Herwig Grimm/Stephan Schleissing (Hgg.), Moral und Schuld. Exkulpationsnarrative in Ethikdebatten, Baden-Baden 2019, Nomos-Verlag, 161 S., 19,00,- €, ISBN 978-3-848-755942.

Zwei Beobachtungen zur gesellschaftlichen Entwicklung sind es, die dieses Bändchen zu einer wichtigen Lektüre machen: Einerseits lässt sich eine zunehmende Moralisierung gesellschaftlicher Debatten wahrnehmen, einhergehend mit erhöhter Diskurstemperatur, klaren Schuldzuweisungen und wachsender Feindseligkeit gegenüber Andersdenkenden. Was umso bemerkenswerter ist, als die traditionellen moralischen Autoritäten von den Kirchen bis zu den Gewerkschaften zu erodieren scheinen. Andererseits ist spätestens mit der ‚Fridays-for-Future‘-Bewegung die Schuldthematik prominent, und zwar in Form einer tiefsitzenden, wenn auch gern verdrängten Einsicht in die eigene Schuldverstrickung und in die Unhaltbarkeit der eigenen Rechtfertigungsversuche. „Es hat den Eindruck, dass der Schuldbegriff längst zu einem Zentralbegriff heutiger Ethikdebatten avanciert ist.“ [9] Schuld und Moral rücken damit weitaus näher zusammen, als es manchem Ethiker in den Spuren Nietzsches vielleicht lieb wäre.

In dieser Gemengelage nach den ‚Exkulpationsnarrativen in Ethikdebatten‘ zu fragen, ist klug und erhellend. Denn mit der Offenlegung solcher Narrative der Selbstrechtfertigung ist zugleich die umfassendere Frage nach den Transformationen präsent, die die Schuldthematik in ‚postreligiös-postsäkularen‘ (Dürnberger) Gesellschaften durchwandert. Und es ist die Frage präsent, wie neue gesellschaftliche Räume und Rituale entstehen oder alte wiederbelebt werden können, in denen ethische Konflikte reflektiert, Schuldbekenntnisse verbalisiert, aber auch Vergebung und Versöhnung eröffnet, sowie Schritte der Buße und Wiedergutmachung praktiziert werden können.

Klug und erhellend ist auch die interdisziplinäre Auswahl der Beiträge, die auf eine Tagung an der Evangelischen Akademie Tutzing in Zusammenarbeit mit dem Institut Technik-Theologie-Naturwissenschaften und der Abteilung Ethik der Mensch-Tier-Beziehung des Messerli-Forschungsinstituts der Veterinärmedizinischen Universität Wien und dem Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum zurückgehen. Drei Aufsätze aus der philosophischen Ethik spannen den Problemhorizont auf, zwei theologische Beiträge vermitteln mit der theologischen Tradition, je ein medienwissenschaftlicher und juristischer Aufsatz ziehen Perspektiven in konkrete Anwendungsfelder aus.

