gegenwart stattfindet. Dabei ist es unerlässlich, die eben dargestellten Metzschen christlich-theologischen Kriterien in Erinnerung zu behalten.
Christlich-jüdischer Dialog wird oft als ein Phänomen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen und von jüdischer Seite gerne als eine spezifisch christliche Aktivität eingeschätzt, in der Juden, wie in den Disputationen des Mittelalters, eine Rolle zugeteilt wird, welche jüdisches Selbstverständnis bestenfalls als eine optionale Beigabe der Beraterfunktion sieht und es schlimmstenfalls als einen Störfaktor betrachtet. Dass es einen Dialog von Juden und Christen überhaupt bereits gibt, wird gelegentlich auch bezweifelt, doch wird dabei zumindest die Hoffnung laut, dass Juden und Christen sich auf dem Weg zu einem Dialog befinden (vgl. z.B. Neusner, 1993).
Am 10. September 2000 wurde die Welt des christlich-jüdischen Gesprächs in Amerika von einer „Jüdischen Stellungnahme zu Christen und Christentum“ erschüttert.[2] Dabru Emet, „Redet Wahrheit“, so der Titel der Stellungnahme, die in der New York Times und der Baltimore Sun als ganzseitige Anzeige veröffentlicht wurde, stellt in acht Thesen und diesen folgenden kurzen, erklärenden Paragraphen eine jüdische Interpretation von Christen und Christentum vor und weist den Weg für eine jüdisch-theologische Würdigung christlich-jüdischer Zusammenarbeit. Der Anspruch ist nicht nur eine vorläufige Bestandsaufnahme des gegenwärtigen jüdischen Verständnisses des Christentums, nein, Dabru Emet geht wesentlich weiter und setzt sich das Ziel, jüdisch-theologische Wahrheit über das Verhältnis des Judentums zum Christentum zu verkünden.
Diese Stellungnahme und ihr Anspruch haben eine stürmische Diskussion unter jüdischen Gelehrten hervorgerufen. Die Diskussion um Dabru Emet zeigt, dass eine theologische Erneuerung des jüdischen Verständnisses des Christentums jüdisches Selbstverständnis verunsichert. Eine neue Orientierung jüdischer Identität, die auf die Herausforderungen des Gesprächs mit Christen eingeht, ist ein Anliegen der Verfasser und Unterzeichner. Juden müssen sich Gedanken über ihre Rolle im christlich-jüdischen Gespräch machen und diese gegebenenfalls modifizieren. Die Verfasser fordern die jüdische Öffentlichkeit zu einer Reaktion heraus, indem sie den Rückzug auf eine Begrenzung jüdischer Teilnahme am christlich-jüdischen Gespräch auf die Rolle eines Informationslieferanten zu christlicher Selbstfindung als unzureichend bezeichnen.
Die jüdische Diskussion um Dabru Emet hat sich an Definitionen jüdischer Identität und Integrität festgebissen. Mehrere orthodoxe Kommentatoren der Stellungnahme vermissen eindeutig jüdische Terminologie. Die hebräische Überschrift und die Bezeichnung der Bibel als Tanach sind die einzigen Hinweise auf jüdischen Sprachgebrauch. Vermisst wurden vor allem jüdische theologische Konzepte wie Torah, Halachah und Mitzvot, die, so orthodoxe Kommentare, einen wesentlich eindeutigeren jüdischen Kontext für Dabru Emet gesetzt hätten.[3] Jüdisches Selbstverständnis ohne jüdische Konzepte zu erklären ist paradox und verstärkt die Befürchtung der „Verwässerung“ des Judentums und jüdischen Anbiederns bei Christen.
