Julia Schulze Wessel, Ideologie
der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus,
Frankfurt am Main, Suhrkamp 2006, 248 Seiten, ISBN 3-518-29396-6
In Julia Schulze Wessels Publikation Ideologie der Sachlichkeit. Hannah Arendts politische Theorie des Antisemitismus erfährt Arendts wohl umstrittenstes Werk Eichmann in Jerusalem eine aufschlussreiche, neuartige Betrachtung im Lichte des zuvor von der Autorin herausgearbeiteten Arendtschen Antisemitismusbegriffs.
Lange tat sich die Forschung schwer mit Arendts Prozessbericht Eichmann in Jerusalem, der es scheinbar an einer Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus – ganz im Gegensatz zum Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – fehlen ließe. Eine systematische Aufarbeitung des Arendtschen Antisemitismusbegriffs ist bisher ausgeblieben – ebenso, wie ein systematischer Vergleich der beiden Werke Eichmann in Jerusalem und Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Beides versucht Julia Schulze Wessel in ihrer jüngst erschienen Untersuchung. Sie bleibt dabei am Werk Arendts orientiert, innerhalb dessen sie die Begriffsbestimmungen und –verschiebungen mit besonderer Fokussierung auf den Antisemitismusbegriff analysiert. Methodisch orientiert Schulze Wessel sich dabei an der Cambridge School, die politische Theorien, auf der linguistischen Sprechakttheorie aufbauend, als (sprachliche) Handlungen versteht und damit die Verwendung bestimmter Begriffe bezogen auf Autor und Kontext untersucht.
In einem ersten Teil untersucht Schulze Wessel Arendts eigenes methodisches Vorgehen in Bezug auf die theoretische Betrachtung politischer Probleme, wobei sie mit dem Ergebnis schließt, dass Arendts Geschichtsbegriff von der Vorstellung des Bruchs bestimmt ist, welcher letztlich zur Methode des Arendtschen Denkens selbst wird. Interessant wäre es an dieser Stelle gewesen zu fragen, wie weit dekonstruktivistisches Denken diese Perspektive auf das Arendtsche Geschichtsverständnis ermöglicht und bestimmt.
Von dieser Beobachtung „des Denkens in Brüchen“ ausgehend
analysiert Schulze Wessel in einem zweiten Teil eingehend die
Dimensionen des Arendtschen Antisemitismusbegriffs.
Schulze Wessel unterteilt die Geschichte des Antisemitismus, wie sie in
Arendts Werk beschrieben wird, in fünf – von Arendt selbst so
nicht festgelegte – Phasen der Entwicklung. Die erste Phase, die
zugleich den Beginn des modernen Antisemitismus grundlegt, verortet
Schulze Wessel in der Zeit des ausgehenden 18. und beginnenden 19.
Jahrhunderts, als die tatsächlich bestehenden Konflikte zwischen
jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheitsgesellschaft das
antisemitische Denken begründeten. Der Antisemitismus ist in
dieser Phase noch an Erfahrung rückgebunden, deshalb spricht die
Autorin hier von der Dimension der
Erfahrung. In einer zweiten Phase, im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts, bildet sich der Antisemitismus als politische Bewegung
heraus, wobei die konkreten Erfahrungen zwischen Juden und
Mehrheitsgesellschaft zunehmend an Bedeutung verlieren. Entsprechend
wird diese Phase von Schulze Wessel als Dimension des Erfahrungsverlusts beschrieben. In
der dritten Phase, die sich in der Zeit des Imperialismus herausbildet
und auf rassenbiologischen Vorstellungen beruht, begründet der
Antisemitismus zum ersten Mal ein geschlossenes Weltbild und ist damit
völlig von der Erfahrung losgelöst. Hier vollzieht sich der
Übergang des Antisemitismus zur Ideologie. Die vierte Phase setzt
mit der Etablierung der nationalsozialistischen Bewegung ein. Nun wird
der Antisemitismus zum Propagandainstrument. In dieser Propaganda
spiegelt sich wiederum die Krise der modernen Massengesellschaft. Der
Antisemitismus erhält hier eine neue
Erfahrungsgrundlage, diese beruht aber nicht mehr auf einem
Konflikt zwischen Juden und Nichtjuden, sondern auf den Problemen der
modernen Massenmenschen. Dieser totalitäre
Antisemitismus ist nun völlig von den Juden und deren Leben
losgelöst, er sagt somit auch nichts mehr über die Juden aus,
sondern nur etwas über die Träger der antisemitischen
Vorstellungen. Die fünfte und letzte Phase ist durch absolute
Willkür und Beliebigkeit der ideologischen Inhalte bestimmt. Sie
setzt mit der sogenannten ‚Endlösung’ ein und bedeutet eine
Verkehrung des Verhältnisses von Ideologie und Realität –
die Ideologie schafft sich ihre Realität, was Arendt mit dem
Begriff des Wahrlügens beschreibt. Diese letzte Stufe stellt die
Ausgangssituation für die Überlegungen zum neuen
Tätertyp und dessen Verhältnis zu seinen Verbrechen dar.
