David Rüschenschmidt, Neue Politische Theologie. Johann Baptist Metz und sein Denken im Horizont einer intellektuellen Gründung der Bundesrepublik. Und ein Gespräch mit Tiemo Rainer Peters, Baden-Baden 2019, Tectum-Verlag, 168 S., 32,00.- €, ISBN 978-3-8288-4387-5


„Wenn man heute Theologie studieren will, dann muss man nach Münster zu Johann Baptist Metz gehen“, so erinnerte sich der Dominikaner Tiemo Rainer Peters (1938–2017), langjähriger Mitarbeiter von eben jenem Johann Baptist Metz (1928–2019), an ein Gespräch mit einem Ordensbruder gegen Ende der 1960er-Jahre (S. 134). Mit dieser Erinnerung an den wortgewaltigen Begründer einer neuen Politischen Theologie ist das Panorama eröffnet, das David Rüschenschmidt in seiner nun publizierten Abschlussarbeit untersucht hat. Näherhin beschäftigt den Verfasser die Verortung von Metz’ theologischem Denken innerhalb einer „intellektuellen“ Gründung der Bundesrepublik in den 1960ern und 70ern.

Rüschenschmidts Studie, die unter Betreuung von Thomas Großbölting entstanden ist, nähert sich dabei dem Gegenstand – neben den obligaten Elementen Einleitung und Fazit – in vier Analysekapiteln. Zunächst wird über einen begriffsgeschichtlichen Zugang die ältere Politische Theologie (C. Schmitt) von der neuen Politischen Theologie des jüngst verstorbenen Metz abgegrenzt. Metz etablierte diese Begriffsverwendung seit circa 1965, sie blieb aber nie ohne Kritik. Unterscheidendes Kriterium zu Schmitt ist vor allem die Hinwendung zu den Leidenden und Unterdrückten in Geschichte und Gesellschaft (vgl. S. 23).

Das folgende Kapitel geht dem Verständnis einer „zweiten“ oder „intellektuellen“ Gründung Westdeutschlands nach. Der von Thamer, Reulecke, Kersting, Wolfrum u.a. geprägte Begriff möchte auf ein Mehr an Demokratisierung, Liberalisierung und Politisierung aufmerksam machen, das der damaligen bundesrepublikanischen Gesellschaft durch das Wirken von (liberal-)konservativen wie progressiven Intellektuellen, etwa der „Frankfurter Schule“, ermöglicht wurde (vgl. S. 28-31). Der Autor verfolgt dabei ein sicherlich diskussionswürdiges „weiter gefasste[s] Verständnis einer zweiten Gründung der Bundesrepublik [...], welches auch nichtintentionale Prozesse unter diesen Begriff zu subsumieren vermag, sofern sich denn ein Beitrag zu einer qualitativen Aufwertung der politischen Kultur im Vergleich zur Adenauerzeit ex post ergibt“ (S. 4). Phänomene wie der Wertewandel, die berühmte Erosion des katholischen Milieus oder das sich je nach Standpunkt ent- oder verkrampfende Verhältnis von Theologie und Sozialismus/Kommunismus gelten Rüschenschmidt als Indikatoren einer solchen „zweiten“ Gründung, die aber, wie der Autor klugerweise selbst kritisiert, damit allzu sehr im Unkonkreten verbleibt. Länger beobachtbare Transformationsprozesse werden hier mit dem umbrella term einer zweiten formativen Phase der BRD versehen (vgl. S. 39).

Die „Bedingungen der Möglichkeit“ (I. Kant) einer politischen Theologie in Münster werden in Kapitel vier kurz umrissen. So ist sicherlich die Sozialisation von Metz als Schüler des modernitätsoffenen Karl Rahner, das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65), aber auch das spezifische Gefüge an der Münsteraner Fakultät mit dem jungen, aufgeschlossenen Konzilstheologen Joseph Ratzinger als Kollegen zu nennen.

