Norbert Reck, Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Zum Riss zwischen Dogma und Bibel. Ein Lösungsvorschlag. Ostfildern 2019, Matthias Grünewald Verlag, 189 S., 20,00.- €, ISBN: 978-3-7867-3180-1
Norbert Reck bietet mit seinem „Essay“, wie er das Genus seines Buches nennt, ein klares Konzept, das er im Vorwort skizziert und in seinen weiteren Darlegungen entfaltet: Immer mehr Menschen wenden sich vom Christentum ab. Den Grund dieser Abwendung besonders in Westeuropa verortet er in der Theologie und nicht in einer defizitären Selbstdarstellung des Christentums. Es ist nicht die Theologie im Allgemeinen, die den Auszug der Menschen aus Kirche und Christentum auslöst, sondern ihr „Zurückschrecken vor der jüdischen Identität Jesu seit dem Beginn der Moderne“. Die Konsequenzen dieses Zurückweichens seien weitreichend (7). Wie kommt der Autor zu seinem Urteil?
Die Zusammenhänge diagnostiziert er in mehreren Kapiteln. Das erste Kapitel „Skizze einer Krise“ (9-17) beginnt mit persönlichen Erinnerungen des Autors. In der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war die Kirche seiner Heimatgemeinde sonntags immer voll, während gegenwärtig die Zahl der Gottesdienst-Besucher*innen auf eine Gruppe von 20 bis 30 Gläubigen gesunken ist. Gegenüber diesem Gemeindeleben, das in den westeuropäischen Ländern ähnlich sei, zeigt sich das Christentum in der Südhalbkugel anders: wachsend, jünger und pluralistischer. Der Mitgliederschwund in westeuropäischen Gemeinden sei „eine Tiefenströmung“ mit alten Wurzeln. Er erfordere eine „Transformation“ als Prozess der Veränderung. In jeder Transformation stecken Verfall und Hoffnung.
Der Suche nach dem notwendigen Neuen heute geht die Anerkennung des Gewichts der Geschichte voraus, dem das zweite Kapitel „Alles ist Geschichte“ (18-39) gewidmet ist. Es konzentriert sich auf die Aufklärung, deren Philosophen Kritiker waren. Nach dem Erdbeben von 1775 in Lissabon protestierte Voltaire gegen die traditionellen Darstellungen der Geschichte, für die alles von Gott gewollt sei; er plädierte für innerweltliche Ursachen. Analog dazu folgerte Hermann Samuel Reimarus, dass das, was sich nicht als vernünftig erklären ließ, „Lüge oder Fantasterei“ sei. Ihm ging es um die Erkenntnis, die nicht hinter den Texten des Neuen Testaments zu finden sei, sondern in den Texten. Dies führte Reimarus dazu, Jesus nur vor dem Hintergrund des jüdischen Denkens seiner Zeit zu verstehen. Das rief in den Kirchen eine wachsende Beunruhigung wach. Theologen begannen im 18. Jahrhundert mit historischen Studien zur Bibel und richteten den Blick auch auf die christliche Dogmengeschichte. Es wurde zunehmend nach den historischen Rahmenbedingungen und Intentionen der biblischen Texte gefragt. Im westlichen Denken wurden die biblischen Geschichten nicht mehr ohne weiteres als bedeutsam aufgenommen. Norbert Reck stimmt der Sicht der Historisierung aller Lebensbereiche bei Wolfgang Stegemann zu: „Von jetzt an dienen nicht mehr die Bibel und ihre Erzählungen als Referenzrahmen der Welterfahrung. Vielmehr fragte man sich umgekehrt: Passen die Erzählungen der Bibel noch zur ‚wirklichen‘ Welt? Die Geschichten der Bibel werden seitdem einer Kritik – einer Prüfung – unterzogen, die ihren Maßstab an der Vernunft bzw. den Wissenschaften findet“ (37). Es gebe kein Zurück zum vorkritischen Denken. Dies fordert die Kirchen und die Theologie heraus.
