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Stephan Lehnstaedt, Imperiale Polenpolitik in den Weltkriegen. Eine vergleichende Studie zu den Mittelmächten und zu NS-Deutschland, Osnabrück 2017, fibre Verlag, 527 S., 48.-€, ISBN: 978-3-944870-57-1


Seit vielen Jahren stellte ich mir die Frage, wie konnte es während der beiden Weltkriege zu einer so unterschiedlichen Verhaltensweise deutscher Soldaten der Bevölkerung im Osten gegenüber kommen. Eine Antwort hierauf suggeriert der Titel des Buches Imperiale Polenpolitik in den Weltkriegen. Eine vergleichende Studie zu den Mittelmächten und zu NS-Deutschland von Stephan Lehnstaedt.

Unvergesslich bleibt mir die Erzählung meiner Doktormutter, Elida Maria Szarota: Sie bedauerte, dass sie im September 1939 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen ihren bedeutend älteren Mann Rafał Marceli Blüth, einen bekannten polnischen Intellektuellen, nicht überzeugen konnte, schnellstens Warschau zu verlassen. Er erwiderte ihr mit fester Überzeugung, er kenne die Deutschen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, so schlimm seien sie nicht. Bereits am 13. November des gleichen Jahres wurde er zusammen mit anderen polnischen Bürgern erschossen. Ihre Leichname wurden erst zu Beginn der 1960er Jahre entdeckt. Auf ein solches Okkupationsvorgehen war in Polen wohl niemand vorbereitet.

Der Titel des Buches von Stephan Lehnstaedt suggeriert, wie gesagt, eine Erklärung dessen, wie es zu so unterschiedlichen Formen von Besatzung im Ersten und Zweiten Weltkrieg kommen konnte. So mancher Wehrmachtsangehörige hatte ja noch im Ersten Weltkrieg an der Ostfront als Soldat oder Offizier gekämpft oder auch nur Verwaltungsarbeit geleistet. Unter ihnen befand sich Arnold Zweig, der 1917/18 in Kowno stationiert war und Jahre später den Grischa-Roman verfasste, in dem er seiner Empörung darüber Ausdruck gab, dass ein einfacher, aus deutscher Gefangenschaft geflohener russischer Soldat unschuldig zum Tode verurteilt werden konnte. Bei aller kritischen Haltung gegenüber der deutschen Besatzung im Osten – er hatte Ober-Ost im Sinn – hätte sich Zweig in den 1920er Jahren eine solche Kriegführung, wie sie im Zweiten Weltkrieg im Bloodland, um mit Timothy Snyder zu sprechen, gang und gäbe war, nicht vorstellen können.

Man könnte auch Wilm Hosenfeld, den Retter des berühmten jüdisch-polnischen Komponisten, Władysław Szpilman, als Beispiel nennen, der am 6. September 1942 in seinem Tagebuch vermerkte, dass sich die Offiziere im Verwaltungsdienst, die einst aktiv im Ersten Weltkrieg kämpften, „in ihrer Ehre gekränkt“ fühlen „angesichts der Schandtaten, die durch die Beauftragten Himmlers an den Polen und neuerdings an den Juden verübt werden“.[1]

Lehnstaedt führt eine wissenschaftliche Untersuchung der deutschen Forschungsgemeinschaft für Kriegs- und Heeresgeschichte zum Kriegsende 1918 in Warschau an, die 1936 durchgeführt wurde: "zahlreiche ehemalige Verwaltungsbeamte und Militärs des Generalgouvernements" waren befragt worden. Ihre Antworten äußerten „ein gewisses Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen der Polen“, vor allem waren sie frei von jeglichem Hass, schreibt Lehnstaedt (S. 128). Es ließe sich allerdings einwerfen, dass die Befragungen in der Zeit des deutsch-polnischen Nicht-Angriff-Pakts erfolgten, als negative Urteile über Polen offiziell nicht gern gesehen waren. Es war u.a. das Jahr, in dem Göring das Nachwort zu einem Piłsudski-Band verfasste. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die ältere Generation eine Besatzungspolitik der totalen Unterwerfung nicht vorstellen konnte.