Nach David Berger fordert Dabru Emet, „dass Juden ihr Verständnis des Christentums mit Bezug auf die christliche Neuinterpretation des Judentums überdenken sollen“. Berger findet „diese Neigung zu solch einer theologischen Gegenseitigkeit gefährlich.“ Die Diskussion um Dabru Emet zeigt, wie sehr diese Gefahr wahrgenommen wird. Dabei verlieren viele Diskussionsteilnehmer die Übersicht über historische jüdische Würdigungen des Christentums, die nicht alle auf vollkommene Abschottung gegen mögliche Gefahren bedacht sind, sondern sehr wohl auch positive theologische Würdigungen einschließen. Die christlich-theologische Dimension der heilsgeschichtlichen Verbundenheit von Christen und Juden, die auch Metz betont, spielt in jüdischen Verhältnisbestimmungen zum Christentum eine Rolle. Teilweise steht diese Dimension im Hintergrund jüdischer Theologie des Christentums, sie drängt sich aber auch in den Vordergrund, wie z.B. Rosenzweigs Modell des Sterns und seiner Strahlen. Dennoch ist es wichtig für die folgenden Ausführungen, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass die jüdische Diskussion des Christentums immer auch ein Verhältnis einer Minderheit zu einer Mehrheit beschreibt, ein Verhältnis, in der die Minderheit sowohl um ihr materielles als auch geistliches und religiöses Überleben besorgt war. Theologische Legitimation oder sogar Würdigung des Anderen aus jüdischer Sicht ist also immer auch Verteidigung der eigenen Besonderheit und Legitimität im Hinblick auf eine christliche Großmacht. Auf diesem Hintergrund ist Bergers Einwand gegen Dabru Emet zu verstehen.
Traditionell teilt das Judentum die Menschheit in zwei Denkkategorien ein, die aus biblischen Texten erwachsen: Juden und Nichtjuden, Gojim. Aus dieser Zweiteilung erwachsen Folgen für eine Verhältnisbestimmung, die theologische Bedeutung erhalten, theologische Bedeutung in erster Linie in einer Gesellschaft, in der keine Unterscheidung zwischen säkular und heilig stattfindet, sondern alle Mitglieder der Gesellschaft über die Zugehörigkeit zu einer Glaubens- und Lebensgemeinschaft definiert werden, wie z.B. in Europa vor der Aufklärung. Wenn die Torah den Juden gegeben ist, was für ein Verhältnis haben die nichtjüdischen Völker mit Gott und woran können Juden erkennen, dass ein solches Verhältnis besteht? Dies ist eine jüdisch-theologische Grundfrage, die einerseits nach dem eigenen Ursprung und dem der Völker fragt und andererseits in der jeweiligen Gegenwart versucht, das Verhältnis von Juden zu Nichtjuden zu interpretieren. In letzterem Falle werden Kriterien entwickelt, die es Juden erlauben, das Gottesverhältnis von Nichtjuden zu erkennen und zu würdigen. Diese Kriterien sind die Noachidischen Gebote, die in der Zeit der Entstehung des Talmud von den Rabbinen entwickelt wurden. „Der Noachide (wörtlich, "Sohn Noachs"), auf den sich diese Gebote beziehen, bezeichnet sowohl den Nichtjuden, der dem gegenwärtigen Judentum begegnet, als auch die Menschheit vor der Schenkung der Torah, die Israel von den anderen Völkern dieser Welt trennt.“ (Novak, 1989, 26)
Es kann hier nicht auf den Ursprung des Konzepts der Noachiden eingegangen werden. Nur soweit, es ist eine Denkkategorie, die sich auf biblische und nachbiblische Definitionen des Nichtjuden in jüdischer Gesellschaft (des ger toshab) bezieht, sowohl im vorexilischen unabhängigen Israel als auch in der nachexilischen Diaspora, in der dieses Konzept in seiner heute bekannten Form weitgehend entwickelt wurde.[4] Nach den sieben Noachidischen Geboten wird Völkern, die (1) eine unabhängige Gerichtsbarkeit haben, (2) keinen Götzen dienen, (3) Gott nicht lästern, (4) Unzucht verbieten, (5-6) Mord und Diebstahl kriminalisieren und (7) kein Fleisch von lebendigen Tieren essen, eine vom Judentum erkennbare Moralität zugeschrieben, welche „nicht im Widerspruch zum Judentum steht, jedoch nicht identisch mit ihm ist“ (Novak, 1984, xvii). Die Noachidischen Gebote sind demnach „pragmatisch, d.h. sie versuchen einen modus vivendi et operandi für das Judentum und die Juden, die in einer nichtjüdischen Welt leben, herzustellen“ (Novak, 1984, xvii). Danach lassen sich die Völker in zwei Kategorien einteilen: Erstens die, mit denen Beziehungen erlaubt sind, und zweitens die, mit denen Beziehungen untersagt sind. Beziehungen meint hier in erster Linie ökonomische Beziehungen, die das Überleben des jüdischen Volkes in nichtjüdischer Umwelt garantieren. Ausgeschlossen sind von vornherein soziale Beziehungen, da sie durch die Gefahr der „Mischehe“ der Erhaltung einer separaten jüdischen Identität und Gemeinschaft entgegenwirken. Soziale Kontrolle und Notwendigkeit diktierten in erster Linie die Verhältnisbestimmung von Juden zu ihrer nichtjüdischen Umwelt.
