POPULISMUS, ENTDEMOKRATISIERUNG UND DER HASS AUF DIE VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG

August H. Leugers-Scherzberg


POPULISMUS, ENTDEMOKRATISIERUNG UND DER HASS AUF DIE VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG


Kurzreferat zur Veranstaltung „Die Drift zu autoritärer Politik und Diktatur in Europa und Afrika. Wo Gerechtigkeit, Vergebung und Versöhnung fehlen“, Haus der katholischen Kirche, Stuttgart, 28. März 2019, 19:00 Uhr


In der Einladung zu dieser Veranstaltung hieß es, es sollte über „den Umgang mit der schweren Vergangenheit und ihren politischen und gesellschaftlichen Folgen für die Gegenwart in Europa und Afrika“ diskutiert werden. Als Situationsbeschreibung wurde formuliert: „In europäischen Gesellschaften nehmen Populismus und Rechtsextremismus zu, im Afrika der Großen Seen ist ein wachsender Rückzug des demokratischen Prozesses zu beobachten.“ Daran schlossen sich die Fragen an: „Wo liegen Ursachen und Gründe? Wie weit spielt der Umgang mit der Nachkriegsgeschichte in Europa eine Rolle? Wie weit sind soziale Verwerfungen Triebfedern im Hintergrund?“[1]  Was bedeutet diese Situationsbeschreibung? Inwieweit nehmen Populismus und Rechtsextremismus in den europäischen Gesellschaften zu? In welchem Ausmaß kommt es im Afrika der Großen Seen zu einem Rückgang des Demokratisierungsprozesses?

Steigt der Populismus in Europa an?
Der Populismus ist durchaus im Aufwind, aber nicht nur in Deutschland und Europa, sondern weltweit. In Europa ist dabei an Ungarn, Polen, Italien und Großbritannien mit seinem Brexit zu denken, in Amerika an Trump, an Bolzanaro in Brasilien, in Asien an Duterte auf den Philippinen. Und es gibt nicht nur rechts-, sondern auch linkspopulistische Parteien, die Länder regieren, etwa in Südeuropa die Cinque-Stelle-Bewegung in Italien oder Syriza in Griechenland, und dann vor allem linkspopulistische Bewegungen in Lateinamerika mit z.T. langer politischer Tradition. Aber auch in den Ländern, die nicht durch Populisten regiert werden, gewinnen populistische Parteien an Einfluss. Ohne Einschränkungen müssen wir heute von einer globalen Welle des Populismus und der Renationalisierung sprechen.

Gibt es einen Rückgang der Demokratie im Afrika der Großen Seen?
Das Afrika der Großen Seen ? das sind vor allem die Staaten Ruanda, Burundi, Uganda und die Demokratische Republik Kongo ? wurde von der sog. dritten weltweiten Demokratisierungswelle erfasst, die nach der Nelkenrevolution in Portugal Mitte der 1970er Jahre und insbesondere nach dem Fall der Mauer 1989/90 zur weltweiten Ausbreitung demokratischer Herrschaftssysteme führte.[2] Aber bereits kurze Zeit nach dieser Demokratisierungswelle haben sich die meisten Demokratien im Afrika südlich der Sahara wieder in autokratische Regime zurückverwandelt.[3] Dieser Prozess wurde z.T. von unvorstellbar brutalen Gewalttaten begleitet. Am bekanntesten ist sicherlich der Genozid in Ruanda, der sich in diesem Jahr zum 25. Mal jährt. Dabei wurde von April bis Juli 1994 schätzungsweise eine Million Menschen umgebracht.

Was sind die Ursachen und Gründe für diese Entwicklungen?
Es gibt wohl derzeit kein Thema, das innerhalb von Soziologie und Politikwissenschaft weltweit intensiver diskutiert wird als die Frage nach den Ursachen des ansteigenden Populismus. Und jede neue Studie macht klar, dass es sich um ein ausgesprochen komplexes Phänomen handelt, über dessen Ursachen keine Einigkeit erzielt werden kann. Die beiden Darmstädter Politikwissenschaftler Dirk Jörke und Veith Selk haben dennoch eine Formel gefunden, welche die Gründe für den derzeitigen Erfolg der Populisten prägnant zu nennen vermag: “Der Populismus ist eine Reaktion auf die nicht eingehaltenen Versprechen der Demokratie“.[4] Der Widerspruch zwischen dem demokratischen Ideal, das Freiheit und Gleichheit für alle verspricht, und der politischen Wirklichkeit bilde den Nährboden für Populismus.[5]

