Michael Hüttenhoff
Volksverbundene Kirche.
Emanuel Hirschs kontextuelle Ekklesiologie
(Abstract des Referats auf der Fachtagung „Theologie und Vergangenheitsbewältigung II. Französischer Katholizismus - deutscher Protestantismus 1930-1950“ vom 12. bis 14. Januar 2007)
1. Die Unterscheidung zwischen der
unsichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden und der sichtbaren Kirche
Die Gemeinschaft der Glaubenden in Christus ist nach Hirsch eine
verborgene und geistige. Als Glieder dieser Gemeinschaft seien alle
Glaubenden vor Gott gleich. Die sichtbare Kirche sei „lediglich
Christliches zweiter Hand“. Sie sei Menschenwerk. Ihre Gestaltung sei
keine Bekenntnisfrage, sondern „Vernunft und Gewissen“ seien „frei ...,
Kirche zu bauen gemäß eingesehener sachlicher Notwendigkeit
und nach der Regel der Liebe“. Diese Konzeption Hirschs
ermöglichte Kritik an der Gestalt der Kirche, aber öffnete
gleichzeitig der Fremdbestimmung Tor und Tür.
2. Hirschs kontextuelle Theologie
Hirschs Theologie ist im strengen Sinn kontextuell, indem sie die
Situation Deutschlands nach der nationalsozialistischen Machtergreifung
und die in dieser Situation lebenden Deutschen epistemologisch
auszeichnet. Die nationalsozialistische Revolution qualifizierte er
geschichtstheologisch als „Stunde“, in der Gottes „Fügung“ und
„Ruf“ zu vernehmen seien. Den im Erleben dieser Stunde gewonnenen
Einsichten schrieb er eine normative Bedeutung für Theologie und
Kirche zu.
3. Das Volk als Lebensmacht
Theoretisch versuchte Hirsch die Bedeutung des Volkes im Rahmen seiner
Lehre von den Geschichtsmächten, die eine Modifikation der
evangelischen Ordnungstheologie der 20er und 30er Jahre darstellte,
abzusichern. Er unterschied Lebensmächte, Ordnungsmächte und
Geistesmächte. Das Volk rechnete er neben Geburt und Tod sowie Ehe
und Familie zu den Lebensmächten und damit zur grundlegenden
Schicht der Geschichtsmächte. Das Volk habe als Lebensmacht eine
von Gott gesetzte Heiligkeit, die sich im Gewissen erschließe.
Die Heiligkeit des Staats (als Ordnungsmacht) und des Rechts sei von
der des Volkes abhängig. Da Hirschs Lehre von den
Geschichtsmächten, wenn man ihre Grundzüge akzeptiert, zwar
eine Vorordnung des Volks vor Staat und Recht begründet, aber
keine vor der als „systematisch äquivalent“ (Matthias Lobe)
eingeführten Lebensmacht Ehe und Familie, ist sie nicht in der
Lage, die Hervorhebung des Volks theoretisch zu rechtfertigen.
4. Die Forderung nach einer
deutschen Volkskirche
Weil auch die Kirche den Lebensmächten angemessen sein muss, soll
sie volksverbunden, d. h. Volkskirche sein. Ein Volk ist nach Hirsch
eine rassisch relativ einheitliche Gemeinschaft von Menschen, die durch
ein gemeinsames geschichtliches Schicksal und eine bestimmte Geist- und
Lebensgestalt (einen Nomos) miteinander verbunden sind. Die Forderung
nach einer deutschen Volkskirche zielte auf die Errichtung einer
rassisch relativ einheitlichen Kirche aller Deutschen in einem
selbstständigen Staat der Deutschen. Die Volksverbundenheit
schloss für Hirsch ein, dass die Kirche seiner Zeit die
völkische Weltanschauung und den nationalsozialistischen Staat
anerkennen müsse.
Die Forderung nach der Volkskirche untermauerte Hirsch unter anderem
durch folgende Argumente:
1. Volkskirchen werden der Tatsache gerecht, dass Völker
Kommunikationskreise sind und dass zwischen ihnen Kommunikationsgrenzen
bestehen.
2. Die Volkskirche entspricht dem Ideal der Reformatoren.
3. Wenn die Kirche sich von der völkischen Weltanschauung und dem
nationalsozialistischen Staat distanziert, komme es zu einer
Entfremdung vom deutschen Volk, die zur Gettoisierung und dem Ende des
Christentums in Deutschland führe. Das deutsche Volk brauche die
volksverbundene Kirche, weil für weite Teile des Volks die
religiöse Begründung des Ethos noch christliche Gestalt haben
müsse.
5. Hirschs Rechtfertigung des
kirchlichen Arierparagraphen
Die strikte Unterscheidung zwischen der unsichtbaren Gemeinschaft der
Glaubenden und der sichtbaren Kirche erlaubte es Hirsch, die Frage, ob
Nichtarier zum Pfarramt in der deutschen Volkskirche zugelassen werden
könnten, zu bagatellisieren. Wie andere Fragen der Kirchenordnung
könne sie aufgrund von Zweckmäßigkeitsüberlegungen
entschieden werden. Die Lage in Deutschland und das Angewiesensein von
Predigt und Seelsorge auf die Basis natürlichen Verstehens,
rechtfertigten für ihn die Übertragung des Arierparagraphen
in die Kirche.
6. Resümee
Hirsch hat die anspruchsvollste und deshalb intellektuell
verführerischste Formulierung des deutschchristlichen Projekts
erarbeitet. Die konzeptionelle Stärke seiner Theologie
überhaupt und seiner Ekklesiologie im Besonderen liegt in
dreierlei:
1. Sie zehren von einer hervorragenden Kenntnis der Theologie- und
Philosophiegeschichte.
2. Diese Kenntnisse erlaubten Hirsch, seine Konzeption auf
systematische Probleme zu beziehen und dadurch zu rechtfertigen, dass
er Lösungsvorschläge präsentierte.
3. Sein theologischer Ansatz hat ein starkes theologie- und
kirchenkritisches Potenzial.
Aber die Fähigkeit zur Kritik fiel gegenüber der
völkischen Weltanschauung und dem nationalsozialistischen Staat
aus. Die Unterscheidung zwischen der unsichtbaren Gemeinschaft der
Glaubenden und der sichtbaren Kirche schuf ein Vakuum, das die
völkische Weltanschauung füllte und in dem sie für die
Gestaltung der Kirche maßgeblich wurde.
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