Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Band 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019, Suhrkamp Verlag, 1752 S., 58,00.- €, ISBN: 978-3-518-58736-2
Im Alter von überschrittenen neunzig Jahren hat der größte deutsche
Philosoph der Gegenwart, Jürgen Habermas, der auch „Hegel der BRD“ genannt
wurde, ein Magnum Opus mit den Erkenntnissen seines über sechzigjährigen
Lebenswerkes vorgelegt, das es in sich hat. Sein unglaubliches Wissen, sein
Verständnis der Zusammenhänge der Genese der Philosophie und seine eigene
Stellung zur Welt haben, wie es der Titel indiziert, nicht nur Bedeutung für die
Bücherregale einschlägiger philosophischer Fakultäten, sondern erweisen sich als
ebenso relevant für die Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklungen.
Der Begründer der „Theorie des kommunikativen Handelns“ führt die Leser durch
eine spannende Geschichte der okzidentalen Philosophie, die er am roten Faden
des Verhältnisses von Glauben und Wissen, von Religion und Vernunft narratiert.
Der 11. September 2001 mit seinen politischen Implikationen hat den Philosophen
sensibilisiert für die Grenzen des Säkularismus und die neue alte Bedeutung der
Religion im Denken von Individuen und Gesellschaften. Die christliche Religion
bietet, wie in diesem Werk sehr deutlich sichtbar wird, das Potenzial für
zivilgesellschaftliche Leistungen, wenn sie sich nicht dogmatisch zeigt. In
dieser Frage sind die Veränderungsprozesse im Denken des prominenten Vertreters
der Frankfurter Schule am deutlichsten auszumachen. Denn gerade in der
Auseinandersetzung mit dem Faktor Religion musste Habermas die Grenzen der
Vernunft und die Limitationen seines diskursuniversalen Prozeduralismus
einräumen.
Die entscheidende Frage, die Habermas umtreibt, ist, mit Hilfe
welcher Strategien die Philosophie ihrer Aufgabe auch im nachmetaphysischen
Zeitalter treu bleiben kann. Diese philosophische Mission besteht für Habermas
darin, „das im lebensweltlichen Hintergrund verankerte intuitive Welt- und
Selbstverständnis der jeweils gegenwärtigen Generationen zu erklären und so weit
wie möglich im Lichte des wissenschaftlich akkumulierten und jeweils
verbesserten Weltwissens kritisch zu prüfen und zu korrigieren“ (Bd. 1,
S. 37, H. i. O.). In diesem Satz kommt das doppelte Selbstverständnis Habermas'
als sozialwissenschaftlicher Philosoph und politischer Intellektueller mit der
Tendenz zu Handlungsimperativen deutlich zum Vorschein.
Es ist nicht möglich,
die wichtigsten Essenzen dieses Werkes darzustellen, sodass an dieser Stelle
lediglich die Bedeutung der Religion für den modernen Verfassungsstaat in seinem
Werk dargestellt werden kann.
Der Weg in die rationale Moderne im
17. Jahrhundert
Die Trennung von Wissen und Glauben wird durch
die säkulare Herrschaftsbegründung der Vertragstheorie im 17. Jahrhundert mit
Descartes und Hobbes vollzogen. Die Instrumente der Argumentation, Analyse und
begrifflicher Klarheit ersetzen das metaphysische Prinzip bei der Erklärung der
Weltzusammenhänge. Die Begründung politischer Herrschaft beinhaltet die gezielte
Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst (Bd. 1, S. 148). Mit dieser
Hinwendung zur Subjektphilosophie nimmt der Denker die Perspektive der ersten
Person als Quelle eigener spontaner Leistungen ein und ersetzt die Perspektive
einer dritten Person, die ihre Subjektivität lediglich als Träger evidenter
Gewissheiten annimmt. Die Subjektphilosophie führt zu einer neuen, triangulären,
Konstellation: Philosophie, Wissenschaft, Religion. Und der Weg der Vernunft
spaltet sich für Habermas in dieser Epoche auf in die von Hume begründete
skeptisch-empiristische Richtung und die der transzendental-welterzeugenden
Vernunft. Humes Weg über die Kausalerklärungen forcierte den Szientismus, Kants
Vernunft-Apriori den Weg in die auf universalistischen Annahmen basierende
Vertragstheorie. Habermas kritisiert jedoch zu Recht den Glauben an eine
Teleologie der Vernunft und zweifelt an institutionellen Lernprozessen, die die
praktische Vernunft sukzessive ins Werk setzen (Bd. 2., S. 763), auch wenn diese
im Verfassungsstaat in vielfacher Weise ihren Ausdruck gefunden hätten.
Das Denken in Ganzheiten herüberziehen von der Metaphysik in die Moderne
Habermas gesteht mehrfach die Transformation eigener Positionen zu, was von
einer in intellektuellen Kreisen höchst seltenen Demut zeugt. Er habe im Jahre
1971 noch selber der Verwissenschaftlichung der Philosophie das Wort geredet und
dabei übersehen, dass dabei „ein systematisches Interesse an Stationen der
Geschichte der Philosophie als einem fortschreitenden Prozess der Probleme
eigener Art“ verloren ginge (S. 27). Wie aber kann die Philosophie in
nachmetaphysischer Gestalt dazu beitragen, ganzheitliche Antworten für das
Individuum und die Gesellschaft bereitzustellen? Die Philosophie braucht
Anleihen aus der rationalen Substanz der Metaphysik, um jenseits der
funktionalen Differenzierung der Gesellschaft eine komprehensive Lebenswelt
herzustellen. Hier kommt die Rolle der Religion ins Spiel.
