Trond Berg Eriksen/Håkon Harket/Einhart Lorenz, Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen 2019, Vandenhoeck & Ruprecht, 687 S., 50.00,- €, ISBN: 978-3-525-36743-8


Das erstmals 2005 in Oslo erschienene umfangreiche Kompendium zur Geschichte des Antisemitismus spannt einen weiten Bogen von der Abwendung der frühchristlichen Urgemeinden von ihrer jüdischen Mutterreligion bis hin zum vielschichtigen Antisemitismus der Gegenwart. Die Historiker Trond Berg Eriksen (geb. 1945) und Einhart Lorenz (geb. 1940) thematisieren zusammen mit dem Publizisten und Willy-Brandt-Biographen Håkon Harket (geb. 1961) gleich zu Beginn des Werkes die Vieldeutigkeit des Begriffs: „Ein Kennzeichen des Antisemitismus ist, dass den Juden kollektiv – als Rasse, Nation, religiös oder sozial definierte Gruppe – unveränderbare Eigenschaften zugeschrieben werden, die mit dem wirklichen Leben der Juden sehr wenig zu tun haben“ (S.13). Daraus folgt, dass es auch keinen stets unveränderten und „ewig währenden Judenhass gibt, sondern, dass Antisemitismus immer ausgehend von der jeweils konkreten Gesellschaft sowie den jeweils konkreten Verhältnissen analysiert werden muss, unter denen er auftritt“ (S. 14). Genau darin sehen die Autoren auch ihre Aufgabe. Sie untersuchen die historischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften, unter denen diese Ausgrenzungen bis hin zu Verfolgung und Mord geschahen und weiterhin geschehen. Geographisch liegt dabei der Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa, wobei aufgrund der Herkunft der Autoren auch sehr interessante und in anderen Darstellungen oft vernachlässigte Aspekte aus Skandinavien angeführt werden. Das Ganze ist übersichtlich gegliedert in 32 Kapitel zu je etwa 20 Seiten.

Die bis zur Theologie der Gegenwart kontrovers diskutierte Verhältnisbestimmung zwischen Judentum und Christentum behandelt Eriksen relativ kurz unter der Überschrift „Der alte und der neue Bund“ (S. 29-35). Wichtige Aspekte aus den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung werden benannt. Es zeigt sich allerdings hier so deutlich wie in keinem anderen Kapitel, dass die Autoren Historiker und keine Theologen sind. Die Fachbegriffe „Alter Bund“ und „Neuer Bund“ und deren Relationalität werden kaum geklärt. Angedeutet wird, dass der Konflikt letztlich auf einem beidseitigen Alleinvertretungsanspruch innerhalb des Monotheismus beruht. Die Aussage: „Die Juden fuhren jedoch bis zur Zeit Konstantins des Großen mit ihrer Missionstätigkeit in der hellenistischen Welt fort“ (S. 34) bedürfte einer erneuten Reflexion. Die Vision, dass zumindest am Ende der Zeit alle Völker in Frieden zum Berg Zion wallfahren, ist zwar seit der späten Zeit des Exils Israels in Babylon belegt. Das bedeutet aber nicht den Auftrag zu einer aktiven Missionierung der Völker durch die Juden. Auch wäre es bei aller dargelegten Differenzierung des Begriffs besser, hier nicht von einem „theologischen Antisemitismus“ (S.29) zu sprechen, sondern von einem religiös motivierten „Antijudaismus“.

Mit vielen Details und in anschaulichen Sprachbildern wird das Schicksal der Juden in der Diaspora beschrieben. Das jüdische Leben im spätmittelalterlichen Spanien (S. 55-70) zeigt sich jenseits wohlmeinender Verklärung und harmonisierender Idealisierung hier als durchaus komplex. Es gab zwar durchaus ein fruchtbares Miteinander der drei monotheistischen Religionen. Die Toleranz gegenüber den Juden war allerdings meist eher im Eigeninteresse sowohl der Christen als auch der Muslime. Die Autoren konnten bei ihren Untersuchungen noch nicht auf das erst später erschienene Buch von Georges Bensoussan „Juden in der arabischen Welt“ (deutsch 2019) zurückgreifen, das die zahlreiche Spannungen zwischen diesen Weltreligionen besonders in Spanien und Nordafrika dokumentiert.

 Spätestens infolge der Epidemien des 14. Jahrhunderts werden dann die Juden zu „Sündenböcken“ und „Brunnenvergifter[n]“ (vgl. S. 71-87). Diese Stigmatisierung führte später immer stärker zu der Ausbildung von Stereotypen, selbst wenn es im konkreten Alltag kaum Berührungen mit Juden gab. Eriksen zeigt dies anschaulich mit dem Hinweis auf die Schauspiele Shakespeares wie „Romeo und Julia“ oder noch stärker im „Kaufmann von Venedig“ (S. 115ff): „Das Besondere an der Entwicklung im England des 17. Jahrhunderts war, dass die Juden die religiöse Fantasie der Puritaner sowohl in Richtung Bewunderung als auch in Richtung heftiger Ablehnung anregten“(S.115). Das ambivalente Verhältnis spiegelt letztlich seinen merkantilen und wirtschaftlichen Rahmen: man brauchte Juden als Geldgeber und verachtete sie gleichzeitig gerade wegen dieser Tätigkeit: “Die Christen nahmen das Kreditgeschäft von Juden als eine Bestätigung für die moralische Unterlegenheit der Juden und sprachen selten über jüdische Kreditgeber, ohne Judas und die 30 Silberlinge zu erwähnen. Was Judas tat, wurde wirkmächtig“ (S.116).

