Katharina Ebner, Homosexualität als Gegenstand parlamentarischer Debatten im Vereinigten Königreich und in der Bundesrepublik Deutschland (1945-1990), Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit, Band 13, Göttingen 2018, Vandenhoeck & Ruprecht, 346 S., 70,00.? €, ISBN: 978-3-525-37061-2


Um mit dem Wesentlichen zu beginnen: Diese im Wintersemester 2016/17 an der Kath.-theol. Fakultät der LMU München als Dissertation im Fach Neuere und Mittlere Kirchengeschichte (Prof. Dr. Franz Xaver Bischof) angenommene „Studie zu den religiösen Bezügen in parlamentarischen Debatten über Homosexualität“ (S. 301) vermag in bewundernswerter Weise ein wenig erforschtes Kapitel der „Rolle von Religion in postsäkularen Gesellschaften“ (ebd.) zu beleuchten. Mit ihrer Schwerpunktsetzung auf die Homosexualität hat die Verfasserin (derzeit Leiterin der Nachwuchsgruppe Herrschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Würzburg) ihren Fokus bewusst jenseits einer rein kirchengeschichtlichen Darstellung des Zusammenspiels von politischen und religiösen Kräften in parlamentarischen Debatten der Nachkriegszeit gesetzt. Das obiectum disputationis, die Straffälligkeit homosexueller Handlungen, bietet seit jeher eine herausragende Angriffsfläche für ethische Erwägungen und Bewertungen, gerade dann, wenn sie auf dem Hintergrund religiöser Bezugnahmen erfolgen. Wer sich also über Strafbarkeit von Homosexualität und homosexuellen Handlungen Gedanken macht, der kann logischerweise ihren (z.T. religiösen) Bewertungshorizont nicht ausklammern. Ausdrücklich macht sich die Verfasserin zu Beginn ihrer Untersuchung folglich die Perspektive der an der Debatte beteiligten christlichen Konfessionen zu eigen: „Aushandlungsprozesse zum Einfluss und zur Sichtbarkeit von Religion in der Gesellschaft, die auf der Ebene von Recht und Politik verhandelt werden, erfordern eine Bearbeitungsweise, die die beteiligten Konfessionen und Religionen einschließt.“ (S. 9)

Dies wird noch weiter auszufalten sein, soll jedoch schon an dieser Stelle einen wichtigen hermeneutischen Umstand begründen: Ich verfasse diese Rezension als Moraltheologe, allenfalls aus der Perspektive eines theologischen Moralhistorikers, jedoch nicht aus rein historischer. Damit soll, wie schon angedeutet, der oben formulierte Anspruch an diese Arbeit in der Schnittstelle zwischen Politik und theologisch begründeter Ethik eingelöst werden.

 

