Björn Krondorfer, Katharina von Kellenbach, Norbert Reck, Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945. Gütersloh, Gütersloher Verlagshaus 2006, 317 Seiten, ISBN: 3-579-05227-6
Eigentlich gehören solche Sätze in die Besprechung eines
Krimis, aber von dem hier vorgestellten Buch kann man tatsächlich
sagen: Es lässt einen bis zur letzten Seite nicht los, man kann es
vor Spannung nur schwer aus der Hand legen. Das ist bei theologischen
Veröffentlichungen eher selten. Björn Krondorfer, Katharina
von Kellenbach und Norbert Reck erzählen die Geschichte des
Umgangs der Nachkriegs-Theologie mit dem Holocaust. Dabei geht es ihnen
nicht um die erst spät einsetzende Holocaust-Theologie, sondern
die konkreten Stellungnahmen von Theologen (und wenigen Theologinnen)
zum Nationalsozialismus, zur Schuld der Täter, zur Verantwortung
der Kirchen. Das Buch hält sein Titel-Motto konsequent durch: Es
interessiert sich nicht für Theorien der Deutung oder gar der
Bewältigung, sondern dafür, wie sich die Nachkriegstheologie
mit der Tat und den Taten der Shoah konfrontierte. Dabei verbinden von
Kellenbach und Reck die Analysen der Geschichte mit eigenen
theologischen Thesen zum Verständnis von Schuld und Vergebung und
diese doppelte – historische und sachliche – Direktheit macht wohl die
Spannung des Buches aus. Es praktiziert, was die Einleitung in
Anlehnung an Hannah Arendt eine "Radikalität" nennt, "die nicht
mehr zulässt, dass irgendetwas sie nichts angeht" (18). Diese
Formulierung liefert, so scheint mir, im Vorbeigehen eine Korrektur der
bekannten Religions-Definition Paul Tillichs: Sie ist nicht das, was
mich unbedingt angeht, sondern sie ist das, was macht, dass mich alles
unbedingt angeht.
Das vermisste Bekenntnis
Im ersten, umfangreichsten Teil des Buches untersucht Krondorfer
Nachkriegs-Autobiografien evangelischer Theologen auf ihre Erinnerung
von Nationalsozialismus und Holocaust. Er bedient sich dabei des
Kohorten-Modells des amerikanischen Soziologen Harold Marcuse. Die
einzelnen Zeitzeugen lassen dadurch die Typik von Altersgruppen
erkennen, die am Beginn ihres Erwachsenseins durch bestimmte gemeinsame
politische Erfahrungen (das Ende des Ersten Weltkriegs, die
Machtergreifung Hitlers, den Militärdienst im Zusammenbruch des
Nazireiches) geprägt sind. Erschütternd und ernüchternd
genau zeigt Krondorfer, dass selbst bei nach 1970 oder 1980
geschriebenen Theologen-Memoiren der Holocaust praktisch nicht
vorkommt, stattdessen Selbstrechtfertigung und eine Art Vernebelung
konkreter Tat-Zusammenhänge überwiegen. Leider reicht
Krondorfers Kohorten-Schema bis zur "Generation" der 1989 (38 f.),
seine Analysen klammern die Nachkriegs-Kohorten jedoch aus. In einer
Anmerkung (154, Anm. 10) wendet sich Krondorfer ausdrücklich gegen
Marcuses Unterscheidung von "politischen Kohorten" der handelnden
Zeitzeugen des Nationalsozialismus und "politischen Generationen" der
Nachgeborenen. Mit scheint dagegen in dieser Unterscheidung gerade ein
Schlüssel zu liegen, den Krondorfer nicht nutzt: Bleibt nach der
Lektüre seines Beitrags doch gerade der Eindruck bestehen, dass
zwischen beiden Großgruppen ein tiefer Graben klafft. Die
Nachgeborenen können mit der Geschichte, die sie selbst nicht
erlebt haben, nicht mehr umgehen wie die Zeugen, sie können auch
deren Nicht-Erinnerung, Erinnerungs-Verweigerung nicht korrigieren. Die
typischen politischen Schlüsselerfahrungen insbesondere der
(west)deutschen Nachkriegsgenerationen (Studentenbewegung,
Holocaust im Fernsehen, Fall der Mauer) sind anderer Art als die der
Zeugen-Kohorten: Sie sind medial vermittelt, griffen weit weniger
direkt in die Biografien ein, zwangen nicht so sehr von außen,
sondern eher von innen zur Stellungsnahme. Wie sollen die Jüngeren
auf das Erzählen der Älteren von der ersten
Jahrhunderthälfte reagieren, das häufig schon mit dem Zusatz
versehen ist, das könne nicht verstehen, wer es nicht erlebt hat?
So endet Krondorfer mit dem "Wunsch der Nachgeborenen, die theologisch
geschulten Männer hätten besseres leisten können." (139)
Aber was tun mit den dann folgenden vielen Konjunktiven: Man
wünschte sich, es hätte eine augustinische
Confessio-Literatur gegeben, ein "Bekenntnisstammeln" (140) statt all
diesem beredten Verschweigen, Verdecken und Verdrängen?