Mit der These, dass die Kirchen nicht vornehmlich Opfer außerkirchlicher Entwicklungen seien, beginnt das dritte Kapitel „Ein Riss“ (39-66). Es sei besser, von einem „Riss“ zu sprechen, der mitten durch die Theologie und die Kirchen ging. Die dadurch angestoßenen Entwicklungen führten in der Theologie zur Trennung von Dogmatik und Exegese. In ihrer Auseinandersetzung mit der Aufklärung hat es in der Dogmatik sowohl ein interessiertes Zugehen auf das kritische Befragen bisheriger Sichtweisen als auch eine strenge Zurückweisung der historischen Betrachtungsweise der Bibel gegeben. In Reaktion auf die Revolution von 1848 orientierte sich die Geistlichkeit in Westeuropa konservativ, und die dadurch initiierte Neuscholastik hatte im Jesuiten Joseph Kleutgen (1811-1883) einen wichtigen Akteur. Der Vatikan förderte die Neuscholastik. Ihr standen historisch denkende Theologen kritisch gegenüber. Im Protestantismus ging die Auseinandersetzung zwischen Exegese und Dogmatik andere Wege. Dem geschichtlichen Blick auf die Bibel wurde entgegengehalten, dass die Evangelien keine historischen Berichte waren, sondern Ausdruck des Christusglaubens. Die exegetische Forschung sei kaum auf den Verkündigungscharakter der Texte eingegangen. Im Katholizismus versteht sich die Dogmatik traditionell als die eigentliche Theologie, während der Bibelwissenschaft länger untersagt war, historisch-kritisch zu arbeiten. Erst das Dokument Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils bezeichnete die Schrift als „Fundament“ und „Seele“ der Theologie. Und doch begegnet katholischen Bibelwissenschaftlern ein Argwohn. Der Kern der entsprechenden Auseinandersetzungen liegt in einer unterschiedlichen Wertung der menschlichen Geschichte.
Das vierte Kapitel „Auf der Suche nach Bedeutung“ (67-99) setzt mit der
Beobachtung ein, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Sichtweise auf Jesus
als bewussten und toratreuen Juden ungewohnt war. Wenn aber Jesus unbestreitbar
Jude war, was konnte er Christen lehren? Etliche christliche Theologen
zeichneten zum einen Jesus als einen, der sich selbst vom Judentum distanziert
habe, und erklärten zum anderen das Judentum der Zeit Jesu als überlebt. Auf
evangelischer Seite wurde Jesus als „Leuchtturmgestalt“ dargestellt, welche den
aufgeklärten Menschen des 19. Jahrhunderts als einzigartig erscheinen konnte.
Die Entdeckung des Jude-Seins Jesu wurde nicht als eine erfreuliche Botschaft
aufgenommen, sondern hatte etwas von einer Bedrohung an sich. Judenfeindliche
Motive flossen in die Werke nicht weniger Bibelwissenschaftler und liberaler
Theologen ein. Und ohne Herabwürdigung des Judentums schien einem aufgeklärten
Christentum eine Stütze verloren zu gehen. Es blieb nicht aus, dass jüdische
Forscher den christlichen Kollegen vorhielten, sie nähmen jüdische Forschungen
nicht zur Kenntnis; in ihren Arbeiten zeigten jüdische Autoren Jesus als einen
bedeutenden Juden, dem es zusammen mit Pharisäern um eine Erneuerung des
Judentums ging. Wie im Gegenzug polemisierten christliche Theologen gegen diese
jüdische Sicht und wiesen sie als minderwertig zurück. Das gehörte zum Umfeld
der Theologie von Joseph Kleutgen, der in seinem umfangreichen Werk keinmal über
den Juden Jesus sprach. Er konzentrierte sich auf Jesus Christus, den Sohn
Gottes und die zweite Person der Dreifaltigkeit, und würdigte die Juden als
Ungläubige und Gottesmörder herab.
Nach der Schoa aber waren solche
Herabwürdigungen theologisch nicht mehr möglich. Johannes XXIII. strich die Rede
von den „perfidi Iudaei“ aus der Karfreitagsliturgie, was jedoch noch
nicht zur Korrektur der traditionellen Christologie führte. Diese relativierte
die Eingebundenheit Jesu ins Judentum. In Nähe dazu zeigt Joseph Ratzinger in
seinem dreibändigen Jesus-Werk einen Jesus, der mit seiner Gottessohnschaft die
Grenzen des traditionellen Judentums überschreitet; in der weiteren
theologischen Thematisierung des Verhältnisses zwischen dem irdischen Jesus und
dem Sohn Gottes wird der jüdische Jesus zugunsten des Gottessohnes geopfert.