Der Philosoph Gary Steiner eröffnet die Auseinandersetzung mit einem engagierten Plädoyer für den Veganismus, weil die „Nutzung von nichtmenschlichen Tieren als Nahrungsquellen, Versuchsobjekte usw.“ auf eine „nicht zu rechtfertigenden Ausbeutung“ hinauslaufe [9]. Der „vegane Imperativ“ als „Korrelat des Prinzips der Gewaltlosigkeit“ [20] führe zur Vermeidung von Schuld, die keineswegs zwangsläufig und unvermeidlich sei. Rechtfertigungen des Fleischkonsums werden von Steiner als Exkulpationsnarrative entlarvt. Der Fleischkonsum entspringe selbstsüchtigen Motiven, sei weder für das Überleben noch für die Gesundheit von Menschen notwendig, sondern diene allein dem Vergnügen und der Bequemlichkeit. Steiner verteidigt das Konzept des ‚veganen Imperativs‘ sowohl gegen ‚Welfaristen‘, die nichts gegen eine artgerechte Nutztierhaltung einzuwenden haben, gegen postmoderne Entwürfe, die die Berechtigung eines allgemeingültigen ‚Imperativs‘ grundsätzlich in Frage stellen, als auch gegen anthropozentrische Positionen, die Steiners Überzeugung von der „moralischen Gleichwertigkeit von Mensch und Tier“ [21] in Frage stellen. Stattdessen propagiert Steiner die Idee einer grundlegenden existentiellen Gleichheit, die „alle empfindungsfähigen Lebewesen aufgrund ihrer Sterblichkeit teilen“ [31]. Grundlage einer nicht-egoistischen und nicht-anthropozentrischen Ethik müsse der Respekt für den nicht-menschlichen Anderen und insbesondere der „Respekt für gefährdete empfindungsfähige Lebewesen“ [30] sein. Ob die Begründung der Position Steiners besonders stichhaltig ist, wäre zu diskutieren. Die Ausweitung der Menschenrechte auf empfindungsfähige Lebewesen und die „Annahme einer moralischen Gleichwertigkeit von Mensch und Tier“ [21] führt zu der merkwürdigen, in manchen Kreisen aber ernsthaft diskutierten Frage, ob Beutetiere nicht vor Carnivoren geschützt und fleischfressende Pflanzen und Tiere nicht entsprechend bestraft oder umerzogen werden müssten. Vor allem Steiners Begründung der Unterscheidung zwischen (mit vollen Rechten ausgestatteten) Tieren und (zum Verzehr freigegebenen) Pflanzen aufgrund des (Nicht-)Vorhandenseins eines Zentralnervensystems erscheint ethisch fragwürdig, wird doch ein biologistisches Merkmal zum Letztkriterium des Lebenswertes erklärt. Der mit dem Pathos der ‚Schuldvermeidung‘ vorgetragene Veganismus läuft damit Gefahr, gegen Steiners Intention in einen biologistischen Vitalismus umzukippen, der trotz theoretischer Rechtsgleichheit aller letztlich nur die Selbstdurchsetzung der ‚höchstentwickelten‘ bzw. ‚empfindungsfähigsten‘ Lebewesen dient. Gleichwohl stellt Steiners Beitrag einen interessanten Einstieg in die Frage nach der Rolle von Exkulpationsnarrativen in Ethikdebatten dar. In der Tat sind Menschen, die Tiere verzehren, in einer Gesellschaft, die dieses Verhalten immer stärker in Frage stellt, gezwungen, ihr Verhalten zu rechtfertigen. Und Steiner weist zu Recht darauf hin, dass diese Rechtfertigung und damit Exkulpation keineswegs so umstandslos ist, wie mancher Carnivor das aufgrund der langen Tradition des Fleischkonsums glaubt. Allerdings legt Steiner nicht nur die Narrative der Gegner offen, sondern vertritt selbst ein rechtfertigungstheologisch ziemlich aufgeladenes Exkulpationsnarrativ.

Robert Pfaller, ebenfalls Philosoph, fragt daraufhin, wie Moral ohne Schuldvorwürfe gegenüber anderen auskommen kann. Am Beispiel der zunehmenden Moralisierung der Kunstausstellungen documenta und der moralischen Verschärfungen innerhalb der queer-Community zeigt Pfaller, wie Moralisierungen gerade dort grassieren, wo die Prinzipien anderer Praktiken des Lebens, der Kunst, der Religion oder der Politik erodieren, sodass trotz dieser Erosionsprozesse scheinbar Werte gestiftet und stabilisiert werden. Dabei dient Moralisierung der gnadenlosen Distinktion gegenüber anderen, während die Kritikfähigkeit gegenüber den eigenen Mitteln verloren geht. „Das moralische Gefühl alleine scheint alles zu rechtfertigen.“ [44] Die reale oder vermeintliche Rolle als ‚Opfer‘ sozialer Prozesse genügt bereits, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen und die eigene moralische Überlegenheit zu konstatieren, ohne überhaupt in den Wettbewerb der besseren Argumente eintreten zu müssen. Der Gegner gerate zum absolut bösen Feind. Statt vor der Enthemmung zu schützen, werde Moral zum Enthemmungssystem. Um der Moralisierung nun auf die Schliche zu kommen, skizziert Pfaller mit den Soziologen Bradley Campbell und Jason Manning drei gegenwärtige Grundkonzepte ethischer Orientierung, die Stufen zunehmender Verinnerlichung darstellen: Ehre, Würde, Opfersein. Die Konzepte von Ehre und Würde, auch als Scham- und Schuldkulturen bezeichnet, haben gemeinsam, dass der Betroffene selbst Subjekt des Bewertens und möglicher Reaktionen bleibt. Beim Opfersein hingegen beginnt das Werten beim Verurteilen des Anderen als Grundlage der eigenen Wertschätzung. Die Geringfügigkeit der Vergehen, die anderen vorgehalten werden, steigert dabei noch den Ausweis der eigenen Verletzlichkeit, aber auch der sozialen Erhabenheit und Distinktion. Um dem Dilemma der Moral in den Erosionsprozessen der Postmoderne zu entkommen, schlägt Pfaller darum vor, „die Prinzipien der Moral gegen ihre moralisierende Betätigung in Stellung zu bringen“ [62]. Dazu seien zwei Prämissen unumgehbar: „ein gewisses Maß an Selbstachtung auf Seiten der Moralisten“ und die „Achtung gegenüber der Moral“ [62]. Diese Antwort befriedigt nur mäßig, denn die Leser wüssten sicherlich gerne, worauf denn eben solche Achtung, also die Anerkennung des anderen und die Anerkennung des Anerkennens selbst, basieren könne.

Maria-Sibylla Lotter, auch sie Philosophin, konstatiert wie Pfaller eine zunehmende Moralisierung öffentlicher Debatten, die mehr der Identitätsfindung und dem gesteigerten Selbstwertgefühl dienten, als dass es um die vertretene Sache gehe. Dabei breite sich ein entgrenztes Schuldgefühl aus, das sich weniger auf konkrete Taten, sondern auf die Problematik der eigenen ökonomischen und sozialen Existenz überhaupt beziehe und das sich zugleich in Form von ‚fairen‘ oder ‚nachhaltigen‘ Produkten ökonomisch vermarkten lasse. Die Gemengelage von Schuld und Moralisierung führe dazu, dass ständig neue Codes des Verhaltens und Sprechens entwickelt werden, die dazu dienen, Schuldige zu identifizieren und sich selbst zu entschuldigen. Dies geschehe mittels des Opfernarrativs – auch darin ähnelt Lotters Gegenwartsanalyse der Pfallers: „Die hier vorherrschende krude Logik der Anerkennung der einen Gruppe als Opfer erfordert, die Angehörigen der anderen Gruppe als Täter zu betrachten“ [70]. Nicht einzelne Menschen in ihrem konkreten Handeln würden beurteilt, sondern Gruppenzugehörigkeit entscheide. Nicht gemeinsam geteilte Werte etwa der Gleichberechtigung seien ausschlaggebend, sondern die subjektive Betroffenheit als Opfer, die emotionale Amplitude. Dadurch wende sich die Moral allerdings gegen sich selbst, die Rassismuskritik etwa nehme mit den ‚Critical Whiteness Studies‘ selbst rassistische Formen an. Zu Recht diagnostiziert Lotter einen völlig unzureichenden, quasi verwahrlosten Schuldbegriff unserer Zeit als eine der Ursachen dieser Wendung der Moral gegen sich selbst. Auch wenn Schuld seit der Aufklärung unverzichtbar eine starke Komponente individueller Vorwerfbarkeit enthalte, müsse doch auch dem Aspekt kollektiver Verstrickung in schuldhaften Strukturen Rechnung getragen werden. Diese äußere sich etwa in Schuldgefühlen auch für Ereignisse, die nicht im Sinne der Vorwerfbarkeit einem Individuum zurechenbar sind, was Lotter mit Karl Jaspers „metaphysische Schuld“ [82] nennt. Lotter ist nun der Ansicht, die Schärfe gegenwärtiger Auseinandersetzungen habe darin ihren Grund, dass auch die Aspekte ‚metaphysischer Schuld‘ – aus Ermangelung einer anderen Instanz? – als individuelle Vorwerfbarkeit ausgelegt werden. Der Gedanke ist interessant, bleibt aber unausgeführt. Hilfreich ist Lotters Beobachtung, dass in den gegenwärtigen Öffentlichkeiten Orte und Weisen des gemeinsamen Trauerns, des Ausgleichs, der Entschuldigung, der Vergebung und Versöhnung abhandengekommen sind und dass das realistische Wissen um die eigene Schuld einem Ideal von Unschuld gewichen ist.

