Heid Leganger-Krogstad

Heid Leganger-Krogstad, The Religious Dimension of Intercultural Education. Contributions to a Contextual Understanding, Zürich-Berlin 2011 (International Practical Theology, Vol. 14), 285 S., 29, 90 €, ISBN 978-3-643-90085-2



Institutionalisierte Erziehung und Bildung ist niemals nur im Horizont einer Ermöglichung subjektiver Entwicklung zu begreifen, sondern trägt immer auch Züge einer pädagogisch gelenkten „Normalisation“ von Kindern und Jugendlichen. Stand für das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. die Erziehung zu nationaler Identität im Vordergrund, so bestimmen heute ökonomische Interessen zu einem nicht geringen Teil die Zielvorstellungen von öffentlich gesteuerten Bildungsprozessen (S. 14, 31). Vor diesem Hintergrund ist der von Heid Leganger-Krogstad vorgelegte Band für die Religionspädagogik ein großer Gewinn, weil sie hier gegen den Trend zur pädagogischen „Normalisation“ Kontextualiät und Heterogenität als normative Leitkategorien entwickelt, differenziert darlegt und vor dem Hintergrund der seit der Mitte der 70er Jahre in Bewegung geratenen, ursprünglich monokulturell geprägten Schul- und Erziehungstradition in Norwegen, vor allem im Hinblick auf die religiöse Bildung von Schülerinnen und Schülern, stark machen möchte.

Der Impetus des langjährigen, sich in dieser thesenorientierten Portfolio-Studie niederschlagenden religionspädagogischen Engagements der Autorin, rührt nicht zuletzt aus ihrer beruflichen Erfahrung in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Als Dozentin am Alta University College im äußersten Norden Norwegens, kam sie mit Studierenden aus dem Volk der Samen bzw. der Bevölkerungsgruppe der Kvens in Kontakt (vgl. S. 12f), wodurch ihr einerseits die Dominanz des norwegischen Standardcurriculums bzw. des diesem zugrundeliegenden Denkens deutlich wurde, das auf die Formation einer gemeinsamen norwegischen Identität ausgerichtet sei. Andererseits wurde ihr dort die unhinterfragte Normativität der (lutherischen) Schultheologie und die damit einhergehende Unterdrückung alternativer Zugänge zu Welt und Religion deutlich (vgl. S. 11-14, 66, 91, 160).  Leganger-Krogstads Votum, Kontextualität und Heterogenität als unhintergehbare Voraussetzungen von Bildungsprozessen zu begreifen, rührt aber nicht nur aus einer Kritik an einem dominanten und damit immer auch repressiven, an einer bestimmten Leitkultur ausgerichteten Bildungssystem, sondern gerade auch am damit einhergehenden Problem der Verständigung: Wo Sensibilität für das je Andere fehlt, da beginnen auch die gegenseitigen Missverständnisse (vgl. S.12). Beziehung und Teilhabe könnte man daher als grundlegende Ziele eines kontextuellen und heterogenitätssensiblen Ansatzes verstehen, wie ihn die Autorin darlegt. Als Religionspädagogin weist Leganger-Krogstad der religiösen Dimension dabei eine besondere Bedeutung zu, weil religiöse Verständnisse ihrer Ansicht nach kulturelle Systeme prägen. Es sei die große Chance religiöser Bildung, so die Autorin, andere Kulturen besser verstehen zu können: Religionen können angesehen werden als „key entrances to intercultural issues“ (S. 25). Angesichts einer durchaus ambivalenten Rolle des Religiösen, die seit dem „Elften September“ nicht mehr zu leugnen ist und sich im Sommer 2011 durch die Ermordung von 77 Menschen auf der Insel Utøya und im Osloer Regierungsviertel für Norwegen nochmals zugespitzt hat, weil der Täter auf der Basis eines problematischen Verständnisses des christlichen Glaubens, ein Zeichen gegen die multikulturell und religiös offene Gesellschaft setzen wollte (vgl. S. 7), fragt die Autorin nach dem konstruktiven Beitrag der Religion im Rahmen einer interkulturell angelegten Bildung (vgl. S. 31).

Der Band vereint mehrere Teile: Auf ein grundlegendes Einführungskapitel, in dem die Autorin ihre Forschungsfragen – die vermutete Bedeutsamkeit religiöser Bildung für das Verständnis zwischen den Kulturen sowie die Berücksichtigung religiöser Diversität – erörtert, Begriffe klärt und Abgrenzungen vornimmt, folgen neun Essays, die unterschiedliche Aspekte der Fragestellung darlegen. Dabei handelt es sich um bereits in den Jahren 1998 bis 2009 im Rahmen internationaler Publikationen veröffentlichte Beiträge, die von der Autorin für diesen Band nochmals aktualisiert worden sind. In einem abschließenden Resümee reflektiert sie ihre Fragestellungen kritisch, zieht Schlüsse und wagt Ausblicke.

Der dem Portfolio-Charakter der Publikation geschuldete Facettenreichtum von Leganger-Krogstads Studie erlaubt nur einige ausgewählte Aspekte inhaltlich näher zu betrachten.

