Rainer Georg Grübel, Wassili Rosanow. Ein russisches Leben vom Zarenreich bis zur Oktoberrevolution, 2 Bde, Münster 2019, Aschendorff-Verlag, 1072 S., ISBN: 978-3-402-16007-7
Rainer Georg Grübel hat nach etwa zwanzig Jahren Forschungsarbeit eine
über tausendseitige Biographie des russischen Schriftstellers Wassili Rosanow
(1856-1919) vorgelegt. Der Umfang erstaunt, aber für den Autor ist es eine
glänzende Gelegenheit, „ein russisches Leben vom Zarenreich“, (d.h. der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts), „bis zur Oktoberrevolution“ – so der Untertitel
des Buchs – vorzustellen. Rosanow, der viel schreibende, zu allen möglichen
Problemen Stellung nehmende, kontaktfreudige „russischste aller russischen
Schriftsteller“, wie er u.a. genannt wurde, eignet sich dazu ausgezeichnet,
zumal er äußerst wechselhaft war, seine Meinungen gern änderte und dauernd in
Streit mit anderen, z.T. auch ihm Nahestehenden, lag. Er war in jeder Hinsicht
unberechenbar. Grübel spricht von „chamäleonartiger Wandelbarkeit“ (S. 955).
Dieses Hin und Her zeichnet er glänzend nach.
Wir erhalten mithin ein Panorama des intellektuellen Russlands bis hin zum Oktoberputsch, der den absoluten Bruch mit allem Bisherigen einleitete. Hellseherisch verfasste Rosanow kurz vor seinem Tode, zu Beginn der bolschewistischen Herrschaft „Die Apokalypse unserer Zeit“ (Apokalipsis naschego wremenii), die allerdings unvollendet geblieben ist. „Kaum einer“, konstatiert Grübel, „hat den kommenden Unrechtsstaat mit seiner Partei-Justiz präziser vorausgesagt“ (S. 1006). Nach seiner Meinung lasse sich die „Apokalypse“ als Antwort auf Alexander Bloks Verherrlichung der bolschewistischen Revolution in seinem Erzählgedicht Die Zwölf lesen, das im März 1918 erschienen war und immerhin mit dem Bild des mit den Bolschewiki mitschreitenden Christus endet, wodurch es heute karnevalesk wirken mag, aber nicht in jener Zeit. Den sogenannten Konservativen muss das Grauen gekommen sein.
Überaus anschaulich beschreibt Rainer Grübel, wie Rosanows Arbeitsweise beim Verfassen der „Apokalypse unserer Zeit“ aussah:
„Die Einträge entstanden zunächst als oft fragmentarische Vermerke auf Notizblöcken, auf einem Fetzen Papier, auf der Rückseite eines Briefumschlags oder was an Beschreibbarem gerade zur Hand war. […] Dann hat Rosanow Notate, die ihn besonders berührten, in deutlicherer Schrift und im Wortlaut nicht selten korrigiert je auf ein eigenes Blatt Papier übertragen. Das Bemühen um besser lesbare Schrift hielt nicht lange an, bald ging er wieder zu schnellerer Schreibweise über. Die Zeilen verlaufen auch nicht immer parallel, erreichen bisweilen den unteren Rand der Seite. Die Niederschrift wird dann sogleich auf der rückwärtigen Seite fortgesetzt, nicht selten – nachdem das Blatt um 180° gedreht wurde. […] Den Kopf beschäftigten oft bereits neue Gedanken oder es wurden neue Einfälle erwogen.“ (S. 1000)
Sie ähnelte mithin der Art, wie die berühmten „Abgefallenen Blätter“ oder „Solitaria“ entstanden, nur litt Rosanow vor der bolschewistischen Machtübernahme nicht unter der Kälte wie 1918 und in den ersten Wochen 1919, als er, der leidenschaftliche Verehrer der Sonne, schließlich am fünften Februar bitterlich frierend in Sergijew Possad, wohin er mit seiner Familie aus Petrograd umgezogen („oder war es eine Flucht?“, fragt der Verfasser) war, starb. Quasi vorausahnend, hatte er im letzten „Abgefallenen Blatt“ acht Jahre zuvor geschrieben: Sterben ist „ein völlig anderes Schaustück als gewöhnlich gedacht. Es ist Kälte, Kälte und Kälte, tödliche Kälte und sonst nichts“ (S. 1024). Einige Tage vor seinem Kältetod hatte er noch vom Bett aus unter vielen Decken und seinem Pelzmantel „Briefe an Freunde und letzte Gedanken“ (S. 11 u. 1022) seiner Tochter Nadeshda diktieren können.
Seinen Ausführungen hat Grübel zwei Mottos vorangestellt. Das erste, dessen Autorin die symbolistische Lyrikerin Sinaida Gippius ist, lautet:
„Der unglückliche, erstaunliche Rosanow, der in solchem Elend gestorben ist. Man wird sich einmal seiner erinnern. Seine Lebensgeschichte ist ein ganzes Geschichtswerk.“ (S. 7)
Der Verfasser braucht diese Tagebuchnotiz der 1945 in Paris verstorbenen Lyrikerin, Ehefrau von Dmitri Mereschkowski, nicht zu kommentieren. Die Leser und Leserinnen sollen es wörtlich nehmen und es auf seine Biographie beziehen. Leider geht deren Erscheinen nicht mit Neuauflagen der Bücher von Rosanow einher. Die „Abgefallenen Blätter“ sind das letzte Mal in der Übersetzung von Eveline Passet in der „Anderen Bibliothek“ 1996 erschienen. 2009 brachte der Oldenburger Universitätsverlag Rosanows Auseinandersetzung mit Dostojewskis Legende vom Großinquisitor und mit Gogol heraus, begleitet von einem ausführlichen Kommentar aus der Feder von Grübel. Die „Solitaria“ in der Übersetzung von Stammler gehen auf das Jahr 1985 zurück. In Polen sind dagegen in den letzten drei Jahren die Hauptwerke Rosanows erschienen, es fehlt allerdings an einer Biographie. Immerhin hat die Zeitschrift „Kronos“ ein dickes Heft ihm und Gogol gewidmet, was wiederum zu einer interessanten 45-minütigen Sendung im zweiten Programm des polnischen Radios führte. Rosanow war auch dank des Malers und Mitherausgebers der zwischen 1947 und 1989 führenden polnischen in Paris erscheinenden Emigrationszeitschrift „Kultura“, Józef Czapski (1896-1993), und des Lyrikers Julian Tuwim (1894-1953) in Polen ein Name. Czapski hatte Rosanows Schriften durch D. Mereschkowski bereits 1919 kennengelernt. Später unterhielt er sich mit Dmitrij Filosofov (1872-1940) über ihn. Filosofov war nach Warschau emigriert und sollte im polnischen geistigen Leben jener Zeit eine große Rolle spielen. Czapski hat sich in der Folge mehrmals zu Rosanow geäußert.
Das zweite Motto zu der Biographie stammt aus den „Abgefallenen Blättern“:
„Es gibt Menschen, die ‚stimmig‘ geboren werden und solche, die ‚nicht stimmig‘ geboren werden. Ich bin ‚nicht stimmig‘ geboren, und daher diese seltsame, dornige Biographie, die jedoch ziemlich interessant ist. Der ‚nicht stimmig‘ geborene Mensch fühlt sich stets ‚nicht an seinem Platz‘: das ist genau, wie ich mich stets fühlte.“ (S. 7)
An diese Charakteristik hat sich Rainer Grübel durchgehend gehalten, indem er die vielen ‚Unstimmigkeiten‘ im Leben von Rosanow aufzeigt. Die größten sind in dessen Einschätzung des Alten Testaments und des Judentums zu erkennen. Anfänglich war er des Lobes voll ob der positiven Körperbezogenheit sowohl in der hebräischen Bibel als auch im jüdischen Alltag, doch dann folgt seine fatale Rolle in der Beilis-Affäre, um schließlich am Ende seines Lebens zu seiner Hochachtung des Judentums wieder zurückzukehren. Grübel weist diesem Auf und Ab verständlicherweise viel Raum zu. Durch Rosanows zeitweiligen unverzeihlichen Antisemitismus fällt es den Heutigen schwer, ihn in Deutschland neu zu entdecken, seiner historischen Bedeutung in der modernen Literatur gerecht zu werden, obgleich es sich um einen ganz anderen Fall von Antisemitismus handelt als bei Heidegger, der sich nicht wie Rosanow immer wieder mit dem Alten Testament auseinandersetzte, es nicht bewunderte und dem Neuen Testament entgegensetzte. In den „Abgefallenen Blättern“ schreibt Rosanow, dass er von Jugend an die Lektüre des Alten Testaments dem des Neuen vorzog. Das Judentum habe im Gegensatz zum Christentum das Körperliche nie abgelehnt. Rosanows Betonung der Rolle des Leibes erinnert an Heine, aber er geht über ihn hinaus, denn ein August von Platen hätte nicht befürchten müssen, von ihm wegen seiner Homosexualität angegriffen zu werden. Doch die Art, wie Heine seinen Dichterkollegen attackierte, erinnert an Rosanow, der ja immer wieder Gegnerschaft suchte, selbst Freundschaften aufs Spiel setzte. Grübel beschreibt diese Fälle ausführlich unter Einschluss der Korrespondenzen von und an Rosanow. Man könnte auch den streitlustigen Karl Kraus als eine Parallelerscheinung anführen, der in dem Buch mehrmals erwähnt wird, wenngleich im Zusammenhang mit der „Apokalypse unserer Zeit“, nicht mit den Angriffen des Österreichers gegen die Vorherrschaft der Juden in den Medien und repräsentativen Wiener Kunstveranstaltungen (und man denke an seinen Essay „Er ist doch ä Jud“ von 1913 in der „Fackel“).