Christen und Muslime, die Gruppen deren Glauben und Weltdeutungen vorwiegend die Gesellschaften, in denen Juden über Jahrhunderte als Minderheit lebten, mussten anhand ihres Glaubens und ihrer Praxis so definiert werden, dass Juden ökonomischer und politischer Umgang mit ihnen erlaubt war und somit diese Beziehungen das Überleben der jüdischen Gemeinden in nichtjüdischer Umwelt garantierten. In Europa konzentrierte sich die Diskussion der Noachidischen Gebote auf die Anerkennung des Christentums. David Novak fasst die jüdische Bewertung des Christentums durch die Noachidischen Gebote wie folgt zusammen: „Als das Christentum eine heterodoxe jüdische Sekte war, strengten sich jüdische Theologen an, die christliche Behauptung eines reinen Monotheismus anzuzweifeln. Lange nach der Abspaltung vom Judentum, als eine grundsätzlich neue soziale Beziehung zwischen Juden und Christen existierte, bemühten sich jüdische Theologen ebenso sehr zu zeigen, dass die christliche Vorstellung eines Vermittlers, auch wenn dieser als Teil Gottes gesehen wird, sich völlig im Einklang mit dem Monotheismus befindet und für Juden nur deshalb verboten sei, weil sie bereits durch den Sinaibund gebunden sind.“ (Novak, 1984, xviii)
Die Noachidischen Gebote sind in der Lage, die Möglichkeiten des Zusammenlebens von Juden und Christen in einer Gesellschaft zu bestimmen, die Menschen unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft kategorisiert. Sie sind weniger gut geeignet für eine Verhältnisbestimmung von Juden zu Christen in einer weitgehend säkularen Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe weitgehend von der persönlichen Entscheidung des Einzelnen abhängig ist und nicht zu einer allgemein anerkannten Gesellschaftsordnung gehört. Somit traten die Noachidischen Gebote mit der Haskalah – der jüdischen Aufklärung im 19. Jahrhundert – in den Hintergrund und wurden durch philosophisch motivierte Verständnisse des Christentums ersetzt.
Nun wurde das Christentum Teil der theologischen Diskussion im aufklärerischen Judentum und trat damit aus der meist ökonomisch bestimmten Debatte heraus. War die ökonomische Diskussion der Gesetzmäßigkeit oder wenigstens Toleranz von Geschäftsbeziehungen zu Nichtjuden Teil des konkreten, materiellen Überlebens der jüdischen Gemeinden in nicht-jüdischer Umwelt, dreht sich die theologische Diskussion seit dem 19. Jahrhundert um das Überleben des Judentums als Religionsgemeinschaft in einer säkularen Gesellschaft, deren Mitglieder mehrheitlich christlichen Gemeinden angehören. Damit nimmt die Verhältnisbestimmung von Juden zu Nichtjuden nun einen größeren, auch teilweise zentralen Raum in jüdisch-theologischer Selbstdefinition ein und entwickelt dabei dem Christentum vergleichbare Strukturen.