Norbert Reck fragt angesichts des Fehlens eines ausgeglichenen Verhältnisses zum
Judentum: „Was bedeuten nun diese Beobachtungen zum Antijudaismus und
Antisemitismus in der Theologie hinsichtlich unserer Ausgangsfrage, warum so
viele Menschen heute die christlichen Kirchen in Scharen verlassen?“ Er sieht
den springenden Punkt in der Zurückhaltung der Dogmatik gegenüber der konkreten
Geschichte, in der so viel Jüdisches zutage tritt. Damit sei ein Verlust an
Relevanz für die Menschen der Gegenwart verbunden und ein gefährlicher
„Herzfehler des Christentums“ entstanden. Die Kirche floh vor dem
Jüdisch-Historischen und entzeitlichte die christliche Botschaft. Die
Diesseitigkeit des Alten Testaments mit seinem vitalen Interesse an dieser Welt
wurde nicht rezipiert, sondern durch die Orientierung am zeitlosen Heil im
Christus-Glauben verdrängt. Das Christentum verlor an Bedeutung für das Leben
und an Erzählbarkeit seiner Geschichte. Daraus folgert der Autor, eine Theologie
zu suchen, die den jüdischen Jesus nicht mehr ignorieren, sondern kennenlernen
will. Was bedeutet der jüdische Jesus theologisch? Das Judentum ist
nicht länger als Konkurrenz um die Deutungshoheit über die biblischen Texte zu
begreifen, sondern als Gesprächspartner beim Verstehen der Fragen und Rätsel des
menschlichen Lebens.
Im fünften Kapitel „Nur Diskurse. Nur?“ (100-121) geht es darum, die Entwicklung der zurückliegenden 250 Jahre zu realisieren und die Erkenntnisse des geschichtlichen Denkens als Chance zu begreifen. Das Begreifen der Geschichte geht mit der Einsicht einher, dass der unmittelbare Zugang zur absoluten Wahrheit den Menschen nicht möglich ist. Gott ist größer als alle menschlichen Vorstellungen. Das aber macht den christlichen Glauben nicht belanglos. Es bleiben – hier macht Norbert Reck einen Grundbegriff im Denken des französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984) zum Leitbegriff seiner These –Diskurse. Wie kommt zustande, was in einer Gesellschaft als „Wissen“ oder „Wahrheit“ gilt? Es geschieht in Diskursen. Die Menschen bewegen sich in Diskursen, und die Diskurse bewegen sich in ihnen. Die Diskurse sind einem ständigen Wandel unterworfen. Es gibt „herrschende Diskurse“ und „Gegendiskurse“, so dass den einzelnen Menschen verschiedene Möglichkeiten der Positionierung offenstehen. Aus biblischen Texten, die einen längeren Prozess der Entstehung durchliefen, sprechen ganze Chöre von Beteiligten. In ihnen kommen Diskurse zur Sprache, die vielen wichtig erschienen. Zur Wiederentdeckung der inhaltlich-inneren Autorität der Bibel bietet sich die diskursorientierte Lektüre ihrer Texte an, was analog auch für dogmatische oder liturgische Texte gilt. Die Diskurse geben die Chance, dass die alten Texte wieder über das Leben und seine Bedeutung zu sprechen beginnen. Die Diskursanalyse kann Wichtiges zum Gespräch der unterschiedlichen Positionen beitragen. Sie hat kein Problem mit dem Jüdischen in der Bibel, sondern sieht darin die Grundlagen aller biblischen Betrachtungen.
Das sechste Kapitel „Die Diskurse der Narrative“ (122-167) will
veranschaulichen, was von der Weltsicht der biblischen Texte und ihren
Wahrheitsansprüchen ans Licht kommt, wenn man diskursanalytisch konsequent nicht
nach den Fakten „hinter“ den Texten Ausschau hält und auf metaphysische,
dogmatische und geschichtsphilosophische Vorannahmen ebenso verzichtet wie auf
die Einengung Gottes auf wenige Begriffe. Es ist die Vielstimmigkeit, in der die
Heiligkeit der Bibel zum Tragen kommt; denn nur sie engt Gott nicht ein, sondern
bewahrt die Weite der Diskurse. Im Judentum hat man sich zu dieser Sichtweise
und damit zu einer pluralistischen Grundhaltung durchgerungen. Die Entwicklung
im Christentum führte in die entgegengesetzte Richtung: Mit dem Konzil von
Konstantinopel von 381 sei die kirchliche Lehre zur Orthodoxie erstarrt, was die
Verständigung zwischen Juden und Christen nachhaltig erschwerte. Um dies zu
überwinden, müsse über unterschiedliche Auslegungen diskutiert werden. Das
bedeutet die Herausforderung, die jüdische Exegese der Bibel ernsthaft zur
Kenntnis zu nehmen, was an vier biblischen Themen konkretisiert wird.