Rosanows Verhältnis zum Judentum illustriert Grübel u.a. an dem intensiven Briefwechsel mit dem Literaturwissenschaftler, Publizisten und Übersetzer Michail Ossipowitsch Gerschenson, der sich nicht als ein assimilierter Jude verstand, gleichzeitig für sich „keinen Weg zur aktiven Teilnahme an jüdischen Dingen“ (S. 627) sah. Die „handschriftliche Wechselrede“ (ebd.) wurde trotz der nicht akzeptierbaren Rolle Rosanows während der Beilis-Affäre mit gegenseitiger Hochachtung geführt. Grübel nennt die beiden „Wertkontrahenten“ (S. 625), die auf ihren unterschiedlichen Standpunkten beharren konnten, ohne am Ende den Briefwechsel aufgeben zu müssen. Die Korrespondenz belege „abseits aller Wertungsdifferenzen beider die Fähigkeit zum kulturellen Dialog“, unabhängig davon, dass Rosanow „den Sprung über die Scheidewand der Nationalliteratur nicht“ (S. 627) gewagt hatte. Er blieb Russe, was sich auch in seinen Urteilen über Deutschland manifestierte, die größtenteils stereotyp waren, obgleich nicht uninteressant. Rosanow bezog sich in seinen Berichten über „Germanien“ immer wieder auf sein Land, sich fragend, was in Russland besser bzw. schlechter sei. 1910, als er mit seiner Frau Westeuropa bereiste, lebte er in einer gewissen Hoffnung, dass Russland erfolgreich reformiert werden könne, ohne seine Besonderheiten aufgeben zu müssen, wozu selbstredend das orthodoxe Christentum gehörte, dessen „Feuer des ewigen Lichtes“, wie Rosanow bekannte, in alle orthodoxen „Auslandskirchen aus Moskau herbeigebracht werden“ (S. 643) möge.
Solch ein Wunsch mag wundern, wenn man bedenkt, dass Rosanows Sicht auf das orthodoxe Christentum und das Christentum überhaupt mit der Nietzsches verglichen wurde. Mereschkowski nannte Rosanow bereits 1899 unseren „russischen Nietzsche“. Aber die Unterschiede zwischen Rosanow und dem deutschen Philosophen sind groß, wie auch Grübel unterstreicht, vor allem ist die Kritik des Russen am Christentum, an dem Asketischen von Jesus Christus, keine Kritik des religiösen Glaubens insgesamt, sondern vor allem an der, wie gesagt, Sinnesfeindlichkeit, wie sie sich im Neuen Testament manifestiert.
Es bleibt nicht aus, dass immer wieder die theologischen bzw. quasitheologischen Auseinandersetzungen unter den Slawophilen zu Beginn des Jahrhunderts, an denen Rosanow teilhatte, dem Leser in den verschiedensten Kontexten vorgeführt werden. Als einer der konsequentesten Denker erweist sich Leontjew, den der junge Rosanow als seinen Lehrer bezeichnete. Aus seiner erzkonservativen Einstellung heraus hatte Leontjew ein totalitäres Zukunftsbild gezeichnet, das, wie Grübel betont, einen Orwell vorwegnimmt (S. 395), aber es war eine apokalyptische Vision, die den leidenschaftlich über religiöse Fragen debattierenden Westlern und ihren Gegenspielern nicht vor Augen stand. Niemand hatte sich vorstellen können, dass es den Bolschewiki gelingen könnte, die orthodoxe Kirche in kürzester Zeit zu entmachten, dem gläubigen Volk seinen Glauben zu nehmen, jeglichen Widerstand durch Mord und Totschlag zu brechen.