Das Herzstück der Analyse macht aber Kapitel fünf aus, in dem der Verfasser ein ideengeschichtliches Profil der neuen Politischen Theologie für den Zeitraum 1962/63 bis 1977 einholt und sehr stark theologiegeschichtlich argumentiert. Bedeutsam erscheint hier Metz' theologische Dissertation zu Thomas von Aquin (1962), die schon ganz in die „anthropologische Wende“ der Theologie fiel und einen Dialog mit dem neuzeitlichen Denken geradezu einklagte (vgl. S. 66). Diese Auseinandersetzung mit der Moderne bedeutete nicht nur eine Öffnung zur Welt, sondern eine Überwindung jedweder Privatisierung hin zu einer ganzheitlichen, eben politischen Sicht auf die Dinge. Zugleich meine Metz mit einer in diesem Sinne Politischen Theologie nicht, wie oft wahrgenommen, eine Ableitung direkter politischer Leitlinien etwa im Sinne einer Unterstützung einer konkreten Partei (vgl. S. 76f.). „Marxistisch“ sei ein solcher theologischer Ansatz nur insofern, als er einen Primat der Praxis gegenüber der Theorie sieht (vgl. S. 81). Metz’ Theologie wie sein Praxisbegriff fokussierten dabei auch immer eine eschatologische Perspektive, die in vielem Ernst Blochs Hoffnungsbegriff ähnelt. Hoffnung meint bei ihm nicht nur ein aktivisches Verwandeln, sondern auch ein passivisches „Begegnenlassen“ (vgl. S. 83).

An all diese Überlegungen anknüpfend, entwickelte Metz in einer zweiten Phase seines Denkens ab Ende der 1960er seine bekannte memoria-Theologie. Einer als erinnerungs- und geschichtslos wahrgenommenen jungen Bundesrepublik stellte er – angeregt durch A. und M. Mitscherlich – ein „Gedächtnis des Leidens“ (S. 88) gegenüber. Zu diesem Leid gehörten für den Münsteraner Theologen nicht nur die Erinnerung an die Shoah, sondern auch eine apokalyptische Zeitdiagnose, die sich aus der ungerechten Güterverteilung auf den einzelnen Kontinenten, dem Club of Rome-Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ und etwa dem Kalten Krieg speiste. Dass dem Metzschen Geschichtsverständnis, geprägt von der memoria passionis, aber auch durchaus blinde Flecken innewohnen, hat Wilhelm Damberg in seinen neueren Publikationen gezeigt. [1] Über die Argumentationsfigur der memoria eher der Philosophie eines Walter Benjamin und Theodor W. Adorno als einem Jürgen Habermas oder gar Hermann Lübbe nahestehend, übte Metz Kritik an der sich selbst genügenden bürgerlichen Religion, etwa über sein Engagement in der Paulusgesellschaft oder auch als Autor des so bekannten Synodendokuments „Unsere Hoffnung“, das so etwas wie die Summe der Metzschen Theologie darstellt.

Es bleibt schließlich ein Bild von Metz zurück, das Johann Baptist Metz als „klassischen“/„allgemeinen“ Intellektuellen (I. Gilcher-Holtey), der öffentlich zu universalen Werten mahnt, durchaus mit Theodor W. Adorno oder der „Frankfurter Schule“ insgesamt auf eine Stufe stellt. Damit veranschlagt Rüschenschmidt den gesellschaftlichen Impactfaktor der neuen Politischen Theologie als recht hoch. Metz selber agierte während seines Schaffens in Münster weniger als konsequenter Systematiker, sondern als zeitgeistsensibler Impulsgeber. Er legte seine Finger in die entzündeten Wunden der damaligen Bundesrepublik, z.B. durch seine Theologie nach Auschwitz, wie auch das den Band abschließende Interview mit Tiemo Rainer Peters herausstellt (vgl. S. 133–149).