Die Ideale von Freiheit und Gleichheit und dazu von allgemeinem Wohlstand wurden seit Beginn der 1960er Jahre von den westlichen Staaten unter Führung der USA als Ziele einer weltweiten Entwicklungspolitik propagiert. Auf denkwürdige Art und Weise hat dies John F. Kennedy in seiner Antrittsrede als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika am 20. Januar 1961 getan. Im Namen des amerikanischen Volkes versprach er, um die Grundlagen für eine bessere und gerechtere Welt zu ringen. Dieses Versprechen aber wurde auf dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts gegeben. Es sollte in erster Linie dazu dienen, in den Staaten der sog. Dritten Welt Verbündete gegen den Kommunismus zu finden. In der Praxis bedeutete dies, dass das Bündnis mit dem Westen gewichtet wurde als Demokratie und Menschenrechte. Schließlich lief es darauf hinaus, dass die meisten westlichen Verbündeten in der sog. Dritten Welt bis zum Ende des Ost-West-Konflikts (1989/90) autoritäre Regime waren.

Das Versprechen von Freiheit, Gleichheit und allgemeinem Wohlstand hatte in den westlichen Industrienationen aber nicht nur eine außenpolitische, sondern auch eine innenpolitische Funktion. Die Systemkonkurrenz zwischen Kommunismus und Kapitalismus war immer auch eine Konkurrenz um die bessere Sozialpolitik. So kam es in den westeuropäischen Demokratien zu einem breiten Ausbau der Sozialstaatlichkeit, der sich nur vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz mit den Staaten des real existierenden Sozialismus erklären lässt. Der Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung 1989/90 führte schließlich sowohl zum Abbau der sozialen Sicherungssysteme, die zu Zeiten des real existierenden Sozialismus im Osten entstanden waren, als auch zum Abbau der Sozialstaatlichkeit im Westen, die wegen der fehlenden Systemkonkurrenz scheinbar nicht mehr gebraucht wurde.

Andererseits führte der Sieg des Westens über den Osten, interpretiert als Sieg der Demokratie über die Diktatur, mit Blick auf die mit dem Westen verbündeten autokratischen Regime der sog. Dritten Welt zu der Forderung, nunmehr auch hier die Demokratie einzuführen. Der Appell, Oppositionsparteien zuzulassen und freie Wahlen abzuhalten, wurde dabei mit der unverhohlenen Drohung verknüpft, ansonsten die Unterstützung und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu beenden.

Dieser Druck durch die internationale Gemeinschaft führte 1993 dazu, dass in Burundi erstmals freie Wahlen stattfanden. Im selben Jahr wurde für Ruanda eine Übergangsregierung unter Beteiligung der Opposition vereinbart, die das autokratische System ablösen sollte.

Der erste frei gewählte Präsident Burundis wurde am 21. Oktober 1993, vier Monate nach seiner Wahl, ermordet. Es folgte ein lang anhaltender Bürgerkrieg. Der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana wurde am 6. April 1994 ermordet. Es folgte der Völkermord in Ruanda. Damit war das Projekt einer Ablösung des autokratischen Regimes in Ruanda gescheitert. Mit dem militärischen Sieg der Opposition in Ruanda wurde wiederum ein autokratisches Regime installiert, das bis heute die Macht in Ruanda in Händen hält.

Gibt es eine gemeinsame Wurzel für das Ansteigen des Populismus in Europa und den Rückgang der demokratischen Systeme in Afrika?
Gewiss! Beide Entwicklungen sind auf dem Hintergrund der Globalisierung und des Versuchs zu sehen, weltweit Demokratie, neoliberale Wirtschafts- und freiheitliche Gesellschaftsordnungen durchzusetzen. Populismus und Entdemokratisierung sind Gegenbewegungen gegen die Ziele der globalen Liberalisierung und Demokratisierung.

Welche Rolle spielt dabei die Vergangenheitsbewältigung?
Nach dem Sieg über den Nationalsozialismus in Deutschland richteten die Alliierten das Militärtribunal in Nürnberg ein, das die NS-Führung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aburteilte. Die juristische Aufarbeitung war ein erster Schritt zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und wurde Vorbild für weitere Versuche, gewaltsame Politiken von Unrechtsregimen aufzuarbeiten. Für Ruanda wurde nach dem Völkermord von 1994 von den Vereinten Nationen ein entsprechendes Tribunal eingerichtet, ebenso für Jugoslawien noch während der Jugoslawienkriege zu Anfang der 1990er Jahre.