Einleitung und inhaltlicher Aufriss

In ihrer Einleitung stellt die Verfasserin zunächst die Aktualität ihres Anliegens heraus, indem sie auf eine parlamentarische Bewertungsrevision hinweist, nämlich die Aufhebung der wegen homosexueller Handlungen nach § 175 StGB erlassenen Urteile und die Entschädigung bzw. Rehabilitierung der Verurteilten durch ein am 24.4.2017 vom Bundestag verabschiedetes Gesetz (S. 7). Dieser Vorgang wird parallelisiert mit der von Königin Elisabeth II. ausgesprochenen postumen Rehabilitierung des homosexuellen Mathematikers Alan Truring (1912-1954). (S. 8) Damit wird schon zu Beginn jener Akzent gesetzt, der die Arbeit im Überschneidungsfeld von Recht und Moral verortet und von daher auch eine rein politikhistorische Betrachtung als zu oberflächlich erscheinen lässt. Sehr viel Mühe verwendet die Vf.in darauf, den deutsch-britischen Vergleich nicht allein aus der Sozialgeschichte, sondern auch aus einer konfessionsübergreifenden shared history heraus zu begründen (S. 9-13), die sich in der Nachkriegsentwicklung hin zu einer postkonfessionellen Gesellschaft in beiden Ländern ohnehin ergeben habe. M.E. erscheint durch den Fokus auf die Parlamentsdebatten zweier grundsätzlich säkularer Staaten der überkonfessionelle Hintergrund schon hinreichend plausibel, wobei aus der geschichtlichen Vorprägung die jeweiligen konfessionellen Anknüpfungspunkte ebenso ersichtlich sind. Ein dritter einleitender Schwerpunkt wird in der Begriffsbestimmung ausgemacht: Was genau ist unter „Homosexualität“ zu verstehen? (S. 14-15) An dieser Stelle verweist die Vf.in korrekt auf die Unterscheidung zwischen Handlung und Neigung bzw. persönlichem Identitätsmerkmal, die geschichtlich in gleicher Weise mit jener Vokabel verbunden worden waren und ihren Begriff zu einem vielschichtigen werden ließen. Die Homonymie der Vokabel „Homosexualität“ spiegelte sich also in verschiedenen Begriffen. Dies systematisch herauszustellen und jeweils in der Analyse zu kennzeichnen (welcher Begriff von Homosexualität wird hier oder dort verwandt?) wäre sicherlich gerade im Folgenden hilfreich gewesen. Der Forschungsüberblick konzentriert sich auf das Feld „Religion im politischen Raum“ (S. 15-17) und berücksichtigt auch Studien zur Geschichte der Sexualethik (A. Angenendt, allerdings als Kirchenhistoriker) [1], wobei spezifisch moraltheologische Studien zur Homosexualität eine eher untergeordnete Rolle spielen. Das hierzu jüngst veröffentlichte Sammelwerk von S. Goertz [2] wird leider nur von dessen Einleitung her fruchtbar gemacht, es bietet jedoch weitaus mehr für die systematische Analyse nutzbare Untersuchungen (z.B. die Kategorisierung der antihomosexuellen Diskurse unterschiedlicher Konfessionen bei M. Brinkschröder [3]. Dennoch beeindruckt die Spannbreite gerade der zitierten englischsprachigen (größtenteils historischen) Untersuchungen zum Thema. Hier fließen dann auch spezifisch anglikanische und protestantische Perspektiven mit ein. In einem abschließenden Überblick versucht die Vf.in das konfessionelle, gesellschaftliche und politische Feld des untersuchten Zeitraumes in der Bundesrepublik Deutschland und im Vereinigten Königreich (1945-1990) zu sondieren, wobei nicht nur soziologische Daten, sondern auch kirchenpolitische und moraltheologische Weichenstellungen im Zuge des 2. Vatikanums eine Rolle spielen, was auch für die Bewertung der Homosexualität Konsequenzen hatte. (S. 26-33) Allein aus diesem Kapitel wird abermals deutlich, welch großes Gewicht der moraltheologischen Bewertung von Homosexualität in den nun folgenden Analysen zugestanden wird.

 

Leitfragen der Analyse

Aus dem Vorherigen ergeben sich drei Leitfragen, die für die gesamte Arbeit bestimmend sein werden:

Erstens: Untersuchung des „Verhältnisses von Christentum und Rechtsordnung“ (S. 32), einschließlich der Rolle von Moral und deren inhaltliche Bestimmung. An dieser Stelle dürfte es also um Begründungsmodelle gehen, die sich aus den sich überschneidenden Interessenshorizonten von gesellschaftlicher und konfessioneller Identitätswahrung ergeben.

Zweitens: Regulierung von Sexualität als Kondensationspunkt von Gemeinwesen und Individuum. Hierdurch werden Zuständigkeitsfragen des Staates als regulierende Instanz im Bereich persönlicher Moralität in den Blick genommen.

Drittens: Integration von neuen Wissensbeständen, woraus sich neue Werturteile hinsichtlich der Homosexualität ergeben (und zwar sowohl auf konfessioneller als auch auf politischer Seite).

Diese drei ethisch dimensionierten Leitfragen müssten nun auch in der Gliederung klar erkennbar bleiben. Die Verfasserin wählt hingegen einen anderen Weg, indem sie der Gliederung ein historisches Raster unterlegt: Teil 1 ist dem Aufbruch der Nachkriegszeit gewidmet, der die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen debattiert hatte (1945-1969), Teil 2 widmet sich den Aushandlungsprozessen der Entkriminalisierung von Homosexualität (1967-1979), während Teil 3 die Spezifika der konservativen Wertedebatte (1980-1990) herauszustellen sucht. Den zuvor genannten drei Leitfragen wird hingegen eine hermeneutische Funktion hinsichtlich der Analyse zugestanden. Dies stärkt sicherlich die Lesbarkeit der gesamten Studie, geht aber ein wenig zulasten des inhärenten analytischen Interesses.