Insgesamt ist zu konstatieren, dass der Autor mittels der Intellectual history einen interessanten neuen Zugang auf Johann Baptist Metz aufgezeigt hat, der es verdient, über den eng gesteckten Rahmen einer Abschlussarbeit weitergedacht zu werden. Rüschenschmidt selbst reflektiert klug im Fazit „offene Fragen und unberücksichtigte Aspekte“ (S. 130). Diese erlaubt sich der Rezensent auf die folgenden drei Aspekte zuzuspitzen: Erstens hätten die angesprochenen Netzwerke (vgl. S. 128) eines „Religionsintellektuellen“ (F. W. Graf, vgl. S. 45f.) wie Metz in künftigen Arbeiten eine nähere Würdigung verdient. Metz pflegte weniger den Umgang mit anderen systematischen Theologen, war an deren dogmatischer Arbeit im engeren Sinne gar desinteressiert (vgl. S. 144), dennoch ist es kaum vorstellbar, dass Metz ganz und gar in einer splendid isolation gewirkt hat. Wie war etwa das Verhältnis von Metz zu dem anderen großen „Star-Theologen“ der Zeit, nämlich dem gleichaltrigen Hans Küng, mit dem er immerhin im Stiftungsrat der Zeitschrift „Concilium“ saß? Auf den ersten Blick würde man beide Professoren dem gleichen progressiven Flügel innerhalb des Katholizismus zurechnen, beide gerieten auch in konfliktive Situationen mit dem Lehramt. Küng wurde das Nihil Obstat 1979 wegen seiner Äußerungen über die Unfehlbarkeit des Papstes entzogen, im selben Jahr wurde Metz ein Ruf auf den Münchener Lehrstuhl für Fundamentaltheologie verwehrt. Küng selbst beschreibt jedoch das Verhältnis zum Münsteraner Fundamentaltheologen in seinen Memoiren als durchaus ambivalent: „Gerne profiliert er [Metz] sich als ‚politischer‘ Theologe durch Herabsetzung der ‚liberal-bürgerlichen‘ Theologie, mit der er vorwiegend mich meint.“ [2] Der Schweizer Theologe wirft zumindest der späten Politischen Theologie vor, auf der Stelle zu treten; die in seinen Augen zu starre Fixierung von Metz auf eine Theologie des Leidens verhindere ein schlagkräftigeres Kämpfen für Reformen in der katholischen Kirche. [3] Zweitens würden die von Rüschenschmidt im Oral History-Interview mit dem vor wenigen Jahren verstorbenen Tiemo Peters herausgearbeiteten Brüche in Metz’ Denken Aufmerksamkeit verdienen. Der Entwurf einer Christologie des Leids stand bei dem gebürtigen Oberpfälzer neben einem sinnenfrohen „Barockkatholizismus“, die hermeneutischen Mühen um eine politische Theologie neben einer Skepsis gegenüber der Befreiungstheologie. Sodann wäre drittens der Blick auf die Entwicklung der Politischen Theologie in Metz‘ Spätphase zu legen. Es ist auffällig, dass trotz der immensen Strahlkraft des weit über 30 Jahre im wissenschaftlichen Betrieb agierenden Fundamentaltheologen (s. das Eingangszitat) kaum SchülerInnen von ihm auf Lehrstühlen reüssierten. Dazu passt die Beobachtung, dass es zumindest in akademischer Hinsicht spätestens seit den 1990ern merkwürdig still um die Politische Theologie geworden ist.

All dies wären exemplarische, weiterführende Fragen für künftige Forschungsarbeiten, die den Wert des vorliegenden Buches in keiner Weise mindern. Wieviel Potenzial einem intellektuellengeschichtlichen Zugriff auf die kirchliche Zeitgeschichte innewohnt, hat David Rüschenschmidt eindrücklich aufgezeigt.

[1] Vgl. z.B. Wilhelm Damberg, Die Würzburger Synode (1971–1975) und die Vergangenheit der Kirche. Johann Baptist Metz, Erwin Iserloh und das Verhältnis von Theologie und Geschichte, in: Georg Essen/Christian Frevel (Hg.), Theologie der Geschichte – Geschichte der Theologie, Freiburg i.Br. 2018 (Quaestiones disputatae 294), S. 100-132.
[2] Hans Küng, Erlebte Menschlichkeit. Erinnerungen, München u.a. 2013, S. 30-33, Zitat S. 32.
[3] Vgl. ebd., S. 33.

Zum Rezensenten:
Dr. Florian Bock, Juniorprofessor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Katholisch-Theologische Fakultät, Ruhr-Universität Bochum.

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