Späte Verantwortung
Wo Krondorfer aufhört, setzt Reck gerade ein: Er nimmt die
diffusen Schuldgefühle der Nachgeborenen zum Anlass, nach einem
fruchtbaren Umgang mit unverarbeiteter Schuld zu fragen. Dazu
untersucht er theologische Stellungnahmen zur Schuld im "Dritten Reich"
bei den damals Erwachsenen (Guardini, Rahner, Fries, Schmaus), bei den
damals Jugendlichen (Ratzinger, Gössmann, Metz, Denzler) und bei
den Nachgeborenen (Ammicht-Quinn, Bucher, Scherzberg). Reck
bestätigt anhand ganz anders gearteter Texte katholischer Autoren
weitgehend den Befund Krondorfers zur Unfähigkeit der
Zeitzeugen-Generation, über Schuld und Verantwortung konkret und
nicht entweder verdrängend oder metaphysisch verallgemeinernd zu
sprechen. Er führt Krondorfer dann durch die These weiter, dass
durch diese "Vermeidung der Benennung" in der ersten Generation eine
"Schuldtradierung" auf die Nachgeborenen entsteht: "Unbearbeitete
Schuld" wird "Schuldgefühl" (219). Dadurch findet Reck einen
Schlüssel zur Motivation der jüngeren Theologie nach
Auschwitz, den ich bisher so noch nicht gefunden habe: Nur in der
schmerzhaften Nachbearbeitung der eigenen Tradition, im nachgeholten
Benennen des Verschwiegenen kann ein diffuser Unheilszusammenhang
zerschnitten werden, den der Beitrag mit dem biblischen Wort von der
"an der dritten und vierten Generation" verfolgten Schuld benennt.
Schuld vergeht nicht von selbst, mit der Zeit, auch nicht mit dem
Sterben der Täter. Deshalb ist die Arbeit von Theologinnen und
Theologen wie der hier besprochenen Autoren nicht aus der Lust an der
Abrechnung mit den Eltern und Großeltern, nicht aus dem Wunsch
nach dem Bruch mit der Vergangenheit zu verstehen, sondern gerade als
Übernahme einer Verantwortung, die allzu lange liegen blieb.
Versöhnung ohne Opfer?
Nochmals einen Schritt weiter in Konkretisierung und theologischer
Schlussfolgerung geht Katharina von Kellenbach: Sie untersucht den
Umgang von Kirchenvertretern, insbesondere Gefängnisseelsorgern,
mit den Nazi-Tätern. An ihre historische Analyse legt sie das
traditionelle theologische Schema der Versöhnung als einem
Dreischritt von Reue, Bekenntnis und Buße/Genugtuung an. So wird
grell sichtbar, wie die kirchliche Nachkriegspraxis gegenüber den
Tätern der Nazi-Verbrechen weitgehend an allen drei Kriterien
scheiterte: Es gab Vergebung für Verstockte, mit denen sich
Seelsorger mitunter sogar gegen die alliierte Justiz solidarisierten,
es gab Vergebung für nebulöses Bedauern ohne konkretes
Schuldbekenntnis und es gab vor allem keinen Versuch, von den
Tätern die konkrete Aussöhnung mit ihren Opfern zu fordern.
Im Gegenteil: Die christliche Vergebungs- und Versöhnungsbotschaft
wurde missbraucht, um Opfern, die auf juristische Verantwortung der
Täter drängten, mangelnde Versöhnungsbereitschaft
vorzuwerfen, mitunter mit deutlich antisemitischen Untertönen.
Kellenbachs These ist eine doppelte: Zum einen zeigt sie schlüssig
das Versagen der Nachkriegspraxis gegenüber den traditionell
anerkannten Kriterien christlicher Bußpraxis auf. Zum anderen
zeigt sie aber auch eine Schwäche der christlichen
Versöhnungstheologie: dass sie nämlich von einer
christologische All-Versöhnungs-Überzeugung her die Opfer und
die tätige "Wiedergutmachung" vergessen hat. "Eine
Versöhnungstheologie, die sich anmaßt, stellvertretend
für die Opfer zu vergeben, verletzt ihre Menschenwürde erneut
und setzt das Unrecht der Vergangenheit fort." (271) "Solange das
christliche Bekenntnismodell die Opferperspektive auf die Täter
ignoriert, weil die Versöhnung ausschließlich auf Gott hin
ausgerichtet ist, wird es schwer sein, die massiven Abwehrstrategien
und Leugnungsmechanismen der Täter wirksam zu brechen." (265) Es
gibt keine Versöhnung ohne Veränderung der
Machtverhältnisse zwischen Tätern und Opfern. Das gesamte
Buch erzählt zahlreiche Geschichten davon, dass dieses
Verhältnis in Deutschland nach 1945 weiter bestehen blieb, obwohl
sich doch angeblich alles verändert hatte. Dass ausgerechnet die
Theologen dies selbst nach Jahrzehnten nicht sehen wollten, bleibt als
bitterer Nachgeschmack der Lektüre. Die These von Kellenbachs, die
auf Mt 3, 23 f. (dazu 272) und den jüdischen Hintergrund dieses
Jesus-Wortes beharrt, sollte systematischer, praktischer und
politischer Theologie noch einiges zu denken geben.
Rezensent:
Gregor Taxacher
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