Nach Lehnstaedt war der Erste Weltkrieg ein "Lehrmeister" für die Nationalsozialisten, "der radikale Lösungen im wegen der Niederlage 'notwendigen' nächsten Krieg forderte", zugleich stellte er "einen Sonderweg undemokratischer Traditionen und einer militaristischen Gesellschaft" dar, welcher "seine 'logische' Fortsetzung fand" (S. 16). Die Besatzungspolitik des zaristischen Russlands und insbesondere der Sowjetunion in und zwischen den beiden Weltkriegen bleiben unberücksichtigt. Wörtlich erklärt Lehnstaedt: "Außen vor bleiben die kurzfristigen russischen und sowjetischen Okkupationen" (S. 17). Ersteres ist verständlich, weil es nur kleine Gebiete Deutschlands (Ostpreußen) und die k.u.k.-Monarchie (Galizien) betraf, aber die sowjetische Okkupation verliert mit dem Wort "kurzfristig" ihre ganze Grausamkeit. Die Einvernahme Ostpolens (und kurz darauf der baltischen Staaten) vom 17. September 1939 bis 22. Juni 1941 bedeutete nicht nur die Zerstörung der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern auch die Deportation Hunderttausender von Menschen nach Sibirien und Kasachstan, ganz zu schweigen vom Katyn-Verbrechen im Frühjahr 1940. Es geht hier nicht um einen Vergleich der Okkupationen, den der Vf. verständlicherweise vermeiden möchte (siehe S. 358), sondern darum, dass das seit über einem Jahrzehnt erfolgreiche sowjetische Vorbild als totalitärer Staat (und, könnte man hinzufügen, totalitärer Besatzer, wenn man sich etwa die Unterwerfung Georgiens und anderer Gebiete zu Beginn der 1920er Jahre vor Augen führt) die Nazi-Elite zu ihrem brutalen Vorgehen geradezu motivierte.

Lehnstaedts umfangreiche Ausführungen über die Besatzungspolitik des Deutschen Reichs und der k.u.k.-Monarchie lassen Zweifel an der These aufkommen, dass der Erste Weltkrieg ein "Lehrmeister" für die Nationalsozialisten gewesen sei. Man ist eher geneigt, Blüth, der notabene durch seine ausgezeichneten Analysen des Sowjetregimes bekannt ist,[2] Recht zu geben. Lehnstaedt schildert minutiös, wie die Besatzer nach der siegreichen Sommeroffensive 1915 miteinander konkurrierten. Sie hatten sich das eroberte Gebiet in das Generalgouvernement mit Sitz in Warschau und das österreich-ungarische Militärgouvernement mit Sitz in Lublin sowie Ober-Ost mit Sitz in Kowno unter Führung von Hindenburg und Ludendorff geteilt. Letzteres behandelt Lehnstaedt nicht, da es darüber eine reiche Forschungsliteratur gibt, wie er konstatiert. Es passt darüber hinaus nicht in das Konzept, die Konkurrenz zwischen beiden Besatzern darzustellen. Diese ergab sich u.a. aus den unterschiedlichen Verwaltungsstrukturen. Der Generalgouverneur Hans von Beseler war direkt Kaiser Wilhelm II. unterstellt, während die k.u.k-Militärgouverneure nicht nur der Regierung, sondern auch dem Armeeoberkommando gegenüber rechenschaftspflichtig waren, so dass verschiedene Instanzenwege durchlaufen werden mussten, ehe es zu Entscheidungen kam. Bei den zahlreichen Reibungen zwischen beiden Besatzungsbehörden war Beseler durch eine relative Unabhängigkeit vom Militär und dadurch im Vorteil, dass Warschau, was Lehnstaedt mehrfach unterstreicht, eine attraktivere Zentrale als Lublin bildete. Aber die Grundfragen wurden zwischen Wien und Berlin entschieden. In beiden Hauptstädten hatte man jeweils eine andere Vorstellung von der Schaffung eines unabhängigen Polens, die sich u.a. aus dem anderen Umgang mit der Nationalitätenfrage in den letzten Jahrzehnten ergab.