Ich greife zwei Beispiele jüdischer Verhältnisbestimmung mit dem Christentum heraus: Moses Mendelssohn und Franz Rosenzweig. Moses Mendelssohn's Briefwechsel im Jahre 1773 mit Rabbiner Jacob Emden diskutierte die Noachidischen Gebote im Zusammenhang mit der Idee des Naturrechts.[5] Emden vertritt die mittelalterliche aschkenasische Interpretation der Noachidischen Gebote, die ich gerade beschrieben habe. Mendelssohn zweifelte nicht am göttlichen Ursprung der Noachidischen Gebote, der allein es erlaubt, sie als Offenbarung neben der Torah zu verstehen. Die Frage, die Mendelssohn bewegte und die Emden nicht beantwortete, ist die der Erkennbarkeit der Offenbarung. „Mendelssohn hinterfragt, ob man die Menschheit für die Einhaltung von göttlichen Geboten verantwortlich machen kann, wenn die Mehrheit der Menschen nichts von dieser Offenbarung wissen.“ (Novak, 1984, 371)
David Novak folgert, dass Mendelssohn die Diskussion um die Noachidischen Gebote wieder auf ihren Ursprung zurückführt, nämlich auf die Frage, worauf sich die Moralität der Menschen gründet und wie sie philosophisch erfassbar ist (vgl. Novak, 1984, 372). Die Noachidischen Gebote teilen im aschkenasischen Raum die Menschheit vorrangig in Juden und Christen, im sefardischen Raum zusätzlich in Muslime ein. Die Moralität aller drei Gemeinschaften liegt in der Offenbarung der Hebräischen Bibel und/oder in der gemeinsamen Herkunft vom Stammvater Abraham begründet und wird unter dem Gesichtspunkt der Heilsgeschichte bewertet. Mendelssohns epistemologische Frage spielt in diesem Szenario kaum eine Rolle, d.h. sie stellt sich nur, wenn – wie bei von Aristoteles beeinflussten Philosophen (vgl. Maimonides), die im aschkenasischen Raum nur unzureichend rezipiert wurden – die Vernunft unabhängig von einer geschichtlichen Offenbarung gedacht wird und damit eine säkular erkennbare Moralität postuliert, die außerhalb konkreter Glaubensgemeinschaften erkennbar ist und die Menschheit eint (vgl. Novak, 1984, 372f.). Mendelssohns Antwort auf sein Problem versteht die Noachidischen Gebote als Naturrecht, das allen Menschen durch die allen gegebene Vernunft gleichermaßen logisch zugänglich ist. Dabei sieht Mendelssohn Gott als metaphysisch notwendig, als die Quelle der natürlichen Vernunft. Die spezifisch jüdische und christliche Offenbarung der Torah und Christus sind auf diese beiden Gemeinschaften und ihre historische Bedingtheit zugeschnitten. Während sie nicht im Widerspruch zum Naturrecht stehen, hat ihre Besonderheit nur innerhalb des Fortgangs der Geschichte Bedeutung und wird letztlich dem Naturrecht untergeordnet (vgl. Novak, 1984, 376).
150 Jahre später führt Franz Rosenzweig hingegen die Diskussion über das Verhältnis von Juden und Christen wieder in eine offenbarungsbestimmte Weltsicht zurück, indem er Judentum und Christentum als zwei heilsgeschichtliche Wege benennt, die einander ergänzend zugeordnet sind.[6] Das Bild des Sterns, dessen Strahlen von einem inneren Kern ausgehen, bestimmt Rosenzweigs Interpretation des Verhältnisses von Judentum und Christentum. „Die Logik dieses Bildes besagt, dass der brennende Stern an sich die Strahlen nicht benötigt. Der Stern brennt, auch wenn es keine Strahlen gibt, die das Licht weiterleiten. Die Strahlen jedoch, benötigen das ununterbrochene Brennen des Kerns des Sternes. Sollte das Feuer erlöschen, können die Strahlen an sich ihre Aufgabe nicht erfüllen.“ (Novak, 1989, 101f.)