Entscheidend für Leganger-Krogstads Ansatz einer kontextuellen und heterogenitätssensiblen Religionspädagogik ist ihre Fokussierung auf die Gruppe als kulturelle Einheit und nicht auf das Subjekt (vgl. S. 29, 221, 231). Dies hängt vor allem mit dem bereits beschriebenen Ursprung ihrer interkulturellen Forschung durch ihre Erfahrungen mit norwegischen Minderheiten zusammen. Interessant ist dabei ihr kontextuelles Verständnis der „glocal community“, d. h. dass lokale und globale Vielfalt in der Gegenwart zusammenwirken. Auch die Samen und ihre Tradition in Alta sind nicht mehr ohne die Kommunikationsmöglichkeiten des World Wide Web zu begreifen (vgl. S. 219). Die Vielfalt der unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten müsse freilich, vor allem in der Schule, überbrückt werden (vgl. S. 18, 237), damit Menschen in Einheit und Vielfalt zugleich leben können (vgl. S. 24). Dies solle, so die Autorin, nicht durch eine Harmonisierung, sondern durch einen didaktisch inszenierten Dialog erreicht werden (vgl. S. 243). Die Beispiele, die nahezu vollständig dem norwegischen Kontext entnommen sind, mögen teilweise auf die Integrations- und Dialogdebatten im Hinblick auf das Bildungswesen anderer europäischer Staaten übertragbar sein, wenngleich hier teilweise von anderen Voraussetzungen auszugehen sein wird. Ambivalent scheinen jedoch zwei Motive: Zum Einen die Zielvorstellung einer Gleichzeitigkeit von Einheit und Vielfalt auf der Ebene der Werte – soll doch schulische Erziehung auch die Persönlichkeit formen. Zum Anderen die Fokussierung auf die kulturelle Gruppe. Hier wäre zu fragen, ob nicht endlich auch pädagogisch dem Gedanken der Einheit abzuschwören wäre, um wirkliche Heterogenität ermöglichen zu können. Die gemeinsamen, einheitsstiftenden Werte könnten dann von weniger emphatisch aufgeladenen Regeln abgelöst werden, die nicht mehr kontrollieren, was Menschen denken, sondern lediglich ahnden, wo gegen diese Regeln verstoßen wird. Sodann scheint es bedenkenswert zu sein, entgegen dem Ansatz der Autorin, stärker die individuelle Diversität in den Blick zu nehmen als die kulturell-kollektive, weil es heute kaum mehr kulturelle Traditionsblöcke in Reinform gibt, sondern nicht wenige Traditionssysteme längst in sich hoch pluralisiert sind.

Abschließend sollen noch zwei didaktische Aspekte in den Blick genommen werden, auf die Leganger-Krogstads Studie hinweist. Ausführlich geht die Autorin auf die Entwicklung des Religionsunterrichts in Norwegen ein, der sich von einem christlichen (bzw. evangelisch-lutherischen) zu einem religionskundlichen, für alle Schüler/innen obligatorischen Fach entwickelt hat (vgl. S. 89-97). Als solches darf der Religionsunterricht keine verkündenden Aspekte haben, aber auch keine religiöse Praxis beinhalten, die in den Privatbereich der Schüler/innen eingreift (vgl. u. a. 77f). Dies führt – entgegen ansonsten gültiger didaktischer Perspektiven – zu einem relativ stark kognitiven Religionsunterricht in Norwegen. Die Frage nach Möglichkeiten einer Einbeziehung der Erfahrungsebene und der Schüler/innen-Relevanz eines konfessionsunabhängigen Religionsunterrichts wäre daher noch intensiver zu diskutieren – vor allem weil gerade ein kontextueller Ansatz nicht auf die Erfahrungsebene verzichten kann (hierzu wäre es interessant, die didaktische Konzeption des Zürcher Schulfaches Religion und Kultur näher zu betrachten). Des Weiteren geht Leganger-Krogstad auf das in Norwegen verbindliche didaktische Prinzip ein, die Religionen von ihrer Wirkungsgeschichte und nicht von ihren normativen Inhalten her im Unterricht zu thematisieren (vgl. S. 220), wodurch religiöse Bildung auch dem (freilich ambivalenten) Kompetenzbegriff gerecht würde. Zur religiösen Kompetenz gehörte demnach die Fähigkeit zur Wahrnehmung und Thematisierung religiöser Prägekraft in der Gesellschaft integral dazu.

Mit ihrem Buch legt die Autorin einen interessanten, weiterführenden und kritischen Ansatz zur Bedeutung der religiösen Dimension im Kontext interkultureller Bildung dar, der durch die Portfolio-Struktur allerdings nicht ohne Redundanzen auskommt und freilich manches Mal eine von den Leserinnen und Lesern gewünschte Konzentration in der Thematik vermissen lässt. Ihr norwegenspezifischer Ansatz – das Buch liest sich zum Teil als eine Kulturgeschichte der Samen – könnte ein Impuls für die Religionspädagogik in anderen nationalen Gefügen sein, Heterogenität und Kontextualität als positive und bereichernde Phänomene und nicht nur als pädagogisch zu bearbeitende Devianzen im Gegensatz zu einer bestimmten Standardkultur in Bildungsprozessen wahrzunehmen.

Zum Rezensenten:
Dr. Alexander Maier, geb. 1977, Dozent für Religionspädagogik, Universität des Saarlandes.

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