Es ist erstaunlich, dass es trotz unterschiedlicher Auffassungen über die Zukunft Polens zur Proklamation eines Königreichs Polen am 5. November 1916 kam. Lehnstaedt ist, wie die meisten Historiker, der festen Überzeugung, dass diese nur erfolgte, um endlich die bisherigen russischen Untertanen in die Armee eingliedern und das Land für eigene Zwecke mit Hilfe scheinbar unabhängiger polnischer Institutionen ausbeuten zu können, zumal die Haager Landkriegsordnung, an die sich die Besatzungsmächte weitestgehend hielten, nun außer Kraft gesetzt werden konnte. Lehnstaedt betont mehrmals, dass die beiden Besatzungsmächte nie an deren Nicht-Einhaltung dachten. Welchen Druck es von polnischer Seite aus gab, erörtert er kaum. Polen – Einheimische, wie er sie vielfach nennt – erscheinen nur höchst selten als wirkliche Akteure,[3] obwohl in den zitierten deutschen Dokumenten beider Besatzungen immer wieder betont wird, dass diese oder jene Maßnahme nicht durchführbar sei, weil sie auf zu großen Widerstand stoßen würde. Nach über zweihundert Seiten Lektüre wird so mancher Leser überrascht sein, zu erfahren, dass im Generalgouvernement seit „Juli 1915 […] immer wieder Streiks zu beobachten“ (S. 226) waren. Ihre Zahl nahm bis 1918 zu. Gleiches war auch im Gebiet der Doppelmonarchie zu beobachten.

In einem Kapitel zuvor hatte Lehnstaedt die „Symbolische Politik“ behandelt, d.h. Zugeständnisse an die „Einheimischen“ auf den Gebieten der Verwaltung, Kultur und des Glaubens. Als symbolisch sieht er diese an, weil am Ende die Besatzer das letzte Wort behielten. Als das „wichtigste Projekt“ innerhalb dieser Politik bezeichnet der Autor die „Neugründung der Warschauer Universität“ am 15. November 1916, d.h. etwa elf Wochen nach Beselers Ernennung zum Generalgouverneur. Diese Neugründung (nach dem gescheiterten Januaraufstand von 1863 war die Warschauer Universität in eine rein zaristische mit Russisch als ausschließlicher Unterrichtssprache umgewandelt worden) war „unzweifelhaft darauf ausgerichtet“, konstatiert Lehnstaedt, „eine polnische Elite zu schaffen und gerade in den Augen der deutschen Besatzer war dies notwendig, da sie fähige und zugleich ihnen zugeneigte Menschen brauchten“ (S. 197). Das klingt so, als hätte es keine polnische Elite gegeben. Es gab sie! Und wenn sie sich nicht noch und noch für die Unabhängigkeit Polens eingesetzt hätte, wäre es nicht zu einem relativ erfolgreichen Aufbau der Zweiten Polnischen Republik gekommen.[4] Man vergleiche die zwanzig Jahre der Zusammenfügung von drei Teilen, die über hundert Jahre auseinandergerissen waren, mit den mittlerweile dreißig Jahren deutscher Wiedervereinigung.

Der Autor geht auch kurz auf die dramatischen Konflikte zwischen den beiden Hochschulen, der Warschauer Universität und der Technischen Hochschule und der deutschen Besatzungsverwaltung im Jahre 1917 ein, die am 27. Juni zur Schließung beider führten. „Um dem Debakel symbolischer Politik ein Ende zu setzen“, bemerkt Lehnstaedt, „ließ Beseler die beiden – geschlossenen – Hochschulen im Herbst an den Staatsrat übergeben, der im November 1917 die feierliche Wiedereröffnung vollzog und nun die alleinige Hoheit ausübte“. (S. 198). Es war kein Debakel, sondern ein erfolgreicher Kampf der Polen um die Hoheit über das akademische Leben, u.a. das Recht des Senats, seinen Rektor selbst zu wählen. Am 13. November 1917 fand die Wahl statt. Der bisherige, von Beseler 1915 ernannte Rektor Józef Brudziński erhielt zwar die meisten Stimmen, aber er konnte aus gesundheitlichen Gründen das Amt nicht annehmen. Neuer Rektor wurde der Wirtschaftswissenschaftler Antoni Kostanecki (1866-1941). Trotz der zunehmenden politischen Auseinandersetzungen im deutsch besetzten Gebiet soll das akademische Jahr 1917/18 für die Studenten und Lehrenden zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen sein![5] Der Übergang zum befreiten Polen schuf kaum Probleme, abgesehen von zahlreichen Neuberufungen und der Einrichtung neuer Lehrstühle. Und auch der Studienverlauf wurde bis 1920, als die Rote Armee nach Warschau vorrückte, durch keine äußeren Ereignisse unterbrochen. Der einzige deutsche Professor, Wilhelm Paszkowski, hatte bereits 1917 als Lehrstuhlinhaber für Germanistik Warschau verlassen.[6]