Im kurzen Kapitel „Deutschland. Luther und die anderen“ (S, 103-113) wird auf Entwicklungen und Widersprüche beim selben Autor verwiesen. Während Luthers Schrift von 1523 „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ trotz Betonung des Primats der Christen für Toleranz und Verständnis wirbt, überwiegen 1543 in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ eindeutig massive Herabsetzung und Diskriminierung.

Auch das Verhältnis der Aufklärung zum Judentum war zweideutig. Baruch Spinoza (1632-1677) wurde gleichsam als Vorläufer des Zeitalters der Vernunft verehrt und in seinem Ausschluss aus der Synagoge ein allen aufgeklärten Menschen drohendes Schicksal erkannt. Auch Moses Mendelssohn (1729-1786) war anerkannter Gesprächspartner. Es zeigte sich jedoch bald auch bei zahlreichen Vertretern der Aufklärung eine „eigene Form des Antisemitismus. Die Juden seien nicht nur Repräsentanten ihrer eigenen Sturheit, sie hätten auch das Christentum in die Welt gebracht – ein nicht unbedeutender Schuldposten in den Augen der Propheten der Vernunft“ (S.141). Wie sehr diese Spannungen sich auch innerhalb des Judentums bemerkbar machen, zeigen nicht nur die zahlreichen Konversionen, sondern auch die Konflikte zwischen der innerjüdischen Aufklärung „Haskala“ einerseits und besonders dem osteuropäischen „Chassidismus“ andererseits. Letzterer intendierte gegenüber einer als einseitige Rationalisierung verstandenen Aufklärung eine ganzheitliche und auch körperbetonte Form der Religion. Unter Aufnahme von Elementen der jüdischen Mystik - insbesondere der Kabbala - geriet der Chassidismus allerdings in einigen Ausfaltungen in Osteuropa selbst wieder zu einem geheimnisvollen, antiaufklärerischen Mythos. Dieser bot dann wiederum zahlreiche Angriffsflächen für die Vertreter von Aufklärung und Rationalismus.

Der Antisemitismus im habsburgischen Österreich wird von Einhard Lorenz und Håkon Harket mit vielen Beispielen aus dem Bereich der Wirtschaft und Kultur aber auch der katholischen Kirche beschrieben (vgl. S. 325-364). Für Frankreich stellt besonders die so genannte „Dreyfus-Affäre“ am Ende des 19. Jahrhunderts den Tiefpunkt einer lang sich anbahnenden Entwicklung an – wiederum hingenommen oder sogar verstärkt durch kirchliche aber dann auch vermehrt durch sozialistische Kreise (365-381).

Wegen ihrer Unvergleichbarkeit wird die Schoa unter unterschiedlichen Aspekten ausführlich von den drei Autoren dargestellt und kommentiert. Die Pogrome in Osteuropa während und nach dem 1. Weltkrieg eröffnen die unsagbare Leidensgeschichte der Juden im 20. Jahrhundert. Die dadurch ausgelöste Flucht vieler Juden nach Mittel- und Südeuropa war dann wiederum für viele Einheimische ein willkommener Anlass, ihren überkommenen antisemitischen Vorurteilen freien Lauf zu lassen. Besonders die Rolle der katholischen Kirche wird im Werk unter dem paradoxen und zugleich erhellenden Titel „Der Wille zur Ohnmacht“ beschrieben (S. 505-524). Manches Detail wird wohl erst in den kommenden Jahren nach Forschungen in dem ab 2020 frei gegebenen Archiv des Vatikans ans Licht kommen und besser zu verstehen sein. Dies gilt nicht nur bezüglich der Gestalt von Papst Pius XII. Auch die Rolle seines Vorgängers Pius XI bedürfte einer eingehenden Aufklärung. War doch Pius XI, geboren als Achille Ratti, ab 1918 Apostolischer Visitator und ab 1919 als Nuntius des Vatikans in Polen. Seine Berichte über die zeitgleich stattfindenden Diskriminierungen und Verfolgungen der Juden in Polen beschönigen das Problem und verdrehen die Rolle von Täter und Opfer. Gegenüber den „ausgezeichneten Bischöfen und respektablen Priestern“ sieht Ratti viele „Einflüsse des Bösen“ und schreibt in einem Bericht nach Rom: „Einen der bösesten und stärksten Einflüsse, die man hier spüren kann, vielleicht der stärkste und böseste, kommt von den Juden“ (S. 511). Insofern wären die Juden selbst schuld an ihrer Verfolgung und Vertreibung.

Dass der Antisemitismus und somit der Hass auf Juden auch nach der Katastrophe der Schoa und nach Gründung des Staates Israel 1948 kein Ende gefunden haben, beschreiben die Autoren anhand vieler Beispiele aus Deutschland, Österreich und Osteuropa. Es gilt häufig die Diagnose: „Es hat sich von schlimm zu schlimmer entwickelt“ (S. 569). Auch die vielfach beobachtbare Steigerung berechtigter Kritik an der konkreten Politik Israels zu pauschalem Hass auf alles Jüdische wird dokumentiert. Insofern bestätigt das umfangreiche und gut dokumentierte Werk am Ende die These, die bereits im Einleitungskapitel aufgestellt wurde: „Die Geschichte, die zwischen diesen Buchdeckeln erzählt wird, ist nicht abgeschlossen“ (S. 17).


Zum Rezensenten:
Dr. Wolfgang Pauly ist Professor im Institut für Katholische Theologie, Universität Koblenz-Landau, Abteilung Landau.

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