Das Christentum ist für Rosenzweig also direkt auf das Judentum angewiesen – es hat das Judentum also nicht überflüssig gemacht, wie es traditionelle christliche Substitutionslehre behauptet. Das Judentum jedoch ist ebenfalls auf das Christentum und seine Verbreitung in der Welt durch Mission angewiesen, denn während das Judentum das Christentum für die Gründung und den Fortbestand der jüdischen Gemeinde nicht benötigt und hier nur auf Gott angewiesen ist, so ist es doch vom Christentum abhängig, um seine Aufgabe in Beziehung zu Gott und der Welt heilsgeschichtlich zu erfüllen (vgl. Novak, 1989, 102f.).
Die Verhältnisbestimmung zum Christentum aus jüdischer Sicht folgt also zwei Kriterien. Das allgemeine Interesse an einer Verhältnisbestimmung ist das der Legitimierung der anderen Religionsgemeinschaft darüber, wie sich mehrere Offenbarungen des einen Gottes zueinander verhalten. Ein spezifisches Interesse ist das Überleben der jüdischen Gemeinschaft in einer christlichen Umwelt, und die Konsequenzen, die aus einer Legitimierung des Christentums über die Noachidischen Gebote erwachsen, sind grundsätzlich praktischer Art, ökonomische und politische Beziehungen betreffend. Das andere jüdische Interesse am Christentum, das seit der Haskalah in den Vordergrund tritt, ist ein philosophisch-heilsgeschichtliches, wie es z.B. bei Mendelssohn, Hermann Cohen, Rosenzweig und Martin Buber, Abraham Heschel und Emil Fackenheim zum Ausdruck kommt. Das Christentum als die „andere“ Religion im Gegenüber zum Judentum kann im Dialog Juden eine neue Dimension der eigenen Wahrheit eröffnen, und ein geistlicher Austausch zwischen Individuen kann das eigene Glaubensleben bereichern. Damit wird allerdings das Gespräch von Juden und Christen auf die Glaubensebene festgelegt und hat, in einer liberalen Gesellschaft, kaum mehr praktische Bedeutung. Dem gegenüber stehen Vertreter der (modernen) Orthodoxie wie Rav Soloveitchik, der eine Beschränkung des Austauschs mit dem Christentum auf die sozial-politsche Ebene vertritt. Juden und Christen können an der Veränderung der Gesellschaft zusammenarbeiten, da sie Konzepte sozialer Gerechtigkeit teilen und ähnliche Anliegen politisch vertreten. Darüber hinaus ist Dialog über Dinge des Glaubens, d.h. den Religionsgemeinschaften eigenen Dogmen, unnötig, wenn nicht gar gefährlich. Doch das gemeinsame Arbeiten an Modellen der Gerechtigkeit erfordert auch einen Austausch über die Legitimation und den Ursprung dieser Ideale. Und dieser Austausch wird sich wohl kaum von dogmatisch bestimmten Themen fernhalten lassen.
Es lässt sich aus diesen Ausführungen schließen, dass Juden und Christen in ihrer gegenseitigen Verhältnisbestimmung in der Gegenwart sowohl Anliegen teilen als auch verschiedene Ziele verfolgen. Beide beginnen in ihren „offiziellen“ Stellungnahmen mit der theologischen Legitimation der anderen Glaubensgemeinschaft. Doch ist bereits diese Legitimation unterschiedlich begründet. Christliche Theologie, die sich mit dem Judentum auseinandersetzt, postuliert eine innere Abhängigkeit des Christentums vom Judentum, ohne die christliche Existenz unglaubwürdig bis unmöglich wird. Juden, zumindest in Deutschland und den westlichen Ländern, sind zwar auf ein Zusammenleben mit Christen angewiesen und können vielleicht eine Ausweitung dieses Verhältnisses auf eine heilsgeschichtliche Legitimierung des Christentums ausweiten, sind jedoch für ihr Selbstverständnis außer in der Diskussion heilsgeschichtlicher Zusammenhänge, die die Menschheit außerhalb des Judentums betreffen, nicht auf andere Glaubensgemeinschaften bezogen. Damit ist eine Asymmetrie des christlich-jüdischen Verhältnisses in den unterschiedlichen theologischen Anliegen begründet.