Wachsende Wertschätzung für die Religion
Das Versprechen der
Moderne ist „unabgegolten“ - Kants radikaler Vernunftglaube muss in letzter
Konsequenz als gescheitert gelten. Die gegenwärtige Krise des liberalen
Verfassungsstaats, die sichtbar wird durch die Interventionen eines zügellosen
Kapitalismus auf der einen und populistischen und nationalistischen Kräften auf
der anderen Seite, ist für Habermas auch eine Krise politischer Vernunft. Eine
rein formalistische, prozedurale Rationalität reicht nicht aus. Die Religion
bekommt in Habermas' Sozialphilosophie ihren angemessenen Platz. Der liberale
Staat kann allgemeine Religionsfreiheit allerdings nur in dem Falle garantieren,
wenn die religiösen Subkulturen den freien und kritischen Diskurs der
gemeinsamen Zivilgesellschaft akzeptieren und damit die menschenrechtlichen
Codes der Verfassung. Wer hätte gedacht, dass sich der Philosoph der diskursiven
Rationalität einmal intensiv mit Augustinus oder Thomas von Aquin beschäftigen
würde? Die christliche Theologie des Mittelalters, vor allem die spanische
Spätscholastik speist die Entwicklungsgeschichte der Menschenrechte. Aber die
Legitimationsgrundlagen der weltanschaulich neutralen Staatsgewalt stammen für
Habermas letztlich aus den Quellen der säkularisierten Philosophie des 17. und
18. Jahrhunderts. In einem Dialog mit Kardinal Ratzinger vor dessen Berufung zum
Papst gab er zu: „Deshalb sind politische Tugenden, auch wenn sie nur in kleiner
Münze „erhoben“ werden, für den Bestand einer Demokratie wesentlich. Sie sind
Sache der Sozialisation und der Eingewöhnung in die Praktiken und Denkweisen
einer freiheitlichen politischen Kultur. Der Staatsbürgerstatus ist
gewissermaßen in eine Zivilgesellschaft eingebettet, die aus spontanen, wenn Sie
wollen „vorpolitischen“ Quellen lebt“ [1] .
Der Satz seines Lehrers Theodor W.
Adorno aus dem Jahre 1957 hatte Habermas lange beschäftigt: „Nichts an
theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen. Ein jeglicher wird der
Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.“ (II, S. 806).
Aus religiösen Quellen entwickelte Begriffe wie Verantwortung, Autonomie und
Rechtfertigung, Geschichte und Erinnerung, Neubeginnen, Innovation und
Wiederkehr, Emanzipation und Erfüllung, wie Entäußerung, Verinnerlichung und
Verkörperung, Individualität und Gemeinschaft haben eine menschenrechtlich
fundierte Säkularisierung ermöglicht. Habermas anerkennt die Leistungen von
Religion, indem er von einer postsäkularen Gesellschaft spricht.
Was fehlt und fehlen muss
Dieses Werk gibt Kunde von
unglaublichem Wissen und wird in hundert oder zweihundert Jahren in den Kanon
der ganz großen deutschen Philosophen von Kant über Hegel und Marx eingereiht
werden. Dennoch ist Habermas' Zeit deshalb vorbei, da sich die Philosophie
universalisiert hat. Die Hegemonie der okzidentalen Philosophie lässt sich nicht
halten. Philosophen und Themen wie Lao Tse, Zarathustra oder der Feminismus
werden von Habermas nicht berücksichtigt.
Dennoch bleibt Habermas mit seiner
vernunftbegleiteten Diskursethik der Philosoph, der die Philosophie des
Subjektes in eine Theorie fairer Intersubjektivität überführt hat: „Die
diskursethische Erklärung der Vernunftmoral ist ein Vorschlag zur
Detranszendentalisierung des kantischen Begriffs der Autonomie. Damit wird der
Gebrauch der praktischen Vernunft vom intelligiblen Ich auf eine intersubjektiv
ausgeübte Selbstgesetzgebung in praktischen Diskursen umgestellt; gleichzeitig
bleibt aber das einzelne Objekt die Instanz, die über Handeln und Unterlassen
entscheidet“ (II, S. 762). Die Tatsache, dass er die Grenzen der formalisierten
Rationalität erkannt hat, hat zu seinem Sich-Öffnen für den Faktor Religion
geführt, sodass er die Bedingungen für dessen produktive Integration in die
Gesellschaft formulieren konnte. Dies zeigt seine Bereitschaft, bis ins reife
Alter zu lernen und Positionen zu reformulieren. Zwar ist die schiere Länge des
doppelbändigen Werkes eine große Herausforderung, da jeder Satz seinen eigenen
Anspruch hat, dennoch ist die Lektüre dieses Magnum Opus ein Genuss und eine
Pflicht für Philosophen und sozialwissenschaftlich orientierte Intellektuelle
zugleich.
[1] Jürgen Habermas: Vorpolitische moralische Grundlagen eines
freiheitlichen Staates. In: Zur Debatte 1/2004. Jg. 34. S. 3. (Themen
der Katholischen Akademie in Bayern).
Zum Rezensenten:
Dr. Christoph Rohde war Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik München.
Seine Dissertation ‚Hans J. Morgenthau und der weltpolitische Realismus‘ erhielt
den Förderpreis der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahre 2002. Rode
ist als selbständiger Dozent im Bereich Volkswirtschaft und Medienpolitik für
verschiedene Bildungsträger tätig.
Refbacks
- Im Moment gibt es keine Refbacks
Tübingen Open Journals - Datenschutz