Grübel vermutet, dass Rosanow an ADHS litt. An mehreren Stellen (u.a. S. 733) verweist er darauf. Ernst Bloch pflegte in Opposition zur Psychoanalyse zu sagen, dass er sich seine Komplexe nicht nehmen lasse. Wahrscheinlich hätte auch Rosanow so geantwortet und hinzugefügt, dass er aus seinem Mangel an Konzentration eine Tugend gemacht, ihn für die Schaffung seiner neuen literarischen Technik verwandelt habe, die Viktor Šklovskij als erster als ein Novum innerhalb der Gattung des Romans charakterisierte. Es mag erstaunen, dass Šklovskij von Roman spricht, denn Rosanows literarische Werke machen eher den Eindruck einer Aphorismen-, Fragmenten- oder auch Denkbildersammlung, die zum Lesen dieses und jenes „Fragments“ und zum Blättern einladen. Aber bei genauer Lektüre erkennt man, wie die einzelnen Teile aufeinander bezogen sind, insbesondere dadurch, dass gegen einen formulierten Gedanken sogleich Bedenken, Einschränkung, Gegenteiliges geäußert wird. Šklovskij spricht vom Prinzip der Antithese. Man könnte Rosanows literarische Werke als Ich-Romane bezeichnen, in denen Autor und Subjekt eins sind, sie aber auseinanderzufallen scheinen, weil Rosanow vorgibt, seine überaus unterschiedlichen Wahrnehmungen des Alltags sowie seine widersprüchlichen Reflexionen über aktuelle Ereignisse und Themen, die so gut wie alle beschäftigen, spontan niedergeschrieben zu haben, was größtenteils sogar stimmt. Grübel neigt dazu,
„Rosanows Schreiben als eine Form des inneren Monologs aufzufassen, der Edouard Dujardin, Rosanows Zeitgenossen, zufolge den Satzbau auf das erforderliche Minimum reduziert, um ‚so nah wie möglich beim Unbewussten, vor jeder logischen Organisation‘ zu sein.“ (S. 737)
Leider kam es infolge des einsetzenden bolschewistischen Terrors zu keinen wesentlichen Versuchen, diese neue Form nachzuahmen oder zu unterlaufen. Die Schriften Rosanows wurden in der Sowjetunion relativ schnell aus dem Verkehr gezogen. Nach Trotzkis Warnung vor der „Kanonisierung Rosanows durch russische Intellektuelle“ (S. 1029) im Herbst 1922 konnte sich kaum noch jemand, der in Russland verweilte, zu ihm bekennen, ihn höchstens auf eine versteckte Weise rezipieren, aber jegliche Auseinandersetzung in Bezug auf seine Schreibweise war selbst in kleinen Kreisen so gut wie unmöglich. Außerhalb von Russland wurde er nur sporadisch rezipiert, wobei weniger die literarische Form eine Rolle spielte, als vielmehr seine Anschauungen zu Sexualität und Tod. So ließ sich Henry Miller „von der Metaphysik der Sexualität des Russen inspirieren. Lawrence George Durell trug die ‚Gefallenen Blätter‘ in englischer Übersetzung ‚wie eine Bibel‘ bei sich und registrierte: ‚He was trying to explode his own notion‘. Über D.H. Lawrence und Miller hat Rosanows Befreiung des Themas der Sexualität in den Kulturen Europas und weit darüber hinaus gewirkt […]“ (S. 1032).
Erst Ende der 1980er und vor allem in den 1990er Jahren ist Rosanow in Russland freigegeben worden. Mittlerweile liegen eine dreißigbändige Ausgabe und die ersten fünf Bände einer großen kritischen Edition vor. Es ist zu hoffen, dass auch die sich noch unter Verschluss befindlichen Briefe bald veröffentlicht werden. Grübel wollte sie 1994 einsehen, aber die Direktorin des Russischen Staatsarchivs für Literatur verlangte dafür die Zahlung von 24.000 Dollar in den ‚Fond Rosanow‘ (S. 1031).
In genialer Weise sah der Schriftsteller Michail Prischwin drei Monate nach Rosanows Tod am 5.2.1919 voraus:
„In meinem Schicksal als Mensch und Mann der Literatur hat der Jeletser Gymnasiumslehrer und geniale Schriftsteller W. W. Rosanow eine große Rolle gespielt. Nun ist er in der Dreifaltigkeits-Kathedrale verschieden und seine Werke sind, wie auch die gesamte auf sie folgende Literatur, begraben unter den Steinen der Revolution und werden dort liegen bis die Stunde der Befreiung schlägt.“ (S. 1030)
Die Stunde der Befreiung war schneller als erwartet eingetreten, aber die sieben Jahrzehnte der Sowjetherrschaft sind nicht wiedergutzumachen. Eine völlig neue Rezeption ist eingetreten, wovon die Worte des Vorsitzenden der Rosanow-Gesellschaft, Michail Maslin, zeugen, dass Rosanow der „erste russische Blogger“ (S. 1033) sei. Das mag eine gute Reklame für Rosanow sein, wird aber seiner Schreibform in keiner Weise gerecht, abgesehen davon, dass man dann auch die Frühromantiker als Blogger bezeichnen könnte.
Zum Rezensenten:
Dr. habil. Karol Sauerland,
Prof. em. für Germanistik, Warszawa und Torun.
Refbacks
- Im Moment gibt es keine Refbacks
Tübingen Open Journals - Datenschutz