Was für Konsequenzen ergeben sich aus der unterschiedlichen Gewichtung des Verhältnisses zum jeweils anderen, sowie aus den Ähnlichkeiten? In ihrer Dissertation über Jean-François Lyotards kritische Hermeneutik des „Jüdischen“ und „Christlichen“ nach der Shoa stellt Christina Pfestroff fest, dass sich christlicher Diskurs der „Selbsterhaltung“ über das Judentum nach dem Holocaust in festen Bahnen bewegt, die oft nicht hinterfragt werden. Pfestroff legt Folgendes dar: „Um die Affizierbarkeit theologischer Rede durch Auschwitz zu gewährleisten, entwickelte dieser Diskurs eine Reihe von stillschweigenden Regeln, die dazu führten, dass im deutschsprachigen Raum ein zunehmend formalisierter Diskurs begann. Er charakterisiert sich bis hinein in die Neuerscheinungen der 2000er Jahre durch die Festschreibung einiger weniger Bezugspunkte.“ (Pfestroff 06.07.2001, 25)[7]
Die Bezugspunkte, so Pfestroff, sind ein Kanon von literarischen, theologischen und philosophischen Autoritäten (wie z.B. Elie Wiesel, Paul Celan, Primo Levi, Nelly Sachs, Richard Rubenstein, Emil Fackenheim, Eliezer Berkovits, Ignaz Maybaum, Irving Greenberg, Theodor Adorno und Emmanuel Levinas), die wiederholt in christlicher Theologie rezipiert werden (vgl. ibid.). Diese werden weitgehend als „genuin jüdisch“ betrachtet, als mit einer „natürlichen Autorität“ ausgestattet verstanden und affirmativ gelesen. „Das führt zu einer Rezeption ihres Denkens im Kontext christlicher Theologie, der [sich] vornehmlich auf Bestätigung zielt und kritische Anfragen vermeidet“ (ibid.).
An diese Überlegungen schließt sich für mich eine Frage nach den Kategorien christlicher Auseinandersetzung mit dem Judentum an sowie nach den Kategorien jüdischer Auseinandersetzung mit dem Christentum. Pfestroff weist auf die Festschreibung von Bezugspunkten innerhalb christlicher Theologie hin. Ich würde ähnliche Schlüsse über den jüdischen Diskurs über das Christentum ziehen, der sich, wie kurz diskutiert, ebenfalls in festen Kategorien bewegt und diese nicht hinterfragt, sondern zur Legitmation der eigenen Anliegen verwendet. Dies wird deutlich z.B. in der Interpretation des Christentums in Dabru Emet, wo keine christlichen Positionen diskutiert werden, sondern allgemeine Aussagen über „die Christen“ und „das Christentum“ undifferenziert als „normativ“ oder „authentisch“ gesehen werden. Die gegenseitige Wahrnehmung wird damit auf einen kleinen Kanon von theologischen Positionen reduziert und steht damit in Gefahr, letztlich nur sich selbst zu legitimieren und einen „eingeweihten“ Kreis von Adressaten anzusprechen. An wen ist also eine solche Verhältnisbestimmung adressiert und welche Konsequenzen erwachsen daraus für den gesellschaftlichen und politischen Umgang von Christen und Juden?
Der Kontext der Verhältnisbestimmung, der innerhalb der historischen jüdischen Diskussion so wichtig ist, könnte hier neue Horizonte der Interpretation eröffnen. Es gilt erneut Metz' Gedanken über die Kontextgebundenheit jeglicher theologischer Aussage wieder aufzugreifen. Die Standardisierung christlicher Auseinandersetzung mit dem Judentum, die Festschreibung einiger jüdischer (Opfer-)Positionen innerhalb christlicher Theologie und die daraus erwachsenden theologischen Paradigmen müssen aufgriffen und zur Diskussion gestellt werden. Von jüdischer Seite ist ein ähnlicher Prozess notwendig. Dabru Emet hat eine Diskussion hervorgebracht, die infolge all der problematischen Formulierungen der Stellungnahme eine erneute Anfrage an jüdisches Verständnis des Christentums stellt.
