theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Martin Leutzsch

Der Mythos vom arischen Jesus

(Abstract des Referats auf der Fachtagung „Theologie und Vergangenheitsbewältigung II. Französischer Katholizismus - deutscher Protestantismus 1930-1950“ vom 12. bis 14. Januar 2007)

Im 19. und 20. Jahrhundert haben mehr als einhundertsechzig Personen, darunter zwei Staatsoberhäupter, in Veröffentlichungen die Auffassung vertreten, Jesus sei kein Jude gewesen, sondern ein „Arier“. Meist werden nichtjüdische Vorfahren Jesu angenommen, die mit „Ariern“ identifiziert werden. Daneben wird der angeblich tiefe Gegensatz zwischen Jesus und „den“ Juden als Ausdruck unterschiedlicher „Rassenseelen“ erklärt.

Die heute fast vergessene Geschichte dieses rassistischen und antisemitischen Jesusbildes verläuft in vier Phasen.

(1) Zwischen 1800 und 1870 taucht bei einflussreichen Intellektuellen die Idee auf, Jesus sei rassisch kein Jude gewesen (Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte und Arthur Schopenhauer, Künstler wie Richard Wagner, Sprach- und Religionswissenschaftler). In den 1860er Jahren wird diese Behauptung weitergeführt, indem der Nichtjude Jesus als Arier bestimmt wird.

(2) Zwischen 1870 und 1918 werden diese Ideen systematisch ausgebaut und verbreitet. Führende Ideologen der völkischen Bewegung (wie Paul de Lagarde, August Julius Langbehn), Organisatoren der rasseantisemitischen Hetzpropaganda (wie Theodor Fritsch und Nietzsches Schwager Bernhard Förster), die führenden Gestalten der Wagnerianer, des Bayreuther Kreises (wie Hans Paul von Wolzogen, Houston Stewart Chamberlain), Verkünder von Weltanschauungen (wie Ernst Haeckel und Jörg Lanz von Liebenfels), Dichter und Schriftsteller (wie Johannes Schlaf und Gustav Frenssen), Orientalisten (wie Paul Haupt und Friedrich Delitzsch) und 1918 auch der erste Universitätstheologe (Reinhold Seeberg, der Doktorvater Dietrich Bonhoeffers) rufen eine öffentliche Debatte hervor: Oft miteinander persönlich oder organisatorisch verbunden, propagieren sie, die sich selbst als „Arier“ verstehen, Jesus als ihresgleichen. Auch ein Staatsoberhaupt ist davon überzeugt: Wilhelm II.

(3) Zwischen 1918 und 1933 ist der „arische“ Jesus politisch Symbol des nationalsozialistischen Antisemitismus (bei Adolf Hitler, Heinrich Himmler, Alfred Rosenberg, Hans Schemm, bei NS-Publizisten wie Artur Dinter oder dem braunschweigischen Ministerpräsidenten Dietrich Klagges, der Hitler die deutsche Staatsbürgerschaft verschaffte). Christlich-völkische Gruppierungen innerhalb des Protestantismus organisieren sich und grenzen sich mit Jesus dem „Arier“ zugleich vom aus ihrer Sicht „verjudeten“ Mehrheitschristentum ab. Auch ein Teil der neuheidnischen Religionsgründungen ist bereit, Jesus zu vereinnahmen, sofern er sich als „Arier“ erweisen lässt. Hinzu kommt die völkische Erwachsenenbildung, die den „arischen“ Jesus in ihre Lehrmaterialien aufnimmt. Der Intellektuellendiskurs der Vorkriegszeit setzt sich fort: Eine Reihe einflußreicher Hochschullehrer, die Rassetheorien entwickeln (besonders Hans Friedrich Karl Günther), klassifizieren Jesus als „Arier“.

(4) Zwischen 1933 und 1945 kommt es zu Konflikten an der Basis. Im Religions- und Konfirmandenunterricht vermitteln völkische und nationalsozialistische Pfarrer und Lehrer ihren SchülerInnen einen „arischen“ Jesus. Wo Lehrer und Pfarrer Jesus ausdrücklich als Juden verstehen, werden mit Hilfe von HJ, SA und Gestapo oft Konflikte inszeniert, die für die Betroffenen Folgen bis hin zu Versetzung, Ausweisung und KZ-Haft haben. In der NS-Politik gibt es zunehmend Zurückhaltung in Äußerungen zur Rassenzugehörigkeit Jesu: Der innerprotestantische Konflikt zwischen Bekennender Kirche und Deutschen Christen, die Uneinigkeit der Deutschen Christen selbst über Jesu Rasse, die weitgehende Ablehnung eines nichtjüdischen Jesus in der katholischen Kirche und die Jesus meist ablehnenden neuheidnischen Religionsgründungen machten deutlich, dass ein „arischer“ Jesus als religiöses Integrationssymbol für den nationalsozialistischen Staat untauglich war. Welche Bedeutung der „arische“ Jesus dennoch haben konnte, zeigen die Gespräche Hitlers im Führerhauptquartier. Noch am 30. November 1944, als er längst mit Kirche und Christentum nichts Positives mehr verbindet, betont Hitler: „Jesus war sicher kein Jude.“

Mit dem Ende des Nationalsozialismus verschwindet der Mythos vom „arischen“ Jesus nicht völlig. In einigen neuheidnischen Gruppierungen wird dabei an völkische Traditionen seit der Jahrhundertwende angeknüpft. Die Mazdaznan-Bewegung behauptet bis heute in ihren Veröffentlichungen, Jesus sei ein „Arier“ gewesen. In Veröffentlichungen, die Jesus aus Indien kommen lassen, fehlt nach 1945 die ausdrückliche rassistische Grundlage und die offene antisemitische Funktion; die Argumente sind weitgehend die gleichen wie seit den 1860er Jahren.

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