Ronja Frank

Kirchenspezifische Bedingungsfaktoren sexuellen Missbrauchs


Die 2010 bekannt gewordenen Missbrauchsfälle, die sich innerhalb der katholischen Kirche insbesondere im Zeitraum zwischen den 1950er und 1980er Jahren ereigneten, werfen einige Fragen auf. Wie kann es sein, dass ausgerechnet das Milieu einer Institution, die eigentlich für Werte wie Nächstenliebe, Solidarität und Zivilcourage einsteht, zu einem Haupttatort sexuellen Missbrauchs wird? Wie lassen sich vor diesem Hintergrund der Mangel an Resistenz und aktiver Intervention durch ihre Mitglieder erklären?

Ein Blick auf die Definition des sexuellen Missbrauchsbegriffs und seine Charakteristika und Dynamiken innerhalb institutioneller Kontexte vermag dabei mögliche Antworten zu geben. Der Definition nach zeichnet sich sexueller Missbrauch neben der sexuellen Absicht der Handlung des Täters und das Fehlen oder – insbesondere im Kontext des sexuellen Kindesmissbrauchs – der Unfähigkeit des Opfers zur Einwilligung zu den besagten Handlungen durch ein zwischen Täter und Opfer bestehendes Macht- oder Abhängigkeitsverhältnis aus. (vgl. Müller 2010: 18f.) Dieses wird vom Täter in der Regel dazu ausgenutzt, das Opfer unter Druck zu setzen und es so zur Geheimhaltung der Tat zu drängen. (vgl. Gründer & Stemmer-Lück 2013: 16)

Innerhalb institutioneller Kontexte kommt es insbesondere aufgrund gruppen- und sozialpsychologischer Prozesse wie der Identifikation der Mitglieder mit der jeweiligen Institution zu einer Ausweitung der beschriebenen Dynamiken auf die Institution insgesamt. Aus individuellen Gefühlen der Scham oder einer Schwierigkeit der Integration des Charakters der Tat mit den Werten, die die Institution repräsentiert, geht dann häufig eine bewusste oder unbewusste kollektive Verleugnung der Tat hervor. (vgl. Gründer & Stemmer-Lück 2013: 80f.) Unter Umständen entwickelt sich eine Dynamik des Täterschutzes zum Wohle der Institution. (vgl. Hallay-Witte & Janssen 2016: 131) Herrscht innerhalb der Institution zudem eine sogenannte Kultur der Grenzverletzung – eine problematische Verschiebung der Bewertung der Angemessenheit eines gewissen Grades an Nähe zwischen den Mitgliedern – so werden die adäquate Wahrnehmung und Intervention bei grenzüberschreitendem Verhalten einzelner Mitglieder zusätzlich erschwert. (vgl. Gründer & Stemmer-Lück 2013: 80) Diese Aspekte können auf kirchliche Kontexte weitestgehend übertragen werden. Dabei bleibt jedoch noch immer die Frage offen, woher die scheinbare Häufung von Missbrauchsfällen spezifisch innerhalb kirchlicher Institutionen rührt.

Tatsächlich können innerhalb der (katholischen) Kirche einige sexuellen Missbrauch begünstigende Faktoren herausgestellt werden, die für dieses Milieu spezifisch sind, und die die Wahrnehmung und Aufklärung der Missbrauchssituationen sowohl durch die Betroffenen als auch durch deren institutionelles und soziales Umfeld stark erschweren können. (vgl. Fernau et al. 2014: 277) Als Haupttatorte der bekanntgewordenen Missbrauchsfälle begünstigen dabei insbesondere Internate und Heime als von der Außenwelt weitestgehend abgeschlossene Orte mit bestimmten Wertesystemen und einem stark ausgeprägten Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen potentiellen Opfern und Tätern den sexuellen Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche. (vgl. Hallay-Witte & Janssen 2016: 125f.) Die sich aus der hierarchischen Ordnung der Kirche ergebende hohe Machtposition von Priestern oder Ordensleuten, die die Haupttätergruppen im kirchlichen Rahmen bilden (vgl. Hallay-Witte & Janssen 2016: 117), eröffnen Tätern zudem die Möglichkeit, ihre Leitungspositionen gezielt auszunutzen, um sowohl das Opfer selbst als auch der Institution loyal gesinnte Mitglieder zum Schweigen zu drängen. (vgl. Hallay-Witte & Janssen 2016: 131)

Hinzu kommt, dass die oben genannten Abhängigkeitsdynamiken im Allgemeinen oft schwerwiegende psychische Folgen für das Opfer mit sich bringen. So schreiben sich die Betroffenen die Schuld an der Tat oft selbst zu, da das positive Bild vom Täter nicht mit dessen Tat integriert werden kann. (vgl. Gründer & Stemmer-Lück 2013: 24f.) Handelt es sich bei dem Täter nun um eine Person mit hoher geistlicher Autorität, sowohl für das Opfer selbst als auch für das Umfeld des Opfers, so wird diese Dynamik verstärkt. Das hohe Ansehen des Priesters als geistliches und moralisches Vorbild löst dann sowohl beim Opfer als auch bei Außenstehenden eine besonders drastische kognitive Dissonanz aus. Die Schwierigkeit der Integration der Tat mit der Vorstellung vom Täter hat in diesem Zusammenhang zur Folge, dass Missbrauchstaten sowohl vom Opfer selbst als auch vom Umfeld des Opfers häufig nicht als solche wahrgenommen oder in ihrer Schwere falsch eingeschätzt werden. (vgl. Hallay-Witte & Janssen 2016: 117f.)

Ein Täter mit spiritueller Autorität hat zudem die Möglichkeit, die Wahrnehmung des Charakters der Missbrauchstat durch das Opfer gezielt zu hemmen oder es zur Geheimhaltung zu drängen. Der spirituelle Rahmen kirchlicher Institutionen ermöglicht es dem Täter in diesem Zusammenhang, Missbrauchstaten zur Vertuschung und zur Verwirrung des Opfers in spirituelle Handlungen wie die Beichte einzubetten oder christliche Glaubensaspekte wie den Vergebungsgedanken gezielt zur Manipulation des Opfers auszunutzen. (vgl. Zimmer et al. 2014: 140f.)

Zusammenfassend zeichnen sich Situationen sexuellen Missbrauchs also durch Macht- und Abhängigkeitsdynamiken aus, die einen Druck zur Geheimhaltung und damit einhergehende schwere psychische Folgen für das Opfer zur Konsequenz haben. Innerhalb institutioneller Kontexte werden diese Dynamiken aufgrund einer Reihe von sozialpsychologischen Faktoren auf die Mitglieder der Institution übertragen. Die gilt auch für kirchliche Institutionen. Darüber hinaus lassen sich einige für den kirchlichen Rahmen spezifische Bedingungsfaktoren erschließen, die die Wahrnehmung und Aufklärung sexuellen Missbrauchs drastisch hemmen können. Dazu zählen die weitestgehende Abgeschlossenheit der Haupttatorte, die Macht und Autorität, die den Haupttätern innerhalb der hierarchischen Strukturen der katholischen Kirche zukommt und die Möglichkeit der Ausnutzung spiritueller Autorität und Kontexte durch den Täter.

 
Literatur

Fernau, Sandra / Baier, Dirk / Hellmann, Deborah / Pfeiffer, Christian (2014): Fazit zum sexuellen Missbrauch durch katholische Geistliche: Zusammenfassung der Erkenntnisse aus den KFN-Befragungen. In: Sandra Fernau & Deborah Hellmann (Hrsg.): Sexueller Missbrauch durch katholische Geistliche in Deutschland (KFN: Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung 45), S. 269-289. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.

Gründer, Mechthild / Stemmer-Lück, Magdalena (2013): Sexueller Missbrauch in Familie und Institutionen. Psychodynamik, Intervention und Prävention, Stuttgart: Kohlhammer.

Halley-Witte, Mary / Janssen, Bettina (2016): Schweigebruch. Vom sexuellen Missbrauch zur institutionellen Prävention, Freiburg im Breisgau: Herder.

Müller, Wunibald (2010): Verschwiegene Wunden. Sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern, München: Kösel.

Zimmer, Andreas et al. (2014): Sexueller Kindesmissbrauch in kirchlichen Institutionen – Zeugnisse, Hinweise, Prävention. Ergebnisse der Auswertung der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz für Opfer sexuellen Missbrauchs, Weinheim und Basel: Beltz Juventa.












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