An dieser Stelle ist es wichtig, den Blick auf die Relevanz der bisher vorgetragenen Überlegungen für die konkrete Lebenswirklichkeit von Juden und Christen in Deutschland und der daraus erwachsenden Möglichkeiten für christlich-jüdischen Dialog zu richten. Wie fördern die bisher vorgetragenen theologischen Axiome und gut geölten Bahnen des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland eine „realistischen und unbefangenen Beziehung zwischen Juden und Christen“? Inwieweit ist es realistisch, zu behaupten, wie Eingangs mein Zitat der Tagungsbeschreibung es erhofft, dass „durch die Auseinandersetzung mit den jüdischen Denkansätzen alle Teilnehmenden sensibilisiert [werden] für die Begegnung mit heute in Deutschland lebendigem Judentum. [?] ... können [sie] mehr Verständnis für die Standpunkte der jüdischen Gesprächspartner entwickeln – nicht nur was theologische Fragen, sondern auch Fragen des gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens angeht.“ [?]
Oft, so scheint es mir, feiert der jüdisch-christliche Dialog seine Erfolge, im Bezug auf theologisches Umdenken in beiden Religionsgemeinschaften, sei es durch die verstärkte Rezeption von Stellungnahmen des ZdK oder der politischen Theologie von Johann Baptist Metz auf christlicher Seite und Thesenpapieren wie Dabru Emet auf jüdischer Seite, die auf Tagungen wie dieser hier diskutiert werden. Dies ist zu begrüßen, treffen sich zur Formulierung solcher Stellungnahmen und auf solchen Tagungen ja vielleicht tatsächlich die Vordenker einer „cutting-edge“-Theologie und die Vorreiter eines Dialogs. Andererseits, wen geht denn der Dialog etwas an? Die „Elite“, die philosophisch und theologisch gebildet ist, oder alle, die sich als Juden und Christen definieren? Wenn alle Gemeindeglieder gemeint sind, inwieweit und für wen sind die in diesen Ausführungen und gestern vorgetragenen Entwürfe einer Verhältnisbestimmung, eines Gottesverständnisses nach der Shoah u.a. relevant? Z.B. (und diese Fragen ließen sich u.U. auch im Bezug auf Christen in Deutschland stellen) wer ist denn die jüdische Gemeinschaft, wer sind „die Juden“ in Deutschland?[8] Was für Fragen bewegen Juden in Deutschland? Was steht im Mittelpunkt jüdischen Lebens, was braucht Energie im jüdischen Leben in Deutschland, und was für einen Stellenwert kann oder soll in diesem Zusammenhang der (theologische) Dialog mit Christen einnehmen? Welche Juden in Deutschland, sind im „offiziellen“ christlich-jüdischen Dialog vertreten – und vertreten sie die jüdische Gemeinschaft oder die Juden in Deutschland? Ist Dialog nur im Bezug auf eine theologische Verhältnisbestimmung von Juden und Christen wünschenswert? Sind die Themen und die Gesprächsteilnehmer beschränkt auf Juden, die sich als religiös definieren, oder auf Fachleute? Oder, provokanter, wer ist denn ein Jude in diesem Dialog: können säkulare Juden, oder Juden, die von anderen Juden nicht als Juden anerkannt werden, einen Beitrag zum Dialog leisten? Haben christliche Gesprächspartner u.U. Juden bereits wieder eine Rolle in christlicher Theologie zugeschrieben, die Juden als Gesprächspartner in ihrer Vielfalt nicht wahrnehmen können oder aber diese Vielfalt jüdischen Selbstverständnisses bewusst beiseite schieben müssen, um ihrer theologischen Umkehr folgen zu können? Stören tatsächliche Juden beim Dialog, wenn sie die ihnen zugewiesene Rolle nicht spielen können oder mögen? Ist die postulierte christliche Abhängigkeit vom historischen wie lebendigen Judentum gefährlich für Juden?
