Nicole Wiedenmann, Revolutionsfotografie im 20. Jahrhundert. Zwischen Dokumentation, Agitation und Memoration, Köln 2019, Herbert von Halem Verlag, 555 S., 131 Abb., 42.- €, ISBN: 978-3-7445-1204-6.
Wem wäre nicht das Foto des 1967 von Militärs erschossenen und in einem
Waschhaus aufgebahrten Che Guevara geläufig, wem nicht das des fallenden
Soldaten von Robert Capa (1936), das womöglich aber von Gerda Taro stammt? Das
Spektrum der Arbeit von Nicole Wiedenmann geht jedoch über solche ikonischen
Repräsentationen weit hinaus: Es reicht von einer Zeichnung junger
Barrikadenkämpfer in Berlin 1848 bis zu den Kommunarden von Paris 1871 und den
Sandinisten 1979. Es taucht die serielle Selbstinszenierung Hitlers als Rhetor
ebenso auf wie die Benito Mussolinis als Massenagitator. Es sind nicht nur die
triumphalistischen Bilder von Revolutionären und Kämpfen revolutionärer
Qualität, sondern auch die stillen, wie die des sterbenden Studenten Benno
Ohnesorg, der 1967 vom Westberliner Polizeibeamten (und Ostberliner
SED-Mitglied) Kurras erschossen wurde. Diese Fotografie wurde zu einer Ikone der
Studentenbewegung und ging ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik ein.
Diese Kategorie des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses wird im Zuge
des Untersuchungsdesigns von Nicole Wiedenmann mehrfach und zentral
aufgegriffen.
Bei der Arbeit von Wiedenmann, die an der Universität
Erlangen lehrt, geht es um mehr als die Dokumentation und Ausdeutung eines fest
umrissenen fotografischen Genres. Es werden kulturtheoretische Dimensionen des
Themas erläutert und der theoretische Rahmen der Untersuchung eingehend
abgesteckt. Diese wurde anfänglich von Aleida Assmann betreut, was die
Akzentsetzung auf „Memoration“ nahelegte. Gemeint ist, dass Revolutionsbilder
zirkulieren, tradiert und erinnert werden, dass sich Kanones entwickeln und sich
so übereinstimmende „formale Parameter“ der Bildrhetorik und der Pathosformeln
ausbildeten. Es werden die Fotos revolutionärer Körper behandelt und
deren „fotografische Inszenierung …, (die) Verflechtung mit und Überschreibung
durch revolutionäre Symbole und schließlich deren Ersetzung durch eben diese
Symbole“ (S. 19) berücksichtigt.
Das erste Kapitel leistet zunächst eine
begriffsgeschichtliche Herleitung von ‚Revolution‘ (S. 20-57). Indes, da man
Revolution schwer definieren könne, rekurriert Wiedenmann auf das Moment einer
„besseren Welt“, die, häufig chiliastisch ausgeprägt, im Revolutionsbegriff
eingeschrieben sei (S. 41). Es beanspruchten im Übrigen während des 20.
Jahrhunderts nicht nur Linke, sondern genauso Islamisten, Konservative und
Nationalsozialisten revolutionäre Qualität für sich. Letztlich hebt die Autorin
auf Revolution als legitimatorische Selbstermächtigungsformel ab (S. 57).
Im zweiten historiographiegeschichtlichen und kultursoziologischen Kapitel
(S. 58-142) unterstreicht die Verfasserin, dass und wie die Bilder
revolutionärer Ereignisse ohne eine Berücksichtigung diskursiver Elemente und
insbesondere, und mit Nachdruck, der „notwendig“ performativen Akte der
Revolutionäre nicht sinnvoll gedeutet werden können. Damit kommt die Kategorie
der Öffentlichkeit von Revolutionen ins Spiel. Offensichtlich haben
Revolutionen sehr viel mit Schauspielen zu tun, die wiederum auf eingeführte
Symbole und Rituale zurückgreifen, und so verhalten sich Revolutionäre wie
Medien-Stars (S. 115). Wiedenmann präsentiert ausführlich den Bildkanon der
Pariser Kommune (S. 124-130), dessen Topik sie von Delacroix ableitet, und der
konterrevolutionär vereinnahmt wurde (S. 209). Die starren Fotografien der
reichlich anachronistischen Pariser Barrikaden, so erscheint es dem Rezensenten,
waren indes wenig dazu geeignet, den Bewegungsmodus von Revolution zu
reproduzieren und die Gleichzeitigkeit von revolutionärem, medialem und
politischen Wandel zu belegen, welche die Autorin postuliert. Schon eher zeigt
sich das Bewegungsmotiv bei den auf Barrikaden tanzenden 48er-Kämpfern (im
Medium der Lithografie) oder bei den gegen die Truppen des Warschauer Paktes
protestierenden Jugendlichen (S. 132, 137).
