Peter B. Josephson/R. Ward Holder, Reinhold Niebuhr in Theory and Practice. Christian Realism and Democracy in the Twenty-First Century, Lanham 2019, Rowman & Littlefield, 244 S., 93,99 €, ISBN: 978-1-4985-7669-7
Peter B. Josephson und R. Ward Holder vom Saint Anselm College in
Manchester (New Hampshire) haben in ihrem Werk Reinhold Niebuhr in Theory and
Practice den Christlichen Realismus Reinhold Niebuhrs untersucht und Schlüsse
für die Demokratie des 21. Jahrhunderts in den USA gezogen. Die beiden
Theologen, die 2012 ein Werk über Reinhold Niebuhr und Barack Obama verfasst
haben, stellen Annahmen darüber auf, weshalb sich die westlichen Demokratien in
Legitimitätskrisen befinden und eine Person wie Donald Trump Präsident der
Vereinigten Staaten werden konnte.
Niebuhrs breites Schrifttum zeigt sich in vielen Aspekten als zeitlos, weil er sein Menschenbild stets mit historischer Erfahrung konfrontierte und zu begründeten Einstellungsänderungen fähig war - eine Qualität, an der es in der ideologisierten Atmosphäre der Gegenwart schmerzlich mangelt.
1. Niebuhrs Staatsverständnis
In der ersten Hälfte des Buches (Kapitel 1-3) werden Niebuhrs Werdegang, die Entwicklung seiner Erkenntnisse zu theologischen und staatspolitischen Grundlagen sowie seine Überlegungen, wie in Demokratien soziale Gerechtigkeit etabliert werden könne, dargestellt; daraus resultiert eine Art implizite Staatstheorie.
Für Niebuhr war der Staat notwendig, um die negativen Begleiterscheinungen des privaten ökonomischen Systems im Zaum zu halten; auf der anderen Seite muss er notwendige Ordnungsfunktionen bereitstellen, um die so beurteilten anarchischen Tendenzen der menschlichen Natur zu regulieren. Private Freiheiten und öffentliche Güter müssten ins Gleichgewicht gebracht werden.
„There is pretty conclusive evidence that an uncontrolled economy does not automatically make for justice and that a compounding of political and economic power, according to collectivist programs, will threaten both justice and liberty.“ (Niebuhr, zitiert auf S. 96).
Sein Leben lang sollte Niebuhr von sozialdemokratischen Überzeugungen geleitet werden.
2. Der Staat als Notwendigkeit und Gefahrenpotenzial
Im zweiten Teil des Buches geht es um die internationalen Beziehungen, das Feld, auf dem Niebuhr internationale Prominenz erlangen sollte. Niebuhrs machtzentrierter Ansatz finde in Zeiten zu wenig Beachtung, in welchen sich ein radikaler Dualismus zwischen tribal-nationalistisch und kompromisslos globalistisch denkenden und handelnden Akteuren ergeben habe, meinen Josephson/Holder. Sie sagen: „A Niebuhrian solution must be arrived at both with respect for the political necessity of the nation-state, and in acknowledgement of the prophetic Christian critique of mere political necessity.“ (S. 106)
Niebuhr sieht die Gefahr der Vergötzung der Nation, die zu einem säkularen Gott werden könne. Auf diese Weise sei es zu tragischen Formen eines gewaltsamen Nationalismus und Imperialismus in der Geschichte gekommen. In seinem bekannten Werk The Irony of American History kritisiert er den amerikanischen Exzeptionalismus, die Vorstellung, Gottes auserwähltes Land zu sein. Gleichzeitig aber gesteht er den USA auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine besondere Rolle zur Verteidigung der freien Welt zu. Aber mit der Verantwortung verliere das Land seine naiv beanspruchte Unschuld.
3. Kein Altruismus von Nationen
Einerseits ist es für den Christlichen Realisten Niebuhr unrealistisch und sogar unmoralisch, wenn eine Nation ihre eigenen Interessen zugunsten universeller Werte vernachlässige (S. 108). Ein zu eng gezogenes nationales Interesse, wie es beispielsweise Donald Trump mit seinem America first vertrete, sei für die langfristige Entwicklung des Landes kontraproduktiv. Der Christliche Realismus fordere den verantwortungsvollen Umgang mit dem ambivalenten Faktor Macht. Im Reich der internationalen Politik sei eine Individualethik nicht umsetzbar; der Staatsmann als Mandatar seiner Bevölkerung könne nicht wirklich altruistisch handeln. Niebuhr kritisierte des Weiteren utopische Hoffnungen auf eine Weltregierung; stattdessen hoffte er, zunächst mit Blick auf Europa, auf die Entstehung regionaler Ordnungssysteme, wie die Autoren im Gegensatz zu sehr optimistischen Niebuhr-Interpreten [1] sehr gut erkennen.
4. Niebuhr als Inspiration für Barack Obama
Die Autoren zeigen, dass Niebuhr sicherlich wesentliche Teile von Obamas Innenpolitik mitgetragen hätte, vor allem seine Einführung einer Krankenversicherung für alle Amerikaner. Skeptisch wäre er hingegen in Bezug auf dessen Optimismus hinsichtlich des Ausgangs des sogenannten arabischen Frühlings gewesen. Ebenso hätte er Obamas Festlegung von roten Linien im Syrien-Konflikt gegenüber Machthaber Assad und die Nichtbeachtung dieser Festlegung als diplomatische Fehlleistung kritisiert. Aber mit dem Politikverständnis, das die Unvermeidlichkeit des Einsatzes von Gewalt in internationalen Beziehungen postuliert, ist Niebuhr eine klare Inspiration für Obama, wie dessen Rede zum Erhalt des Friedensnobelpreises von 2009 in Oslo deutlich machte [2].
5. Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis
Niebuhrs Buch Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis aus dem Jahre 1944 bildete ein Raster ab, mit dem die Einstellungen von Idealisten (Kinder des Lichts) und zynischen Egoisten (Kinder der Finsternis) dargestellt werden können. Niebuhr machte den Gutmeinenden den Vorwurf, mit ihrem liberalen Glauben den Faktor der Sündhaftigkeit des Menschen im Allgemeinen, aber auch ihrer selbst, zu vernachlässigen. Der Glaube, mit Aufklärung und Erziehung allein eine bessere Gesellschaft herstellen zu können, führe stets zu großen Enttäuschungen. Durch ihre hohen, aber nie vollständig realisierbaren Ideale spielten sie den von ihm Kinder der Finsternis genannten Egozentrikern sogar in die Karten, die in zynischer Weise auf die eigene „Ehrlichkeit“ im kruden Vertreten ihrer Eigeninteressen verweisen könnten. Zu dieser Gruppe zählte Niebuhr Autokraten wie Adolf Hitler, aber auch demokratisch gewählte, aber stark egoistisch handelnde Staatsmänner wie Donald Trump oder Vertreter der amerikanischen Alt-Rechten mit ihren rassistischen Einstellungen.
Der „liberale Paternalismus“ der Kinder des Lichts sei gut gemeint, aber undemokratisch und verstärke sogar die Ressentiments gegen die etablierten Führungsschichten in Politik und Gesellschaft, so die Autoren. Die nationalistisch und egozentrisch gesinnten Kräfte in den westlichen Demokratien nutzten die überzogen progressivistischen Projekte wie No-Border-Philosophien oder übersteigerte Gendertheorien, um vor den Formen eines erzwungenen Egalitarismus zu warnen. Niebuhr, so wird in dem Buch deutlich, forderte eine demütige Form von public policy, um die Gesellschaft nicht in Sieger und Verlierer aufspalten zu lassen, und war in dieser Hinsicht auch erheblich von Abraham Lincoln beeinflusst worden. Da in einer sozialen Welt der Unvollkommenen keine klar erkennbaren Wahrheiten vorlägen, dürften Standpunkte auch nicht mit absolutem Anspruch vertreten werden.
6. Niebuhrs Ansatz ist praxistauglich
Niebuhrs Christlicher Realismus, so die Autoren, bietet keine direkte
Leitlinie zur Lösung konkreter politischer Fragen. Aber er liefert den Rahmen
für eine Politik demokratischer Demut (Been), ein Ansatz in der Tradition James
Madisons, der in seinen Verfassungsgrundsätzen die Unvollkommenheit des Menschen
einkalkuliert hatte. Der Hochmut liberaler Individualisten und sozialer
Ingenieure, vollkommene Lösungen für soziale Probleme zu reklamieren, führe zu
Enttäuschungen und schüre Ressentiments, die letztlich das Feld für die
erfolgreiche Kampagne Donald Trumps bestellt hätten. Zwar forderte Niebuhr eine
aktive Bürgergesellschaft ein, doch diese dürfe nicht nur partikulare Interessen
im Gewande des Gemeinwohls durchzusetzen versuchen. Diese Entwicklung ist in
sich radikalisierenden und polarisierenden westlichen Demokratien in
bedenklicher Weise festzustellen, in welchen sogenannte zivilgesellschaftliche
Gruppen ihre immer mit angeblich höherer Moral ausgezeichneten Interessen
radikal und völlig kompromisslos durchsetzen wollen. An dieser Stelle wäre es
besonders wichtig, die Legitimität unterschiedlicher Vorstellungen in demütiger
Weise anzukennen und Konflikte diskursiv auszutragen. Doch gerade im Bereich des
Politischen ist der Mensch zu dieser empathischen Leistung kaum fähig. Es gibt
viele Gründe, auch heute noch Niebuhr im Original zu lesen. Josephson und Holder
bieten hierzu eine sehr gute Anleitung, wie dessen Denken konsequent auf
politische Probleme der Gegenwart bezogen werden kann. Ihr Werk ist für
Theologen, Politikwissenschaftler und für eine an den gegenwärtigen
Entwicklungen in der US-Innen- und Außenpolitik interessierte Leserschaft zu
empfehlen.
Zum Rezensenten:
Dr. Christoph Rohde war Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik München. Seine Dissertation ‚Hans J. Morgenthau und der weltpolitische Realismus‘ erhielt den Förderpreis der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahre 2002. Rohde ist als selbständiger Dozent im Bereich Volkswirtschaft und Medienpolitik für verschiedene Bildungsträger tätig. In Kürze erscheint ein von ihm herausgegebener Sammelband zum Staatsverständnis Reinhold Niebuhrs im Springer Verlag.
[1] Guilherme Marques Pedro: Reinhold Niebuhr and International
Relations Theory. Realism beyond Thomas Hobbes. London. Routledge 2017.
[2]
R. Ward Holder/ Peter B. Josephson: The Irony of Barack Obama. Barack Obama,
Reinhold Niebuhr and the Problem of Christian Statecraft. Routledge. London
2012.
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