Die gewonnenen Ergebnisse wendet die Autorin in einem zweiten
Hauptteil auf Arendts Jerusalemer Prozessbericht an. Es gelingt ihr
schlüssig und an vielen Beispielen belegt aufzuzeigen, wie sich
die verschiedenen Facetten des totalen Antisemitismusbegriffs in
der Beschreibung Eichmanns durch Arendt wiederfinden. Die
Mentalität Eichmanns, so wie Arendt sie darstellte, bezeichnet
Schulze Wessel als ‚Ideologie der Sachlichkeit’[1] - diesen Begriff
wählte sie auch als Titel für das vorliegende Buch.
Arendt nahm mit dem Bedürfnis am Prozess gegen Eichmann teil, die
Mentalität eines Menschen zu verstehen, der radikal Böses
getan hat. Sie ging davon aus „in Jerusalem einem Mann
gegenüberzustehen, der zu den herausragenden Köpfen der
planenden Intelligenz des nationalsozialistischen Systems
gezählt werden könne.“[2]
Durch die Konfrontation mit der
Person Eichmanns musste sie diese Vorstellung revidieren. Schulze
Wessel fragt, wie sich Arendts Antisemitismusbegriff durch ihre
Beobachtungen beim Eichmann-Prozess verändert hat. „Die
unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Tat und Täter
lässt Arendt bis zu ihrem Tod nicht mehr los.“[3] Aus dieser
Beobachtung resultiert auch die Formulierung der „Banalität des
Bösen“. Arendt gelingt es nachzuweisen, dass Eichmanns Handeln auf
der Verschiebung seines Gewissens in eine andere Person beruht, so dass
mit der Aufgabe von Verantwortung auch die Aufgabe vom eigenen Urteilen
einhergeht. Das daraus resultierende rein versachtlichte Handeln
Eichmanns erhält seine inhaltliche Richtung durch den „Willen des
Führers“, welcher wiederum vom Täter internalisiert und damit
von der konkreten Person des Führers abstrahiert wird. So geht die
Entleerung des Antisemitismusbegriffs mit der Entsubjektivierung seiner
Träger einher. Mit dieser Beobachtung ist gezeigt, dass Eichmann
keinesfalls als Bürokrat verharmlost wird, sondern seine
Mentalität, wie von Arendt beschrieben, vielmehr den Kern dessen
erschüttert, was für sie als die Grundlage menschlicher
Freiheit gilt – die Fähigkeit zu Urteilen und, damit verbunden,
jene zu Handeln.
In einer abschließenden Betrachtung verweist Schulze Wessel auf die Spannungen zwischen Geschichtswissenschaft und Politischer Theorie, die sich in Arendts Werk manifestieren. Eine Fehlinterpretation von Eichmann in Jerusalem basiert nicht selten darauf, das Werk als geschichtswissenschaftliche Studie zu lesen. Schulze Wessel betont dagegen, dass Arendts Denken von ihrem philosophischen Studium, besonders von der Existenzphilosophie ihrer Lehrer Heidegger und Jaspers geprägt ist. „Ihre [Arendts, d. Verf.] philosophischen und politiktheoretischen Kategorien formen den Zugriff auf den ‚Abgrund’, der durch Auschwitz offenbar wurde. Auch wenn ihre Werke, wie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, auf historischem Material beruhen, so sind sie mehr als bloße Geschichtsbücher. Sie sind philosophische und politiktheoretische Werke.“[4]
Schulze Wessel zieht zur Darlegung ihrer Argumentation eine Vielzahl von Belegen, auch aus zum Teil bisher unveröffentlichten Quellen, heran und zeigt überdies Parallelen in Arendts Denken mit anderen zeitgenössischen Theoretikern auf, wobei sie wiederholt auf die Kritische Theorie und deren Vordenker Adorno und Horkheimer zu sprechen kommt. Zwar bespricht sie Arendts Antisemitismusbegriff auch unter Hinzuziehung von Verweisen auf Positionen der Antisemitismusforschung, eine Diskussion des Arendtschen Antisemitismusbegriffs bleibt jedoch aus. Eine solche Diskussion wäre sicher lohnenswert und interessant gewesen, ist jedoch nicht Anliegen des Buches.
Mit dieser Untersuchung leistet Julia Schulze Wessel einen wichtigen Beitrag für die Hannah-Arendt-Forschung, indem sie erstmals eine systematische Bestimmung des Arendtschen Antisemitismusbegriffs vornimmt und vor diesem Hintergrund eine neue, angemessenere Lesart für Arendts „Bericht über die Banalität des Bösen“ im Lichte ihres politiktheoretischen Oeuvres ermöglicht.
[1] Schulze Wessel
verwendet den Begriff der ‚Sachlichkeit’ im Sinne
Herbert Marcuses. Vgl. Julia Schulze Wessel, Ideologie der Sachlichkeit, S. 203
[2] ebd. S. 159
[3] ebd. S. 166
[4] ebd. S. 229
Rezensentin:
Yvonne Al-Taie
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