Anmerkungen
[1] Ein guter Überblick findet sich bei (Petersen,²1998).
[2] In Deutschland wurde Dabru Emet am 12.12. 2000 in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.
[3] Vgl.: „Even more amazing, in a statement written by Jewish theologians, is the absence of the words law and commandment themselves.“ (Levenson)
[4] Eine detaillierte Studie zum Thema ist (Novak, 1984).
[5] Für die folgende Diskussion vgl. (Novak, 1984, Kapitel 13). Die folgende Darstellung ist stark verkürzt, da in diesem Rahmen eine ausführlichere Ausleuchtung des Kontextes dieser Auseinandersetzungen nicht möglich ist. Die Beispiele dienen nur dazu, die unterschiedlichen Argumentationsebenen anzusprechen und stützen sich daher auf Novak's ausführliche Diskussion und stellen die Quellentexte nicht eigenständig vor.
[6] Für die folgende Darstellung vgl. (Novak, 1989, Kapitel 5).
[7] Eine ausführlichere Diskussion dieser Problematik findet sich in Pfestroff's Buch Der Name des Anderen.
[8] Vgl. dazu z.B. Anthony Kauders jüngst erschienes Buch Unmögliche Heimat.
Bibliografie
Berger, David, 'Statement regarding Dabru Emet Ad', http://www.ou.org/public/statements/2000/betty25.htm (30.05.02), Zitate sind von mir übersetzt.
Frymer-Kensky, Tikva, 'Jewish-Christian Dialogue: Jon D. Levenson and Critics', Commentary (April 2002), http://www.findarticles.com/cf_0/m1061/4_113/84369732/p1/article.jhtml?term=levenson (30.05.02) (zitiert mit Nennung der verschienden Autoren der Beiträge in diesem Aufsatz; Zitate sind von mir übesetzt).
Kauders, Anthony D. 2007, Unmögliche Heimat: Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.
Levenson, Jon D., 'How not to conduct Jewish-Christian dialogue', Commentary (December 2001), http://www.findarticles.com/cf_0/m1061/5_112/80680260/p1/article.jhtml?term=bible (30.05.02).
Marquardt, Friedrich-Wilhelm ²1992, Von Elend und Heimsuchung der Theologie: Prolegomena zur Dogmatik, Christian Kaiser, München.
Metz, Johann Baptist 1979, 'Ökumene nach Auschwitz: Zum Verhältnis von Christen und Juden in Deutschland' in Gott nach Auschwitz: Dimensionen des Massenmords am jüdischen Volk, hrsg. von Johann Baptist Metz, Herder Verlag, Freiburg/Basel/Wien, 121-144.
Metz, Johann-Baptist 1981, The Emergent Church, SCM, London.
Neusner, Jacob 1993, Telling Tales: Making Sense of Christian and Judaic Nonsense. The Urgency and Basis for Judeo-Christian Dialogue, Westminster/John Knox Press, Louisville, KT.
Novak, David 1984, The Image of the Non-Jew in Judaism. Zitate sind von mir übersetzt.
Novak, David 1989, Jewish-Christian Dialogue: A Jewish Justification. Zitate sind von mir übersetzt.
Osten-Sacken, Peter von der 1982, Grundzüge einer Theologie im christlich-jüdischen Gespräch, Abhandlungen zum christlich-jüdischen Dialog 12, Chr. Kaiser, München.
Petersen, Birte ²1998, Theologie nach Auschwitz? Jüdische und christliche Versuche einer Antwort, Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum 24, Institut Kirche und Judentum, Berlin.
Pfestroff, Christina 06.07.2001, Jean-François Lyotards kritische Hermeneutik des 'Jüdischen' und 'Christlichen' nach der Schoa, Konzept für Abschlussbericht DFG (unveröffentlichte, private Kopie, Dissertation).
Pfestroff, Christina 2004, Der Name des Anderen: Das 'jüdische' Grundmotiv bei Jean-François Lyotard, Studien zu Judentum und Christentum, Schöningh Verlag, Paderborn.
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