Das umfassende dritte Kapitel über die Wirtschaftspolitik der Besatzer zeigt, wie schwer es war, das eroberte Gebiet den eigenen Kriegszwecken unterzuordnen, zumal es durch die Kriegshandlungen und abziehenden zaristischen Truppen z.T. völlig zerstört war. Es musste ein neues Verkehrsnetz aufgebaut werden, um die Armeen versorgen und eine einigermaßen funktionierende Besatzungsherrschaft errichten zu können. Eine Besonderheit stellte die Umstellung der breitspurigen Bahn auf die „Normalspur“ dar. Im Generalgouvernement „ist wohl von mindestens 1800 km neuen und 4500 km wiederhergestellten Straßen auszugehen, dazu kommen 27 neue Brücken mit einer Spannweite über 100 m, 200 km Waldbahnen, 700 km Schmal- und 80 km Normalspurengleise, sowie eine Verdoppelung des Telegraphen- und eine Vervierfachung des Telefonnetzes. Die zuständige Militär-Eisenbahn-Direktion 4 in Warschau ließ zudem über 1800 km von Breit- auf Schmalspur verwandeln“ (S. 247 f.). Ein großes Problem stellte die Währungspolitik dar, die Umstellung vom Rubel auf die Mark, die erst spät und nur teilweise erfolgte. Die Möglichkeiten der landwirtschaftlichen Produktion wurden in Berlin und Wien überschätzt, man meinte, es mit einer Art Kornkammer zu tun zu haben, in Wirklichkeit reichten die Ernten kaum für die Versorgung der Bevölkerung in den Besatzungsgebieten aus.

Im Unterkapitel „Die Ordnung der nationalen Verhältnisse“ erwähnt der Vf. am Rande, dass die Besatzungsbehörden den Juden den Status einer „Titularnation“ nach der Proklamation des Königsreichs Polen „in den Rang einer Religionsgemeinschaft zurückstuften“ (S. 262), was eine irreführende Formulierung darstellt, denn kein Jude erwartete, einer „Titularnation“ in Polen anzugehören, sondern sie bedauerten, nicht als eine Minderheit anerkannt zu werden. Das gab u.a. Max Rosenfeld, österreichischer Sozialist und Theoretiker der die Juden betreffenden Nationalitätenpolitiken, in Bubers Zeitschrift Der Jude zum Ausdruck. Zur neuen jüdischen Gemeindeverfassung in Polen, die am 16. November 1916 in Kraft getreten war und die in Warschau über 350000 Juden betraf, schrieb er: das sei ein Ereignis von nicht zu verkennender geschichtlicher Bedeutung und politischem und sozialem Wert […]. Die Verordnung des Generalgouverneurs von Beseler - ein umfassendes Elaborat von 70 Paragraphen - ist nicht als gesetzgeberisches Werk an sich zu betrachten; sie ist vielmehr ein ernsthafter Versuch einer Organisation jüdischer Kräfte – wenn diejenigen, welche dazu berufen sein werden, die Verordnungen im Leben zu verwirklichen, Sinn und Fähigkeit haben werden, den einzelnen Bestimmungen der Verordnung Fleisch und Blut zu geben.[7]

Rosenfeld bedauerte gleichzeitig, dass die Juden nur als Religionsgemeinschaft, nicht als nationale Minderheit angesehen wurden, denn das schaffe den Nachteil, dass Gemeindefragen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen würden, weniger solche Themen, die alle Juden betrafen. Rosenfeld schreibt daher am Schluss seiner ausführlichen Darstellung der Gemeindeverfassung:

Wir verlangen, daß die neue Organisation als Organisation der Juden schlechtweg behandelt werde, und daß die Abfassung der polnischen Verfassung als die Vertreterin einer eigenen nationalen Minorität respektiert und entsprechend berücksichtigt werde. Die jüdische Organisation soll als organisierte nationale Minderheit vor allen Institutionen und Behörden als die legitime Vertreterin der gesamten jüdischen Interessen fungieren, welcher Art und Natur sie auch immer sein könnten. Sie hätte auch Anspruch auf eine entsprechende finanzielle Hilfe des Staates, weil sie das jüdische Schulwerk und Genossenschaftswesen in die Hand nimmt. Mit der Einführung der neuen Organisation in die polnische Verfassung als vollwertigen Rechtssubjekts wäre der wichtigste Schritt der durchzuführenden Vollberechtigung vorgenommen.[8]

Erst in der Zweiten Republik wurden die Juden aufgrund der Bestimmungen von Versailles als Minderheit anerkannt. Von Titularnation konnte nicht die Rede sein. Das war das Ziel der Zionisten, solches in Palästina zu erreichen. Einige Seiten später erklärt der Vf., die deutsche Politik folge den Vorstellungen eines „homogenen Nationalstaates – was in Preußen zur Diskriminierung der Polen geführt hatte, im Generalgouvernement Warschau aber nur den Schluss zuließ, dieses Land polnisch zu machen“ (S. 265). Polnisch ja, aber nicht homogen!

Überaus detailliert beschreibt Lehnstaedt auf über hundert Seiten die Wirtschaftspolitik der Besatzer. Immer wieder führt er Statistiken an. Gleichzeitig geht er auf die Probleme ein, die sich aus der Notwendigkeit ergaben, mit der im Lande lebenden Bevölkerung zusammenzuarbeiten. Reine Gewalt wurde nur selten angewandt, wie im Buch mehrmals betont wird.

Ebenfalls detailliert wird die Wirtschaftspolitik des deutschen Besatzers im Generalgouvernement während des Zweiten Weltkriegs dargestellt. Sie war auf totale Ausbeutung mit ständiger Anwendung von Gewalt ausgerichtet. Eine geringere Effektivität als im Ersten Weltkrieg war die Folge. Die Erträge in der Landwirtschaft sanken sofort unter das Niveau vor 1939, erst im Kriegsjahr 1943/44 näherten sie sich diesem. Es wurde sogar mehr Gerste geerntet als zwischen 1935 und 1938 (siehe S. 412).

Kazimierz Wyka hatte in seinem zwischen 1939 und 1945 verfassten Buch Życie na niby (Leben als ob). dargelegt, dass der polnische Bauer unter der deutschen Okkupation bessergestellt war als in der Zweiten Republik und - auf den ersten Blick unverständlich - die Basis des Widerstands bildete. Wyka, ein bekannter Professor für polnische Literatur, führt dies auf die arrogante Art der deutschen Besatzer zurück, die ihm der polnische Bauer nicht verzeihen konnte. Wyka meint, dass das Land den Zwangsabgaben, die ihm zufolge erst im zweiten Kriegsjahr eingeführt wurden, nachkam, aber es blieb immer noch etwas zurück, was dann von Städtern aufgekauft wurde.[9] Die Bauern mussten sich nicht einmal zum nächsten Ort auf den Markt begeben.

Der Leser, der das Buch nicht durchblättert, sondern es Seite für Seite liest, erfährt endlich auf S. 427, unter Berufung auf Christian Westerhoff, dass für die Besatzungspolitik im Generalgouvernement unter Hans Frank nicht „der Erste Weltkrieg das Vorbild, sondern vielmehr der generelle Charakter des Nationalsozialismus war. Dieser unterwarf schon ab 1933 die eigene Bevölkerung vielfachem Zwang – etwa in Form von Notstandsarbeiten oder Arbeitsdienst“.

Hier muss ich nochmals auf die Aufforderung von Elida Maria Szarota eingehen, Polen über Rumänien zu verlassen. Sie hatte das Dritte Reich aus nächster Nähe zu Beginn seines Bestehens erlebt, als ihre Mutter, die polnisch-deutsche Schriftstellerin Eleonore Kalkowska, 1933 von den Nazis verhaftet wurde und nur dank der Intervention der polnischen Botschaft wieder frei kam; sie wusste daher besser als ihr Gatte, was man den deutschen Besatzern zutrauen konnte.

Im letzten Kapitel, in dem ein „Fazit“ gezogen wird, bringt Lehnstaedt recht klar zum Ausdruck, dass man die beiden Okkupationen im Grunde nicht vergleichen kann. Es gibt nur oberflächliche Ähnlichkeiten. Es mache auch keinen Sinn, sich auf Ludendorffs Aussagen zu berufen. Dessen „größter Erfolg war vermutlich“, erklärt er, „mit seiner Selbstpropaganda heutige Historiker überzeugt zu haben, die seinen Schriften normativen Charakter zuerkennen“ (S. 457). Es sei auch wenig sinnvoll, sich des Begriffs des Kolonialismus zu bedienen, Frederick Cooper habe Recht, vor der „immer weiter verbreiteten Tendenz“ zu warnen, „Kolonialismus überall – und damit nirgendwo – zu identifizieren, was ihn als Analysekategorie unbrauchbar macht“ (S. 467). Lehnstaedt hat sich für den Begriff ‚imperial‘ entschieden, den er sehr bewusst in den Titel seines Buchs gesetzt hat.