Mit diesen Wahrnehmungen, die nun selbst einer konstruktiven Weiterarbeit bedürften, wechselt die Perspektive in den Bereich der Theologie. Aufschlussreich legt Markus Buntfuß in seinem Beitrag zunächst die Traditionshintergründe evangelischer Sündenlehre frei, indem er zwischen Augustins mythologisch-dualistischer Erbsündenlehre, Luthers seelsorgerlich-therapeutischer Lehre von der Personwürde und Schleiermachers sittlich-freiheitlichem Sündenverständnis differenziert. Besonders erhellend ist dabei die Feststellung, dass die Universalisierung der Sünde bei Augustin und Luther gerade entmoralisierend intendiert war und verhindern sollte, einzelne Sünden und Sünder zu identifizieren. Stattdessen sollte die Angewiesenheit aller auf Gottes Gnade unterstrichen werden. In der Tradition der Aufklärung und dann vor allem durch Schleiermachers Einfluss habe dann allerdings – ganz im Gegenteil – eine Ethisierung der evangelischen Theologie an Einfluss gewonnen. So seien bis in die Gegenwart die Beiträge evangelischer Theologinnen und Theologen zu öffentlichen Debatten durch zwei antagonistische Modelle von Schuld und Moral geprägt: dem Modell ‚öffentlicher Theologie‘ (Heinrich Bedford-Strohm) mit einem hohen Anspruch moralischer Autorität bis hin zu einem prophetischen Wächteramt stehe ein Modell evangelischer Theologie gegenüber, das zwar die Mitverantwortung der Christenheit in der Gesellschaft betont, aber vor moralisierender Parteinahme warnt (Christian Albrecht / Reiner Anselm). Etwas erstaunt ist der Leser, dass der Beitrag damit endet. Man müsse sich – so scheint es – letztlich entscheiden: „Entweder für eine theologische Exkulpation ohne Moralisierung oder für eine theologische Ethisierung ohne Entschuldigung.“ (97) Man fragt sich: Gibt es tatsächlich keine Ansätze, die von der Rechtfertigungslehre der Reformation mit ihrem Beharren auf der Universalität der Sünde und der Unfreiheit des Willens her eine substantielle Ethik entwerfen?

Aus dem Plausibilitätsverlust religiöser Metaphern und Praktiken in ‚postsäkular-postreligiösen Gesellschaften‘ entstehen neue Leerstellen im öffentlichen Umgang mit Schuld. Der katholische Fundamentaltheologe Martin Dürnberger fragt darum nach der ‚dispersiven Präsenz‘ (101) religiöser Praktiken des Umgangs mit Schuld in der Gegenwart. Im Blick auf die theologische Tradition des Christentums identifiziert Dürnberger zunächst zwei völlig unterschiedliche Stränge des Umgangs mit Schuld: a) eine Ethisierung des Gottesverhältnisses, insofern die (zwischen)menschliche Praxis selbst entscheidend für die Gottesbeziehung, also für Sünde und Heil wird, und b) eine Existentialisierung der (zwischen)menschlichen Praxis, insofern Sünde als peccatum originale zur conditio humana schlechthin erklärt wird. Diesen Zustand kann ein moralisch integres Handeln nicht mehr abmildern, es bedarf der Erlösung von außen. Aus diesen ausgesprochen disparaten Traditionssträngen ergäben sich naheliegenderweise sehr unterschiedliche Umgangsweisen mit Fehlbarkeit und Schuld. Diese wirkten, so Dürnberger, transformiert in gegenwärtigen gesellschaftlichen Praktiken nach – in Gestalt etwa von Apps, die sportliche Aktivität und körperliche Fitness bewerten, ökologische Fußabdrücke berechnen und auf viele andere Weisen helfen, die eigene Moralität zu managen, darüber eine eigene Identität zu konstruieren und sich zugleich gesellschaftlich zu distinguieren. Darüber hinaus beobachtet Dürnberger mit Charles Taylor und Thomas Bauer, wie ‚Authentizität‘ zunehmend zum Index aller moralischen Äußerungen und Praktiken wird. ‚Gut‘ ist, was leidenschaftlich erlebt und vorgebracht wird, was unmittelbar und ‚echt‘ ist. Darin erkennt er ein Umschlagen der oben erwähnten Moralisierung des Heils (als einer Tradition des Christentums) zu einer soteriologischen Aufladung der Moral. Um dies zu verhindern, sei es notwendig, nicht erst diesen Umschlag zu kritisieren, sondern kritisch schon gegen die Ethisierung des Heils anzusetzen und „Möglichkeiten zu identifizieren, die soteriologische Identitätsbestimmungen qua moralischer Positionierung bzw. Handlung in Frage stellen, aufbrechen oder relativieren“ (112) – womit sich Dürnberger in der zweiten der erwähnten Traditionen des Christentums, und das heißt auf Seiten von Thomas von Aquin und Luther positioniert.

Der Band endet mit zwei Reflexionen zur Praxis: Stefan Rieger, Professor für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie, nimmt die zunehmend engmaschige Kooperation von Mensch und Maschine zum Anlass für die Frage, wie in solchen Verflochtenheiten Verantwortungs- und Schuldzuschreibungen zu denken sind. Was geschieht, wenn intelligente technische Agenten ‚autonom‘ handeln und symbiotisch mit Menschen interagieren? Können solche Agenten Verantwortung tragen, Schuld übernehmen und damit auch zur Instanz der Entschuldung des Menschen werden? Bei vielen Alltagsanwendungen werde bereits diskutiert, ob Maschinen nicht Verantwortung dort übernehmen sollten, wo sich Menschen aufgrund der Eingeschränktheit ihrer Wahrnehmung oder der Wankelmütigkeit ihrer psychischen Verfassung als unzuverlässig erweisen. Denkbar etwa, dass ein intelligentes Auto den Fahrbeginn verweigert, wenn es beim Fahrer Alkoholeinfluss analysiert, oder dass intelligente Geräte in der Intensivmedizin ‚selbst‘ über die Fortführung bestimmter Maßnahmen entscheiden. Anthropomorphe, vernetzte Maschinen können in der Kunst Kreativität generieren, als humorvolle und geistreiche Lebensbegleiter fungieren, präzise Militärschläge nach rationalem Kalkül ausführen oder in der Pflege auf die Wünsche von Patienten reagieren. Solchen Maschinen wird Moral nicht abzusprechen sein, sei es eine von ihren Erfindern einprogrammierte oder eine sich aufgrund selbstlernender Algorithmen durch Interaktion entwickelnde Moral. Müssten dann nicht auch für solche Maschinen bestimmte Rechte und Pflichten gelten – und wäre die Zuweisung von Schuld oder zumindest Schuldanteilen etwa bei Fehlentscheidungen oder ‚Kollateralschäden‘ dann nicht die naheliegende Folgerung? Ohne sich in diesen Fragen selbst ethisch zu positionieren, zieht Rieger das Fazit: „Vielleicht wird das Teilen von Schuld einmal so normal werden wie das Zusammenarbeiten unterschiedlicher Akteure“ (132).

Aus juristischer Perspektive fragt Laura Münkler schließlich, inwiefern die Einrichtung von beratenden Ethikkommissionen zu einer Externalisierung oder gar Diffusion von Verantwortung führen kann. Grundsätzlich komme solchen Kommissionen die Aufgabe zu, in schwierigen ethischen Fragen das Meinungsspektrum aufzuzeigen, Vorannahmen deutlich zu machen, Minderheitenpositionen zu enttabuisieren, den öffentlichen Diskurs anzuregen und politischen Entscheidungsträgern mögliche Lösungen zu unterbreiten. Zugleich stelle sich allerdings die Frage, ob der ethische Diskurs damit nicht aus der politischen und rechtlichen Sphäre verdrängt wird. Politik und Justiz können auf in Ethikgremien festgestellte Dissense oder auf deren Empfehlungen verweisen und sich damit exkulpieren. Aber auch Ethikkommissionen sind durch solche Aufgabenteilung entlastet, als darauf hingewiesen werden kann, keine verbindlichen Entscheidungen getroffen, sondern lediglich Empfehlungen ausgesprochen zu haben. Moralisch-ethische und politisch-rechtliche Diskurse entkoppeln sich. Das hat einerseits den Vorteil, dass Moralvorstellungen ohne politische Schuldvorwürfe oder juristische Urteile reflektiert werden können, das hat andererseits den Nachteil, dass Exkulpationsstrategien von Politik und Justiz befördert werden und Verantwortlichkeiten diffus werden können.

Die hier versammelten Beiträge präsentieren eine komplexe Debatte, die uns in den nächsten Jahren gesellschaftlich zunehmend beschäftigen wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines deutschlandweiten ‚Instituts für gesellschaftlichen Zusammenhalt‘ mit erheblichen staatlichen Mitteln, seit 2018 in der Konzeptionsphase, macht das überdeutlich. Erkennbar wird einerseits, dass sich Moralvorstellungen in den geschichtlichen Prozessen wandeln und dabei immer wieder neu Exkulpationsbedürfnisse hervorbringen. Deutlich wird andererseits, dass ein ernstzunehmender säkularer Ersatz für religiöse Instanzen sozialer Normierung wie auch für die religiöse Bearbeitung von Schuld in Formen von Beichte und Buße im Moment noch nicht am Horizont ist. Die Preisfrage für die Theologien wäre, wie sich dieses erodierende religiöse Erbe neu fassen und gesellschaftlich plausibel machen ließe. Mit bloßer Restauration ist es jedenfalls nicht getan. Schade eigentlich, dass bei der erwähnten Institutsgründung die Theologien nicht mit am Start sind.

Zum Rezensenten:
Dr. Christian Neddens ist Professor für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel

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