Das dritte Kapitel über
„Revolutionsfotografie als Instrument der Dokumentation, Memoration und
Agitation“ (S. 143-226) entfaltet sich ebenfalls auf bild- und
medientheoretischem Terrain. In der Tat haben gerade Fotografien für die
politische Bildpraxis besondere Relevanz. Sie stellen demnach nicht nur
Fixierungen von Ereignissen dar, sondern beeinflussen durch ihre Präsenz (und
ihre Aneignung, diesen Begriff vermisst man) selbst die Geschehnisse.
Zeichenprozesse, Performanz und Bild sind miteinander „verschlungen“. Es gibt
deshalb durchaus eine „Realität“, die mit Texten/Bildern/Diskursen aber
vermittelt ist, die sie wiederum mit-konstituieren. Mit dieser theoretischen
Grundsatzerklärung setzt sich die Autorin vom extremen Konstruktivismus ab (S.
64, 71, 145).
Heinrich Heine nahm für sich in Anspruch, daguerreotypische
Geschichtsbücher zu schreiben und verwies damit nicht nur auf die neue
Medientechnologie, sondern beanspruchte mit dieser Aussage, reale Ereignisse und
Zusammenhänge präzise und wahrhaftig darzustellen (S. 159). Heine kommentierte
ja nicht nur, sondern nannte reportagenhaft die Orte und Akteure revolutionärer
Ereignisse. Folgerichtig kommt die Erklärung dokumentarischer Fotografien ohne
die Ausdeutung bildbegleitender Texte, ohne die Suche nach Urhebern von Fotos
sowie Anlässen und Orten des Geschehens nicht voran (S. 176, 183), und hierbei
kann man getrost auf das Repertoire der Geschichtswissenschaft zurückgreifen.
Indes ist festzustellen, dass sich die Autorin mit den Betextungen ihrer Bilder
nicht näher beschäftigt. Noch schwieriger wären aber prozesshafte Verknüpfungen
und Vernetzungen in der Sphäre des kollektiven Gedächtnisses zu
operationalisieren. Wieder auf leichter zu eruierendem Boden befindet man sich
bei den Fragen nach der „medienspezifischen Kanonbildung“ (S. 201) und der
Funktion von Fotografie als Agitationsinstrument. Auch das Problem, was an
Doku-Fotos „authentisch“ ist, hat sich inzwischen im methodischen Repertoire der
Bildgeschichte etabliert. Mit der Frage danach, wie weit sich Fotografien nicht
nur als Dokumente, sondern als bedeutungsgenerierende Symbole darstellen, sind
weitere kulturhistorische Dimensionen angelegt. Solche Problemstellungen an der
Grenzlinie von ästhetischer Theorie, Medien- und Geschichtswissenschaft eröffnen
ein weites Forschungsfeld.
Auch die Frage nach der „Affektmobilisation“
durch „Agitation“ ist im Zusammenhang des Untersuchungsgegenstandes besonders
einleuchtend. Die Studentenrevolte von 1968 erhielt sicherlich Schwung durch
Fotografien, die zu agitatorischen Zwecken eingesetzt wurden. Da sie aber
gleichzeitig in ‚herrschenden‘ Medien wie der Bild-Zeitung massiv auftauchten,
lief ihre gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung anders ab, als es den Intentionen
der Bildurheber entsprach.
Das vierte Kapitel (S. 227-507, es nimmt also
mehr als die Hälfte des Buches ein) bringt dann, ebenso fundiert und
hervorragend organisiert, „exemplarische Analysen von Revolutionsfotografien“.
Hier dürfen sich die Leser/innen ein wenig zurücklehnen und die gebotenen
Interpretationen und Einordnungen in jeweilige Diskursformationen aus ihrem
eigenen Geschichts- und Bilderwissen heraus überprüfen.
Nicole
Wiedenmann hat ihr Bildmaterial recht pragmatisch ausgewählt - im Hinblick auf
die Zwecke der Untersuchung, nach Maßgabe der Zugänglichkeit (S. 232f.),
aufgrund des Ziels, es auch auf symbolische Gehalte hin zu untersuchen (S. 235),
und durch eine praktische Entscheidung: Jedes Ereignis soll prinzipiell durch
nur ein Einzelfoto repräsentiert werden, aber insgesamt sollte genügend Material
vorhanden sein, um größere Strukturen, Prozesse und die Momente der
Mythenbildung klären zu können.
Das Kapitel arbeitet sich dann zu
weiteren öffentlichen Bildern vor, die von revoltierenden Massen, aber auch der
friedlichen Suffragetten-Demonstrationen von 1913/1917 (S. 277). Die
Bildmanifeste militanter Suffragetten, die wachsend einen Märtyrertopos
bedienten, folgten dem Urbild des Märtyrertums in Davids „Tod des Marat“ (S.
363). Unerlässlich musste das Motiv des „Revolutionsführers als Rhetor“ in das
Tableau aufgenommen werden. Der Bogen spannt sich von Camille Desmoulins bis zu
Lenin, der als göttliche Macht inszeniert wurde. Neben Hitler, der seinen
eigenen Führerkult durch die Anfertigung rhetorischer Posenfotos einübte, die
sogar kommerziell vertrieben wurden (S. 315), wird auch Mussolini einbezogen,
der mit seinen grotesken Formen an die Antike anknüpfte und damit bei vielen
Italienern gut ankam (S. 323, 333).
Am Ende dieser reichhaltigen Studie
stehen die Akte moderner Bilderstürmer, der ‚Mauerspechte‘ von 1989, die auf den
Bildervorrat des Bastillesturms von 1789 zwar nicht bewusst zurückgriffen, sich
aber gleichermaßen eines gehassten Symbols der Unterdrückung entledigten.
Wiedenmann ist es gelungen, ihrer bildanalytischen Untersuchung einen komplexen
und gut nachvollziehbaren theoretischen Rahmen zu geben. Insgesamt überzeugt ihr
Bildkorpus, das freilich recht ausgeweitet wurde, weil auch der zugrunde gelegte
Revolutionsbegriff weit gefasst wurde. Es tauchen hier nicht nur explizite, als
solche bewusst verstandenen Revolutionen auf, sondern auch die Bildlichkeit von
Krieg, von Demonstrationen, von Reden (wie die Castros), deren Vermittlung mit
dem Thema der Revolution nicht immer eindeutig ist. Wenn man an den
Sozialdokumentarismus von Jacob Riis und Lewis Hine in den USA um 1900 (S. 209)
denkt, verweist dieser tatsächlich auf Agitation, der Zusammenhang zu
Revolution kann aber nicht hergestellt werden, denn zum Ersten
verfolgten diese beiden Fotografen ihre beruflichen Ziele und zum Zweiten ging
es ihnen um die Durchsetzung von Sozialreformen. Schließlich ist das von
Wiedenmann betonte Element der Zirkulation von Revolutionsbildern sehr
plausibel, die man nicht nur von der Vergangenheit herkommend (im Sinne von
Dispositiven) verstehen sollte, sondern auch innerhalb der jeweiligen
historischen Medienensembles und damit als Transfer zwischen verschiedenen
Medien - ein Gesichtspunkt, der freilich allzu weit in die allgemeine
Mediengeschichte hineingeführt hätte.
Zum Rezensenten:
Dr. Clemens Zimmermann ist Professor für Kultur und Mediengeschichte an der
Universität des Saarlandes.
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