In
diskursiver Konkurrenz zum strafenden Gott steht Der Gott des Exodus
(127-138). Die biblischen Exodus-Erzählungen reden nicht von einer Strafe
Gottes. Gott bewegt es vielmehr, dass sein Volk leidet und klagt. Der
Grundgedanke, dass der Gott des Exodus kein Unrecht und Leiden will, hält sich
auch in den Transformationen der Diskurse. Die Exodus-Erzählung wird im Judentum
zum Paradigma des Befreiungswillens Gottes schlechthin. Im Christentum wird ein
anderer Diskurs sichtbar. Dieser betrachtet die Zeit als Entwicklung auf eine
Vollendung hin, so dass er letztlich kaum etwas mit dem Gott des Exodus zu tun
hat. Manche christlichen Theologen argwöhnen in der Theologie vom Opfer
(139-146) den Pferdefuß für jeden modernen Glauben. In der Bibel gibt es viele
Diskurse zu den diversen Opferpraktiken. Im alten Israel kann man von einer
Zentralität des Opferkultes sprechen. Und nach der Zerstörung des Tempels
verschwand der Gedanke des Opfers nicht einfach. Zielpunkt des biblischen Opfers
ist der Segen Gottes. Und der Exodus-Diskurs stellt die Opferpraxis in Israel in
ein neues Licht: Das Opfer sollte nicht Nahrungsgabe für Gott, sondern eine
Dankfeier sein. Bedeutende jüdische Denker sahen im Gebet des Achtzehngebets
eine adäquate Form des geforderten Dankopfers. Was brachten Jesu Anhänger zum
Ausdruck, wenn sie ihn den Messias (147-152) nannten? Welchem
messianischen Denken folgten sie? Die zentralen Motive stammten aus den
Schriften Israels, allen voran die Begriffe des Messias, des Sohnes Gottes und
des Menschensohns. Von den Schriften Israels gingen die Blicke hin zu Jesus,
nicht umgekehrt. Jesus wird von seinen Zeitgenossen im Horizont messianischer
Erwartungen gedeutet. Und der sich dort äußernde Messiasdiskurs bringt
diesseitsorientierte Hoffnungen auf mehr Gerechtigkeit zum Ausdruck. Während das
Christentum vom „Christusereignis“ als der „Mitte der Zeit“ spricht, hält das
Judentum die Erwartung aufrecht, indem es die „Entwicklung der Menschheit von
der Zukunft“ erwartet, so Hermann Cohen (1842-1918). Das verbreitetste Bild Jesu
neben dem Gekreuzigten ist für den Autor Jesu „Gang über den See“
(152-167). Verstanden die Erzähler der Geschichte von Jesu Gang über den See
diese als „symbolisch“? Die Menschen hatten im ersten Jahrhundert mit
wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, sodass man von einem damaligen
„Zeitalter der Angst“ spricht. Angesichts dessen sind die Bemühungen der
Pharisäer und der Jesus-Anhänger bedeutsam, sich ihrer jüdischen Tradition zu
versichern. Die Erzählung vom Gang Jesu über den See Gennesaret (Mt 14,22-33)
macht sichtbar, dass Jesus für eine entschiedene Orientierung an der Tora steht.
Er fordert den Apostel Petrus mit einem „Komm!“ auf, sich ebenfalls aufs Wasser
zu begeben. Petrus soll die Ohnmachtsgefühle dadurch überwinden, dass er sich an
den Gott des Exodus und seine Macht – so erzählen biblische Geschichten von
Gottes Einwirken auf bedrohliche Gewässer (Jes 43,16; Ex 14,21-22) – hält. Aber
Petrus beginnt unterzugehen, weil er sich von der Angst einholen lässt. Die
Erzählung ist eine Geschichte von Vertrauen – auf Gott. In ihr stehen zwei
Diskurse einander gegenüber: Der eine Diskurs sieht die Welt beherrscht von
Mächtigen. Der andere Diskurs – der Diskurs Jesu – beharrt darauf, dass die Welt
Gottes Welt ist; alles kommt darauf an, sich auf die Seite dieses Gottes der
Gerechtigkeit zu stellen und an seiner Macht teilzuhaben. Die Machtübertragung
Jesu an die Jünger findet auf dem Weg der Änderung der Diskurse statt. Die alten
mythischen Ohnmachtsdiskurse werden ersetzt durch den antimythischen Diskurs vom
Gott des Exodus. Der Diskurs über den Gott des Exodus bringt Erfahrungen Israels
zum Ausdruck, die Christen respektvoll zur Kenntnis nehmen und ihre eigenen
Vorstellungen kritisch überdenken lassen. So lernt man die biblischen Diskurse
in ihrer Pluralität erkennen und kann sie auch weitererzählen.