Es ist die Crux von Habilitationsarbeiten, dass sie nicht einfach als Darstellungen des historischen Geschehens (im konkreten Fall der zweimaligen Okkupation Polens) auftreten dürfen: Die Geschichte in ihrer Vielfalt zu erzählen, was dem Autor, der in vielen Archiven neue Funde gemacht und somit unser Wissen über jene an und für sich furchtbaren Jahre bereichert hat, leicht gefallen wäre. Eine Stärke seines Buchs ist, wie er auf leise Art viele Allgemeinurteile, die mittlerweile zu Vorurteilen geworden sind, als nicht haltbar zurückweist. Jedoch nur der Eingeweihte weiß, um wen und was es sich handelt.

Zum Rezensenten: Dr. Karol Sauerland, Prof. em. für Germanistik, Torun.

Anmerkungen:
[1] Wilm Hosenfeld, »Ich versuche jeden zu retten«. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamts hrsg. von Thomas Vogel, München 2004, S. 653 (siehe auch meine Rezension hierzu in: Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Nr. 27, Frankfurt am Main 2005, S. 55-59).
[2] Sie sind 2016 gesammelt erschienen: Rafał Marceli Blüth, „Likwidacja leninowskiej elity” oraz inne pisma sowietologiczne 1933-1938 (Die Liquidierung der Leninschen Elite sowie andere sowjetologische Schriften), Warszawa.
[3] Man sollte im Grunde parallel zu dem vorliegenden Buch Hartmut Michael Kühn, Polen im Ersten Weltkrieg. 1914–1918, Berlin 2018, lesen.
[4] Siehe hierzu u.a. meinen Artikel „Suche nach Ordnung und Freude an der Vielheit. Der staatspolitische Hintergrund der philosophischen Debatten im Polen der zwanziger und dreißiger Jahre“, in: Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970), hrsg. von Gangolf Hübinger, München 2014, S.123-142.
[5] Ausführlich hierzu Jerzy Miziołek, Uniwersytet Warszawski, dzieje i tradycja (Die Warschauer Universität, Geschichte und Tradition), Warszawa 2005 und Andrzej Garlicki, (Hg.), Dzieje Uniwersytetu Warszawskiego (Die Geschichte der Warschauer Universität), Warszawa 1982. Beide Titel kommen in der Bibliographie nicht vor.
[6] Wilhelm Paszkowski (1867-1918) war vor seinem Engagement in Warschau der erste Leiter der Akademischen Auskunftsstelle an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin sowie Direktor des deutschen Instituts für Ausländer (Böttinger-Studienhaus, das 1911 von Göttingen nach Berlin verlegt worden war), d.h. er war u.a. für die Förderung von wissenschaftlichem Austausch mit dem Ausland, insbesondere mit den Vereinigten Staaten, zuständig. Er war auch Verfasser eines Lesebuchs zur Einführung in die Kenntnis Deutschlands und seines geistigen Lebens. Für ausländische Studierende und für die oberste Stufe höherer Lehranstalten des In-und Auslandes, erschienen 1911. Die Geschichte der Germanistik an der Warschauer Universität liegt für diese Zeit im Dunklen. Das, was Arkadiusz Stempin hierzu en passant schreibt, lässt aufhorchen: "Da der Lehrstuhlinhaber Paszkowski zugleich das Amt des Referenten für Hochschulen bei der Zivilverwaltung bekleidete, wurde unter Studenten der Verdacht der 'Germanisierung' genährt. [...] Seine Seminare über die deutsche Gegenwartsliteratur und zu Goethes Faust wurden kaum besucht. Letztendlich musste Paszkowski den Anfeindungen weichen. Zudem favorisierte er die der deutschen Kultur traditionell nahestehenden Studenten jüdischer Herkunft. 'Dafür lieferte ein für sie organisierter Bierabend ein flagrantes Beispiel' lautete der Vorwurf des Rektors [...]" („Die Wiedererrichtung einer polnischen Universität. Warschau unter deutscher Besatzung“, in: Trude Maurer (Hg,), Kollegen, Kommilitonen, Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 2006, S. 144).
[7] Max Rosenfeld, "Die neue jüdische Gemeindeverfassung in Polen", in: Der Jude, hg. Martin Buber, H. 9 (Dezember 1916), S. 578.
[8] Ebd., S. 583.
[9] Siehe vor allem das Kapitel über den Bauern in: Kazimierz Wyka, Życie na niby. Pamiętnik po klęsce (Leben als ob. Memoiren nach der Niederlage), Kraków, Wrocław 1984, S. 160-167.

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