Andrzej Leder, Polen im Wachtraum. Die Revolution 1939-1956 und ihre Folgen, Osnabrück 2019, fibre Verlag, 256 S., 28,00.-€, ISBN: 978-3-944870-63-2


In deutschen Medien wird das Buch Polen im Wachtraum. Die Revolution 1939-1956 von Andrzej Leder mit den Worten angekündigt, dass es in Polen eine heftige Debatte hervorgerufen habe. So heftig waren die Reaktionen auf das Buch keineswegs. Es wurden vor allem historische Einwände laut.

Die Thesen des Verfassers lassen sich so zusammenfassen: Das Vorkriegspolen, die Zweite Republik, war ein rückständiges Agrarland, in dem sich die Bauern nach einer grundlegenden Bodenreform sehnten, aber nicht die Kraft hatten, eine Revolution, die zur Enteignung der Großgrundbesitzer, der Adligen, geführt hätte, durchzuführen. Diese Revolution nahm ihnen die Sowjetunion nach ihrem Einfall in Ostpolen im September 1939 und später nach der sogenannten Befreiung 1944/45 ab, indem sie ein ihr gemäßes Regime einführte, das sofort eine Bodenreform vornahm. Die Rolle der Deutschen in dieser Revolution beruhte darauf, dass sie durch die Ermordung der Juden, die, wie es allgemein heißt, in Polen die Mittelschicht bildeten, die Schaffung einer ethnisch polnischen Mittelschicht ermöglichten. Wäre es nicht zur Gründung eines sozialistischen Staats gekommen, hätten die Polen sofort die Stelle der Juden eingenommen; aber erst nach 1989, als Polen zur freien Marktwirtschaft überging, setzte die Herausbildung der Mittelschicht ein, und das mit Erfolg. Man erkenne dies an der „atemberaubenden Karriere, die der Verzehr von Sushi in der bürgerlichen Schicht“ des heutigen Polens gemacht hat (S. 41).

Die Antwort auf die erste grundlegende Frage, was der Autor unter dem Begriff Revolution versteht, lautet kurz und knapp: Die Überwindung der Feudalordnung. In eindeutiger Form, d.h. unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung – der Autor gebraucht den Terminus „subjekthaft“ (S. 67) – ist dies nur in Frankreich geschehen, in Deutschland erfolgte sie dagegen, „unter dem Zeichen von ‚Konservatismus und spätem Katastrophismus‘“. Diese Revolution dauerte etwa hundert Jahre, von 1848 bis zu der im „Nationalsozialismus kulminierende[n] Revolution“ (S. 62). In Polen begann dagegen die Revolution erst „1939 und endete 1989. Sie dauerte ein halbes Jahrhundert. Den zentralen Zeitraum machten jedoch die Jahre 1939 bis 1956 aus“ (S. 64). Das Jahr 1956 sei der Augenblick gewesen, in dem der Terror ein Ende fand. Dieser habe – abgesehen von den individuellen Schicksalen, den vielen Verhafteten und Ermordeten – „die Umsiedlung einer gewaltigen Zahl von Menschen in die neuen, städtischen Industriezentren“ erzwungen, „die auf diese Weise aus dem agrarischen Horizont ihrer bisherigen Lebensweise gerissen wurden“. Heute wohnen „nicht mehr zwei Drittel aller Polen, sondern weniger als die Hälfte auf dem Land“. Der „stalinistische Kommunismus“, der die “dominierende Stellung in Beamtenschaft, Militär und intellektuellen Kreisen“ zerschlug, habe die Städte zur Öffnung ihrer Schleusen gebracht, rasch wurden sie „von all jenen überschwemmt, die die Mühsal der Bewegung auf sich genommen hatten“ (S. 218). Und diese „Menschen, eigentlich ihre Kinder und Enkel, bilden heute das Rückgrat der gesellschaftlichen Struktur“ (S. 219); aber sie haben sich nicht von ihren alten agrarischen Vorstellungen befreit. In der Sprache Leders klingt das so:

 „Damals begann auch ihre Suche nach einer neuen Daseinsform. Diese wurde von der Revolution jedoch nicht mitgeliefert. Bis heute dauern die chaotischen Verschiebungen in diesem Raum an; es tobt ein Gewittersturm, in dem sich ein neues symbolisches Feld herauskristallisiert. Beobachter könnten entweder wie die Konservativen von heute an der Verrohung der polnischen Gesellschaft verzweifeln, oder aber voller Optimismus der Schaffung einer neuen Wirklichkeit beiwohnen.“ (S. 219)

Der Autor scheint zu den Optimisten, wenngleich zu den gemäßigten, zu gehören, wie aus dem nächsten, dem letzten Kapitel hervorgeht, das die Übersetzerin mit „Der Nachhall der Revolution“ überschrieben hat. Im Original heißt es „Die langen dreiunddreißig Jahre und danach“. [1] Es enthält ein Unterkapitel über die Linke, die im Laufe der Jahre nach 1956 ihre Grundlagen aufgegeben habe, was Leder mit Schmerz vermerkt. In einem weiteren Unterkapitel, betitelt „Die Vollendung der bürgerlichen Revolution“, heißt es: „Das Bürgertum hat tatsächlich die Macht übernommen“, es „fühlt sich jedoch nicht im Recht“ (S. 234). Sein „hervorragender Vertreter“, Donald Tusk, habe leider „kein Gefühl innerer Legitimierung“ besessen, „die ausreichend gewesen wäre, ein gesellschaftliches oder gar zivilisatorisches Projekt dynamisch voranzutreiben, ein Projekt, das in einem neuen symbolischen Universum angesiedelt wäre. Eines, das eine Lösung von der belasteten Vision der Vergangenheit im Namen einer politischen Vision der Zukunft möglich sei“ (S. 236). Er hat diese Vision jedoch nicht gehabt, sondern der Bevölkerung vorgeschlagen: „Lassen wir doch die Politik“. Die Übersetzerin merkt hier an: „»Lassen wir doch die Politik: Bauen wir lieber Polen / Brücken / Schulen / Sportplätze« war der Wahlslogan der von Donald Tusk geführten Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) bei den Kommunal- und Regionalwahlen 2010“. (Ebd.)

Doch dann folgt im nächsten Unterkapitel, das das Buch abschließt, des Autors Aufforderung, sich der Vergangenheit, d.h. der mit fremden Händen durchgeführten Revolution, die mit vielem Unrecht verbunden war, zu stellen:

„Das bedeutet abermals Verantwortung dafür zu übernehmen, was damals geschah: sich bewusst zu machen, dass es unsere Väter und Großväter waren, die nahmen, eindrangen, die Augen verschlossen, ja, töteten, denunzierten, verrieten. Sie trafen aber auch Entscheidungen und nahmen Herausforderungen an, sie begaben sich auf den Weg in die Zukunft und schafften die Fundamente für eine neue Gesellschaft.“ (S. 237)

Wer mit diesem „Sie“ gemeint ist, bleibt offen. Es klingt so, als würde es sich um die neuen Machthaber der Volksrepublik Polen handeln.

Leder will als Psychoanalytiker die neueste Geschichte Polens in der Kategorie des Begehrens im Sinne von Freud und Lacan erfassen. Das Erstaunliche ist hierbei, dass er genau zu wissen meint, was sich die Bauern in der Zweiten Republik im tiefsten Innern wünschten, aber auf die Geschichte der Bemühungen um eine Agrarreform in der Zweiten Republik nicht eingeht. Den Bauern bringt er nota bene eine recht große Verachtung entgegen. Ihm ist es nicht zu schade, die Stelle aus dem Kommunistischen Manifest zu zitieren, wo vom "Idiotismus des Landlebens" die Rede ist: aber Leder ist nun einmal davon überzeugt, dass nur die Stadt eine Zukunft hat, was er am Ende seines Buches auf das heutige Polen bezieht, in dem sich ein politischer Kampf zwischen Stadt und Land abspiele. Ein polnischer Rezensent hat ihm deswegen vorgeworfen, einem politischen Auftrag nachgekommen zu sein.

Interessant ist, dass Leder als erstes Motto zu dem ersten Kapitel über die Revolution folgenden Satz Hannah Arendts zitiert:

„Es gibt vermutlich […] keine Revolution, die von den Massen der Armen selbst spontan in die Wege geleitet wurde, genauso wie keine Revolution je aus dem bloßen Aufruhr der Unzufriedenheit von Verschwörern entstanden ist.“ [2]

Wenn er die nächsten Sätze angeführt hätte, wäre klar geworden, dass er einen ganz anderen Begriff von Revolution als Arendt verwendet. Sie lauten:

„Allgemein kann man sagen, daß Revolutionen nicht möglich sind, wo die Autorität des bestehenden Staatswesens auch nur einigermaßen intakt ist, was unter modernen Verhältnissen heißt, daß Polizei und Armee zuverlässig sind. Es ist ein Zeichen echter Revolutionen, daß sie in ihren Anfangsstadien leicht und verhältnismäßig blutlos verlaufen, daß ihnen die Macht gleichsam in den Schoß fällt, und der Grund hierfür liegt darin, daß sie überhaupt nur möglich sind, wo die Macht auf der Straße liegt und die Autorität des bestehenden Regimes hoffnungslos diskreditiert ist. Revolutionen sind die Folgen des politischen Niedergangs eines Staatswesens, sie sind niemals dessen Ursache.“ [3]

Arendt denkt mit einem Wort nicht an Revolutionen, die im Falle von Deutschland fast hundert oder in dem von Polen fünfzig Jahre dauern.
Leder zitiert Arendts Revolutionsbuch mehrmals und es scheint so, als würde er ihren Revolutionsbegriff teilen, aber an einer Stelle gibt er kund, dass er den Willen zur Freiheit, der für Arendts Revolutionsverständnis zentral ist, anders als sie einschätze. Es sei nicht so, dass Marx das Freiheitsstreben nicht beachtet habe, wie Arendt behauptet, sondern ihm habe etwas anderes vorgeschwebt, nämlich die „Emanzipation der Armen, der Einzug derjenigen in die menschliche Welt, die zuvor nur zu einem ‚knechtischen Gehorsam‘ imstande waren“ (S. 202). Das werde durch „revolutionäre Diktatur“ erreicht, d.h. durch etwas Gegenteiliges zu dem, was Arendt am Beispiel der für sie wahren Revolution, der amerikanischen, zu demonstrieren suchte.

Bei seiner Charakteristik von Vorkriegspolen stützt sich der Verfasser in erster Linie auf die Dokumentensammlung „Wyprawa w dwudziestolecie“ des Nobelpreisträgers Czesław Miłosz, welcher sich offen zu einer subjektiven Auswahl bekannt hatte, sowie auf den Roman „Ferdydurke“ von Witold Gombrowicz. Das Wunder, dass aus dem dreigeteilten Polen innerhalb von zwanzig Jahren ein funktionierender Staat entstehen konnte, der sich gegen den deutschen Einmarsch 1939 erfolgreicher hätte verteidigen können, wenn nicht die Sowjets am 17. September den Osten besetzt hätten, nimmt er nicht wirklich zur Kenntnis. Am Beispiel der deutschen Wiedervereinigung weiß man ja, wie schwer es ist, aus zwei eins zu machen. Umso komplizierter war es, drei Teile mit unterschiedlichen Rechtssystemen zusammenzuschmieden, zumal neben dem Polnischen mehrere andere im Rahmen des Minderheitenrechts anerkannte Sprachen gesprochen wurden, u.a. das Jiddische, das sich gerade in dieser Zeit im polnischen Staat entfaltete. Es gab tatsächlich ein Nebeneinander von polnischen und jüdischen communities, der Idee der Assimilation standen große Teile der Juden skeptisch gegenüber (man denke an die Reaktion der jüdischen Gemeinde auf Hermann Cohens Auftritt in Warschau kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als dieser den Moses-Mendelsohnschen Weg lobte) [4], sie wollten ihre eigene Kultur schaffen. Selbstredend gab es antisemitische Gruppierungen, die nach Pi?sudskis Tod im Mai 1935 besonders aktiv wurden, aber daraus lässt sich noch nicht der allgemeine Wunsch in der Landbevölkerung nach der Liquidierung der Juden ableiten. Leder meint – er steht mit dieser Ansicht nicht allein –, dass es den Deutschen gelungen sei, so schnell die polnischen Juden zu ermorden, weil sie auf entsprechenden Grund gestoßen seien. In Wahrheit war niemand auf die vom ersten Tag an radikalen, im Eiltempo vorgenommenen antijüdischen Aktionen der deutschen Besatzer vorbereitet. Bereits am 1. Dezember 1939, d.h. nach nicht ganz zwei Monaten Okkupation, mussten alle polnischen Juden den sogenannten Davidsstern tragen. Infolge der Minderheitenrechte gab es schon zuvor Kartotheken, die die ethnische Zugehörigkeit verzeichneten. Es war also ein Leichtes, Segregationen vorzunehmen. Die beiden Besatzer, der deutsche und der sowjetische, schufen chaotische Zustände; in der Bevölkerung wusste niemand, wie es weitergehen würde. Sowohl die Deutschen als auch die Sowjets gingen radikal bei der Zerstörung der alten Ordnung vor, wobei mehr polnische Bürger, einschließlich der Juden, aus Ostpolen ins Generalgouvernement flohen als umgekehrt. Im ehemaligen Ostpolen wurden einige Hunderttausend Bürger nach Sibirien und Kasachstan deportiert, im Generalgouvernement und in den vom Dritten Reich einverleibten Gebieten wurden die Juden gettoisiert, die Intelligenz dezimiert, Tausende (etwa 2,5 Millionen waren es am Ende) zu Zwangsarbeit verpflichtet, zu Konzentrationslager verurteilt. In dieser Situation konnte von den insgeheimen Sehnsüchten (Imaginationen verbunden mit „verborgener jouissance“, S. 212), von denen nach Leder die polnischen Bürger bei den von den Besatzern vorgenommenen Enteignungen durchdrungen waren, kaum die Rede sein. Wenn es eine Sehnsucht gab, dann die, dem Grauen zu entkommen. Es war ein wahrer Kataklysmus, den die Menschen zwischen 1939 und 1956 erleben mussten. Umso mehr erstaunt es, wieviel Widerstand es gab, wofür der Gettoaufstand 1943 und der Warschauer Aufstand 1944 während des Kriegs und der Posener Aufstand von 1956 in der Volksrepublik Polen sichtbare Zeichen bildeten. Man könnte auch noch die Proteste von 1970, 1976 und 1980/81 (Solidarność!) hinzufügen. Die Passivität war wiederum so groß nicht. Der Umstand, dass ein großer Teil der Polen Besitz übernommen hat, der einst entweder Juden oder Deutschen gehörte, hat mehr Traumata als insgeheime Freude erzeugt, zumal das neue Regime im Prinzip gegen Privateigentum eingestellt war. Das Land, das den Bauern zumeist ohne Hof und Scheune zugeteilt wurde, sollte ja bald in Kollektiveigentum übergehen. Doch in Polen ereignete sich ein weiteres Wunder: die Kollektivierung wurde 1956 zurückgenommen, zumindest die alteingesessenen Kleinbauern bekamen ihr Hab und Gut wieder. Damit unterschied sich Polen in den nächsten drei Jahrzehnten wesentlich von anderen sogenannten realsozialistischen Staaten.

Das Imaginarium, um mit Leder zu sprechen, das in den Köpfen der Polen heute herumschwirrt, wird sicherlich unterschiedlich ausfallen, anders in den rein polnischen Gebieten, die nicht neu besiedelt wurden, anders in denen, die vor dem Zweiten Weltkrieg zu Deutschland gehörten, und noch anders in Oberschlesien, dessen Geschichte eine besondere ist.

In einer recht langen Einführung zu dem Buch erläutert der Kulturwissenschaftler Felix Ackermann die historischen Umstände, wobei er auf die je nach geographischer Lage unterschiedlichen Erfahrungen der Bevölkerung Polens verweist. Gleichzeitig unterstreicht er, dass man nicht von deren wirklich aktiven Mitwirkung am Holocaust sprechen könne. Als Kenner der litauischen neueren Geschichte, Verfasser der 2010 erschienenen Studie Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt. 1919–1991, hebt er Polen von seinen nordöstlichen und östlichen Nachbarn in jener Zeit ab. Dort gab es tatsächlich solch eine Mitwirkung. Man kann die Einführung als einen diskreten Gegenentwurf zu Leders Ausführungen lesen, was nicht der Ansicht Ackermanns widerspricht, dass das Buch einen neuen Zugang zur Geschichte Polens eröffnet. Tatsächlich verlangt es nach einer gründlichen Mentalitätsgeschichte Polens der letzten hundert oder noch besser zweihundertfünfzig Jahre.


[1] Viele Zwischentitel stimmen mit dem polnischen Original nicht überein, mehrfach sind sie gekürzt worden, oft verliert die Übertragung an Eindeutigkeit. So heißt es im Original nicht „Interpassivität und Genuss“, sondern: „Interpassivität – d.h. wenn der Andere sich für mich freut oder für mich etwas tut, damit ich mich freue“ (Transpasywność – czyli gdy Inny raduje sie za mnie albo robi dla mnie coś, bym ja sie radował).

[2] Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1974, S. 148. Leder zitiert Arendt auf S. 61.

[3] Ebd.

[4] Siehe hierzu meinen Artikel „Die Kontroverse um Hermann Cohens Angriffe gegen den Zionismus und seine Stellungnahmen für die Assimilation der Ostjuden“, in: Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte. Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen, hrsg. von Eleonore Lappin und Michael Nagel, Bremen 2008, Bd.1, S. 247-258.



Zum Rezensenten:

Dr. habil. Karol Sauerland, Prof. em. für Germanistik, Warszawa und Torun.




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