Nach den Analysen der Diskurse biblischer Narrative fragt das abschließende
Kapitel „Nicht aufhören zu erzählen“ (168-179) kritisch, was denn für das
Christentum, das Verständnis der Bibel und die christliche Theologie heute
ansteht. Es wäre bei den biblischen Erzählungen, vor allem bei der Erzählung vom
jüdischen Jesus neu anzusetzen. Ein tieferes Sich-Einlassen auf den narrativen
Charakter der meisten biblischen Texte stehe an. Man müsse erzählen und nun auch
wirklich erzählen. Ohne „innerweltliche“ Hoffnungen wird sich nur wenig Zugang
zur Bibel und zu ihren Erzählungen finden.
Das Erzählen ist das Rückgrat des
Glaubens wie auch aller ernsthaften Theologie. Es geht also um die Rückkehr des
Erzählens und damit des vitalen Weltverhältnisses ins Christentum. Darin
kulminieren grundlegende theologische Entscheidungen: Erstens: gehört
dazu die Entscheidung, von den dürren Definitionen des Heils zu den klaren
innerweltlichen Ansagen der biblischen Diskurse zurückzukehren. Zweitens
folgt daraus zugleich die Entscheidung, Jesus als Juden nicht nur zu bekennen,
sondern zu verstehen. Drittens bedeutet der Blick auf den jüdischen
Jesus dann auch die Entscheidung zur Ausrichtung auf Jesu Gott, den Gott
Israels.
Ohne Dialog werden wir keinen Schritt vorankommen. Leitend muss die
Vorstellung sein, das Gerechte zu tun, soweit man es erkennen kann. Das
überkommene judenfeindliche Christentum lässt sich nicht mehr erzählen und
verkündigen. Alles ist Transformation; nichts bleibt, wie es ist. Christen und
Christinnen aber sind aufgerufen, sich nicht zu ängstigen, sondern sich auf den
Weg über das Wasser zu machen.
Norbert Reck hat mit seinem Essay ein ungewöhnliches Buch vorgelegt, welches
vom Befund der Krise, nämlich dem Verlust an Bedeutung für das Christentum in
Westeuropa seit dem Beginn der Moderne ausgeht. Die Frage nach der Wurzel dieser
Krise beantwortet er mit der These, dass die Krise ihren Grund im Ausweichen
gegenüber der jüdischen Identität Jesu habe. Es ist eine überraschende These.
Denn seit dem Beginn der Moderne gibt es in Westeuropa ein Erstarken
judenfeindlicher Einstellungen. Diesem gesellschaftlichen Trend entspräche es
vielleicht eher, die jüdische Identität Jesu gleichsam unkenntlich zu machen als
sie zu betonen, um die Akzeptanz in einer judenkritischen Kultur zu fördern und
ein Fortschreiten des Mitgliederschwunds zu vermeiden. So ist man neugierig,
welche Begründung der Autor für seine These vorlegt. Sein differenzierter Blick
auf die Geschichte stößt auf einen Riss mitten durch die Theologie und die
Kirche, der zugleich ein Riss zwischen Exegese und Dogmatik ist. Die Dogmatik
sei von einer Zurückhaltung gegenüber der konkreten Geschichte geprägt. In der
konkreten Geschichte ist aber viel Jüdisches präsent. Dass die Nichtachtung
dieser Präsenz des Jüdischen indirekt und implizit einen Verlust an Relevanz für
die Gegenwart bedeutet, leuchtet ein. So erscheint es berechtigt, hier von einem
„Herzfehler des Christentums“ zu sprechen und die Heilung dieses Herzfehlers mit
der Frage anzugehen, was der jüdische Jesus theologisch bedeutet. Dass der
theologischen Bedeutung des jüdischen Jesus mit Hilfe des Diskursdenkens von
Michel Foucault nachgegangen wird, ist ungewöhnlich. Dennoch hat das Ungewohnte
einen erstaunlichen Ertrag. Die diskursorientierte Lektüre des Alten wie des
Neuen Testamentes erschließt ihre Bedeutung für heute und ermöglicht das
Gespräch zwischen den jüdischen und christlichen Positionen. So wird vermieden,
dass sich christliche Identität auf Kosten der jüdischen Identität ausbildet.
Und es wird die Möglichkeit eröffnet, Jesus als Juden zu verstehen und das im
Sinne seiner Identität. Der hermeneutische Pfad der Diskursanalyse steht dann im
Dienst einer theozentrischen Prägung, die – so die argumentativ vertretene
Hoffnung des Autors – die kritische Lage des Christentums in Westeuropa ändern
kann.
Zum Rezensenten:
Dr. h.c. Hans Hermann Henrix
ist Honorarprofessor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität
Salzburg und vieljähriger Direktor der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen
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