Die Vereinten Nationen hatten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 rasch das sog. Konzept der Transitional Justice, eine Kombination von Prozessen, Methoden und Formen der Organisation von gesellschaftlicher und politischer Aufarbeitung von Regimeverbrechen nach einem politischen Umbruch, als Leitlinie ihrer Globalpolitik übernommen. Dabei kommt der Aufarbeitung der Vergangenheit neben der juristischen Ahndung der Verbrechen eine zentrale Bedeutung für eine erfolgreiche Stabilisierung und Demokratisierung von Gesellschaften zu, die eine Gewaltherrschaft erlebt haben. „Grundlegender Tenor dabei ist, dass eine Gesellschaft nur in der Lage ist, eine liberale und demokratische Ordnung einzurichten, wenn sie sich auf bestimmte Art und Weise mit der gewaltsamen Vergangenheit auseinandergesetzt hat.“[6] Denn die Vergangenheitsaufarbeitung wird in unmittelbaren Zusammenhang mit der „Verbreitung liberaler Werte wie Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der Schaffung von Frieden und Stabilität“ gebracht.[7]

Das ist auch der Grund, weshalb die Bestrebungen zu einer Vergangenheitsbewältigung den Interessen von Populisten und Autokraten diametral entgegenlaufen, und weshalb diese systematisch gegen eine Aufarbeitung belasteter Vergangenheiten hetzen, sie verhindern oder gar unter Strafe stellen. Populisten und Autokraten wie Putin, Trump, Erdogan, Orbán, die Regierung Kurz in Österreich, der Front National in Frankreich oder die AfD in Deutschland fürchten die liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Implikationen der Vergangenheitsaufarbeitung.

Dasselbe ist der Fall bei den gegenwärtigen Präsidenten in Burundi und Ruanda. Nachdem der Regierungschef in Burundi entgegen der Verfassung 2015 ein drittes Mal für das Präsidentenamt kandidiert hatte und wiedergewählt worden war, schaffte er nicht nur die bis dahin in Burundi errungenen Freiheitsrechte (z.B. Presse- und Meinungsfreiheit) ab, sondern auch den Prozess der burundischen Versöhnungspolitik und der Aufarbeitung der regierungsseitig geschürten Gewalttaten von Tutsis gegen Hutus und umgekehrt.

In Ruanda hat die Tutsi-Opposition unter Paul Kagame 1994 den Völkermord beendet und zur gesellschaftlichen Aussöhnung eine Politik der Vergangenheitsbewältigung gestartet, die bis heute in Ruanda von zentraler Bedeutung ist. Dabei werden aber systematisch die Untaten, die Tutsis gegenüber Hutus verübt haben, ausgeblendet, und der Schutz, den Hutus Tutsis während des Genozids gewährt haben, bleibt unerwähnt. Auch werden die Verbrechen verschwiegen, die Kagames Armee während des Völkermords und in den nachfolgenden Bürgerkriegen in Ruanda und im Ostkongo begangen hat. Regierungsamtliche Vergangenheitsbewältigung ist Vergangenheitspolitik im Dienste der Stabilisierung eines autoritären Regimes.

Fassen wir noch einmal kurz zusammen:
Wir erleben heute eine globale Bewegung zur Renationalisierung von Gesellschaften, die populistische Parteien erstarken lässt.
Nach einer kurzen Phase intensiver Demokratisierungsversuche im Afrika südlich der Sahara, haben sich die meisten Länder dort wieder in autokratische Regime zurückverwandelt.
Beide Entwicklungen sind auf dem Hintergrund der Globalisierung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Versuch einer weltweiten Demokratisierung und Liberalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu sehen. Populismus und Entdemokratisierung stellen dazu die Gegenbewegungen dar.
Vergangenheitsaufarbeitung ist seit 1989/90 eine flankierende Maßnahme innerhalb der Demokratisierungs- und Liberalisierungsstrategie der Vereinten Nationen und wird deshalb von den antidemokratischen Populisten und Autokraten kompromisslos bekämpft.

Anmerkungen:
[1]RAPRED Girubuntu, Podiumsdiskussion am 28.03.2019 in Stuttgart, http://www.rapred-girubuntu.org/index.php/2019/02/04/podiumsdiskussion-am-28-03-2019-in-stuttgart/ (zuletzt geprüft: 08.04.2019).
[2]Vgl. Samuel P. Huntington, The third wave. Democratization in the late twentieth century, Norman, Okla. 1993.
[3]Bettina Haasen, Journalismus in Burundi. Erfahrungswelten in Konflikt und Transformation, Wiesbaden 2019, S. 44-46.
[4]Dirk Jörke/Veith Selk, Theorien des Populismus zur Einführung, Hamburg 2017, S. 13.
[5]Ebd, S. 15.
[6]Eva Ottendörfer, Die internationale Politik der Vergangenheitsaufarbeitung. Global-lokale Interaktion in Timor-Leste, Baden-Baden 2016, S. 19.
[7]Ebd, S. 16.

Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz