theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Manfred Gailus

Protestantismus und Nationalsozialismus. Ein Bericht über den Stand der Debatte

(Abstract des Referats auf der Fachtagung „Theologie und Vergangenheitsbewältigung II. Französischer Katholizismus - deutscher Protestantismus 1930-1950“ vom 12. bis 14. Januar 2007)

Ausgangspunkte meiner Überlegungen sind cultural turn und, parallel, religious turn in der Historiographie seit etwa 1990. Es fügt sich in die seither zu beobachtende Wiederentdeckung des Religiösen“, dass auch die NS-Epoche religions- und kulturgeschichtlich neu thematisiert wird. War „Glaube“ wichtig 1933? Woran glaubten die Deutschen im „Dritten Reich“? Ist es sinnvoll, den NS als „politische Religion“ zu kennzeichnen? Repräsentiert das „Dritte Reich“ eine antichristliche Epoche, einen massiven Säkularisierungssprung? Inwieweit waren die beiden großen Konfessionen mit dem NS-Regime kompatibel?

Diese und weitere Fragen werden diskutiert, indem zunächst in knapper Rückschau auf zentrale Geschichtsbilder und Diskurse eingegangen wird, in denen das NS-Thema seit 1945 erinnert und wissenschaftlich gedeutet wurde. Drei Phasen werden unterschieden: 1) frühe kirchennahe Nachkriegshistoriographien (Erinnerungen der historischen Akteure selbst und konfessionsnahe „Kirchengeschichte“, vorwiegend von Theologen) mit dem Konzept „Kirchenkampf“ als Leitbegriff, als kanonisch verfestigtes Geschichtsbild (ca. 1945-1970);  2) eine zweite Phase (ca. 1970-90) der sukzessiven Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, der Ausweitung des zuvor eng konfessionalistischen Blickwinkels, der vermehrten Thematisierung von Tabus, exemplarisch repräsentiert in Klaus Scholders Werk;  3) interdisziplinäre Neuansätze seit ca. 1990, häufig stimuliert durch den  übergreifenden religious turn, tendenzielle Auflösung der herkömmlichen Disziplingrenzen, Dekonstruktion des alten Geschichtsbilds vom heroischen „Kirchenkampf“ der Helden und Heiligen.

Meine Hauptthese: das Thema „Protestantismus und NS“ ist einzubetten in eine historisch übergreifende, ca. hundertjährige babylonische Gefangenschaft des Protestantismus im Nationalen (Völkischen usw.); auf dieser abschüssigen Bahn ist das Geschehen von 1933-45 als eine extreme Zuspitzung zu sehen, als Versuch der Begründung eines völkischen Protestantismus, kurz: als schwerste protestantische Identitätskrise seit der Reformation. Aus derzeitiger Historikersicht vollzieht sich seit geraumer Zeit (ca. 1990) ein Fokuswandel von der theologie- und kirchennahen Kirchenkampfforschung zur historischen Rekonstruktion des gesamten „Dritte Reich“-Protestantismus als sozialmoralisches oder kulturelles Milieu mit seinen symptomatischen Verflechtungen und oft starken Symbiosen mit NS-Weltbildern und NS-Mentalitäten.

Eine neue Generation von historisch-kritischen Untersuchungen erlaubt inzwischen, Konturen einer erweiterten Protestantismusgeschichte im „Dritten Reich“ zu zeichnen. Vier zentrale Aspekte dieses neuen Gesamtbilds werden knapp vorgestellt: 1) „1933“ als emphatische protestantische Selbsttransformation; 2) protestantische Identitätskrise, interner Richtungsstreit und charakteristische Konflikttopographien;  3) Der milieuinterne Dissens und seine Akteure; 4)  protestantische Regionalkulturen und „Dreidrittelprotestantismus“.

Von einer ausgereiften Synthese des Protestantismus als Ganzes im „Dritten Reich“ sollte freilich noch nicht gesprochen werden; wesentliche Desiderata liegen im Bereich strategisch klug ausgewählter Studien zu protestantischen Regionalkulturen (Landeskirchen); Biographien von Führungsfiguren; der Mannschaften des Kirchenkampfes, hierbei besonders den auffallenden gender-Aspekten; Antijudaismus, Antisemitismus und kirchliche Ausgrenzungspraxis von Christen jüdischer Herkunft; und schließlich, besonders dringlich, im Bereich des „Kriegsprotestantismus“ 1939 bis 1945, der am markantesten untererforscht gelten muss. Eine neue Synthese wird den „christlichen Widerstand“ tiefer hängen, die protestantische Anpassungs- und Tätergeschichte hingegen stärker betonen müssen. Am Ende dürfte kein Weg an dieser wissenschaftlichen Einsicht vorbei führen: Das protestantische Sozialmilieu gehörte zu den Haupteinbruchstellen der „Ideen von 1933“ in die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit. Auf das Ganze des 20. Jahrhunderts gesehen erscheint die NS-Epoche nicht so sehr als Zeit beschleunigter Säkularisierungen, vielmehr als Zeitspanne des säkularisierungsgeschichtlichen Innehaltens und teils sogar religiöser Intensivierungen. Die NS-Epoche ist insofern religionsgeschichtlich als historische Gegenthese, als Zeitenkehre und Gegenzeit gegenüber der vorausgehenden „gottlosen“ Weimarer Moderne zu sehen, die als krasser Modernisierungsschock und mächtiger, Furcht einflößender Säkularisierungsschub erlebt wurde. Der zeitweilige Verbündete des modernen deutschen Nationalprotestantismus seit 1870/71 gegen die Kultur und Tradition der Aufklärung, gegen die „Ideen von 1789“, gegen Liberalismus, Demokratie, Sozialismus, Judenemanzipation etc. entpuppte sich am Ende, seit 1933,  als existenziell gefährlicher,  totalitärer Konkurrent im religiös-weltanschaulichen Kampf um die Seelen der Deutschen.

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