 

Methodische Anfrage

Ferner ist zu bemerken, dass an dieser methodisch bedeutsamen Stelle keine systematische Darstellung des analytischen Instrumentariums erfolgt. Wer beispielsweise im Hinblick auf die homosexuelle Orientierung zwischen einer ethischen Neubewertung aufgrund von veränderten wissenschaftlichen Erkenntnissen und aufgrund ihrer politisch-gesellschaftlichen Signalwirkung unterscheidet, bewegt sich bereits in unterschiedlichen Begründungsmustern (deontologisch versus teleologisch). Somit ist es angesichts des Vorhabens, die Rolle von religiösen Argumentationen hinsichtlich eines sexualethischen Themas innerhalb von parlamentarischen Debatten untersuchen zu wollen, dringend notwendig, sich der moraltheologischen Positionen der beteiligten unterschiedlichen christlichen Konfessionen zur Frage der Homosexualität eingehend zu vergewissern. Dies wird wie gesagt in der Einleitung zusammenfassend angedeutet (S. 27-32) und später stellenweise angerissen, jedoch nicht explizit und in der Gliederung nachvollziehbar an der jeweils passenden zeitgeschichtlichen Stelle ausgeführt. Um noch konkreter zu werden: Als Moraltheologe hatte ich mich schon darauf gefreut, durch diese Arbeit auch die Positionen der unterschiedlichen protestantischen sowie der anglikanischen Kirchen zur Homosexualität einschließlich ihrer Begründungsmuster und -zusammenhänge kennenzulernen. Sie bilden quasi den argumentativen Untergrund jener parlamentarisch geäußerten Positionen, die die Verfasserin mit so viel Akribie und Sachverstand zusammengetragen und zeitgeschichtlich eingeordnet hat.

 

Normierungsmodelle

Diesen Punkt möchte ich am Beispiel der Debatte um den sogenannten Wolfenden Report (veröffentlicht im September 1957) im britischen Parlament deutlich werden lassen. Dabei handelt es sich um den Abschlussbericht eines von der Regierung eingesetzten Fachkomitees unter der Leitung von Sir John Wolfenden zum legislativen Umgang mit der Homosexualität, der sowohl ihre Pathologisierung ablehnte als auch eine strikte Trennlinie zog zwischen privatem sexuellen Verhalten und öffentlich sanktionierter Moral. (S. 56-57) Im Verlauf der prägnanten wie auch kohärenten Nachzeichnung der öffentlichen sowie parlamentarischen Debatte (S. 59-82) wäre es nun sehr hilfreich gewesen, den Sündenbegriff der beteiligten Konfessionen zumindest von den Grundlagen her anhand zeitgenössischer Moralhandbücher aufzuarbeiten: Inwieweit ist zwischen Sünde (sin) und Verbrechen (crime) im Bereich des sexuellen Verhaltens zu unterscheiden? Auf eben diese Unterscheidung nahm beispielsweise der Abgeordnete Llewelyn Williams im Dezember 1958 für die katholische bzw. die anglikanische Kirche ausdrücklich Bezug. (S. 75) Letztlich steht dahinter neben der Trennung zwischen Privat und Öffentlich auch die Frage nach dem Geltungsgrund derjenigen sittlichen Prinzipien, auf die man sich in der Debatte um die rechtliche Sanktionierung von homosexuellen Handlungen sowohl von Seiten der Kirchen als auch der konfessionell geprägten Abgeordneten berufen hat. Hier wäre an erster Stelle das naturrechtliche Begründungsmodell zu nennen, welches beispielsweise der Kategorisierung von Homosexualität als natural sin bzw. unnatural vice unterliegt. (S. 77) Dieses deontologische Normierungsmodell beansprucht eine Allgemeingültigkeit, die sich nicht notwendigerweise von einem theologischen Kontext herleiten muss und sich von daher auch in der deutschen Debatte unter dem Stichwort des „Sittengesetzes“ wiederfindet. (S. 105) An zweiter Stelle stünde eine theonome Begründung, die sich zumeist auf biblische Aussagen stützt (S. 74, 166f. – schottische/nordirische Debatte) und einen christlichen Wertehorizont voraussetzt. An dritter Stelle könnte man ein kommunitaristisch-teleologisches Normierungsmodell ausmachen, das sich letztlich als Kondensat der gelebten moralischen Traditionen versteht und sich auf das sittliche Empfinden des Bürgers beruft. (S. 85) Es finden sich in der Debatte aber auch teleologische Argumentationsfiguren, die bestimmte sexuelle Verhaltensweisen als „schädlich für die Menschheit“ (S. 77 – Lord Denning) abqualifizieren und von daher staatliche Sanktionen begründen. Zu guter Letzt sei hier auch noch das beziehungsethische Argumentationsmodell des Bischofs von Guildford erwähnt (S. 171f.), welches ebenso zu den teleologischen zu zählen ist. Aus diesen wenigen Kategorisierungen ergäbe sich ein ethisch-systematisches Raster, welches bei der Analyse der Argumentationen (= normativ-ethischen Begründungsfiguren) sicherlich hilfreich gewesen wäre.

Die gesamte Arbeit hätte ebenso von einigen historisch-kritischen Anmerkungen zur Bibelhermeneutik der unterschiedlichen beteiligten Konfessionen profitiert (z.B. S. 77, 182f., vollständige Auflistung im Anhang, S. 342) und folgende eher pauschale Aussage der Verfasserin in den rechten Kontext gesetzt: „So zeigte sich, dass Bibel und religiöse Schriften und Traditionen als argumentative Grundlage für sehr unterschiedliche Positionen dienten.“ (S. 240) Gerade in diesem Feld existiert eine Vielzahl von Studien [4], die sich aus exegetischer Sicht mit eben diesen oft angeführten biblischen Aussagen kritisch auseinandersetzen

 

Fazit

Durch meine systematischen Einwürfe soll jedoch nicht das Verdienst dieser Arbeit geschmälert werden, welches mittels einer präzisen Nachzeichnung der parlamentarischen Debatten im Deutschen Bundestag und im britischen Parlament hinsichtlich des legislativen Umgangs mit dem Phänomen der Homosexualität die Bedeutung religiös motivierter Argumentationen herausstellt. Diese erscheinen für den britischen Bereich der fünfziger und sechziger Jahre auffälliger und markanter als in der Bundesrepublik, wo man beispielsweise auf biblisch begründete Argumentationsgänge weitestgehend verzichtete und auf das Naturrecht (S. 104) oder das „Sittengesetz“ (S. 187) rekurrierte. Die von der Verfasserin konstatierte Einflussnahme des sogenannten Volkswartbundes auf die Debatte mag in politischer Hinsicht ihre Berechtigung besitzen, ist allerdings als semi-offizielle Stimme der katholischen Kirche schwer zu belegen. (S. 112-117) Als Fazit der gesamten Untersuchung ließe sich festhalten, „dass im Verlauf des Untersuchungszeitraums die religiöse Bezugnahme in den parlamentarischen Debatten über Homosexualität sowohl in der Bundesrepublik als auch in Großbritannien deutlich abgenommen hat.“ (S. 298) Jedoch ist in gleichem Zuge anzumerken: „Eine lineare Liberalisierungstendenz lässt sich im Untersuchungszeitraum nicht belegen.“ (S. 299) So bleiben am Ende keine einfachen Antworten, wohl aber differenzierte Erkenntnisse von religiös durchwirkten politischen Diskursen zu einem bis heute weder kirchlich noch gesellschaftlich abschließend diskutierten sexualethischen Themenfeld.

Dieses gut lesbare und auch narrativ kohärente Werk wird durch einen übersichtlichen Anhang der jeweiligen debattierten und schließlich beschlossenen Gesetzestexte sowie durch ein Personen-und gut ausgefaltetes Sachregister sinnvoll abgeschlossen.

 

[1] Arnold Angenendt, Ehe, Liebe, Sexualität im Christentum. Von den Anfängen bis heute, Münster 2016.
[2] Stefan Goertz (Hg.), „Wer bin ich, ihn zu verurteilen?“, Homosexualität und katholische Kirche, Freiburg, Basel, Wien 2015.
[3] ebd. S. 279-322.
[4] vgl. bspw. die Beiträge von Th. Hieke und M. Theobald im bereits zitierten Sammelband von S. Goertz

 

Zum Rezensenten:

Dr. Rudolf B. Hein ist Professor für Moraltheologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster.

Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz