Tina Bellmann, Zwischen Liebesideal und Realismus. Theologische Anthropologie als soziale Ressource bei Reinhold Niebuhr. Göttingen 2018, Universitätsverlag Göttingen, 481 S., 33. - €, ISBN: 978-3-86395-320-1
Tina Bellmann von der Universität Göttingen hat eine exzellente Dissertation zum großen amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr verfasst und steht damit ganz in guter Göttinger Tradition. Zwischen Liebesideal und Realismus. Theologische Anthropologie als soziale Ressource bei Reinhold Niebuhr lautet der Titel der umfassenden und quellenmäßig höchst anspruchsvollen Arbeit. Der Verfasserin kam das Privileg zu, selber einige Monate am Union Theological Seminary in New York City zu forschen, an dem Niebuhr lange Jahre lehrte.
Bellmann versucht trotz der zahlreichen Inkonsistenzen und Wandlungen in Niebuhrs Begriffsdefinitionen, die weitgehend auf die schiere Zahl seiner Schriften und gesellschaftlichen Rollen zurückzuführen sind, „eine tiefgründige, auch begriffsgeschichtliche Auseinandersetzung mit zentralen Denkfiguren Niebuhrs wie etwa dem Krisenbegriff, dem Zivilisations- und Kulturbegriff sowie der Aufnahme des Tragischen und der Tragödie “ (S. 24). In dezidierter Weise stellt sie denn auch historische und theologieimmanente Kontextbedingungen dar, innerhalb welcher sich Niebuhrs Denken und Handeln entwickelte.
Was sind die einzigartigen Ressourcen des Christentums nicht nur für das Individuum, sondern vor allem für die konstruktive Entwicklung von Gesellschaften? Diese Frage, so glaubt Bellmann, trieb Niebuhr zeitlebens um. Die Hochschulschrift bereichert die noch zu schmale deutschsprachige Niebuhr-Rezeption in erheblicher Weise. Im Folgenden werden die auch für die Politikwissenschaft interessanten analytischen Innovationen herausgehoben, die die Göttinger Wissenschaftlerin in sorgfältiger Auswertung von in Deutschland kaum zugänglichen Quellen entborgen hat.
1. Den Einfluss deutscher Theologie gut herausgearbeitet
Vor allem Adolf Harnacks Theologie sei es zu verdanken, dass es in den USA zu einem regelrechten „Germanisierungstrend“ US-amerikanischer protestantischer Theologie kam, zeigt Bellmann. Dieser Einfluss werde auch in Reinhold Niebuhrs theologischer Ausbildung deutlich. Von Schleiermacher über Ritschl, von Kierkegaard bis zu Ernst Troeltsch reiche der Arm des modernen kontinentaltheologischen Denkens des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in die USA hinein. Die Verfasserin zeigt Strömungen auf, die Niebuhr beeinflussten, verdeutlicht jedoch auch, dass dieser die deutsche Theologie an seine politische und sozialethische Agenda anzupassen gedachte und dabei zu Fehlurteilen deutscher und europäischer Theologie kam. Dazu später mehr.
2. James' Pragmatismus in den Kontext gebracht
Bereits in seinem frühen Werk Does Civilization Need Religion zeigt sich, so Bellmann, Niebuhrs lebenslang durchgehaltene Vorstellung, dass die Theologie in ihrer Zeit eine aktive und das heißt soziale, pragmatistisch ausgerichtete und damit auch gesellschaftlich relevante Prägung bewirken muss. Die Funktionen, die Religion, über James' Einfluss vermittelt, bei Niebuhr einnehmen soll, fasst sie so zusammen:
„ … Niebuhrs Protest gegen einen strikten Intellektualismus, die Forderung nach Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung religiöser Vorstellungen, der praktische Test zur Bewertung von religiösen Aussagen, das Bedürfnis der Vermittlung zwischen inadäquaten Alternativen, der Fokus auf das moralische Handeln und überhaupt Niebuhrs Applikation des Sprachgebrauchs von „testen“, „validieren“, „Hypothese“ auf den Bereich der Religion...“ (S. 102). Der zirkuläre Charakter zwischen Metaphysik und Ethik kann dabei nicht durchbrochen werden; Menschenbild und ethische Normen konstituieren sich gegenseitig. Bellmann legt jedoch Wert darauf zu evaluieren, dass Niebuhr kein unkritischer Apologet des amerikanischen Philosophen war, sondern dessen Denken dafür nutzte, konkrete gesellschaftliche Ungerechtigkeiten (in seiner frühen Phase gleichzusetzen mit Ungleichheiten) zu bearbeiten. Er war ein moderater Pragmatist, dessen Denken von größeren Prinzipien überspannt wurde.
3. Die Bedeutung der dialektischen Theologie in Amerika gut herausgearbeitet
Die Dialektische Theologie entstand nach dem Ersten Weltkrieg überwiegend im deutschsprachigen Raum. Diese Strömung ist als Kritik an liberalen theologischen Strömungen und als Hinwendung zu einem von menschlicher Rationalität unabhängigen Gottesverständnis zu betrachten. Zu den Hauptvertretern der in Europa so genannten „dialektischen Theologie“ wurden vor allem der Schweizer Theologe Karl Barth, dessen prominente Arbeit zum Römerbrief paradigmenbildend wirkte sowie Emil Brunner, dessen wichtiges Werk Der Mensch im Widerspruch Niebuhrs Magnum Opus The Nature and Destiny of Man maßgeblich beeinflusst hat, ohne dass Niebuhr dies gebührend referenziert hat, wie er in einer autobiographischen Aussage reumütig eingestand sowie Rudolf Bultmann, dessen Entmythologisierungsthese weltweite Prominenz erlangte. Die Autorin zeigt anhand von Niebuhrs ambivalentem Verhältnis zu Karl Barth, dass Niebuhr die Liberalismuskritik der Dialektischen Theologie weitgehend mittragen konnte, die Abgehobenheit und anscheinend fehlende soziale Verantwortlichkeit dieses Glaubensverständnisses jedoch scharf kritisierte. Niebuhr wurde aufgrund seiner differenzierten Einstellung zur dialektischen Theologie von seinem ehemaligen Mitarbeiter und einflussreichsten Interpreten Ronald Stone und anderen Wissenschaftlern als Vertreter der „Neo-Orthodoxie“[1] bezeichnet. In zutreffender Weise zeigt Bellmann, dass Niebuhr einen verkürzten Blick auf einige kontinentale Theologen in Geschichte und Gegenwart hatte; berechtigt ist ihre Kritik an Niebuhrs oft polemischer Luther-Rezeption, die er auf dessen Rolle in den Bauernkriegen verkürzt; hier hat Siemon-Netto[2] eine passende Antwort geliefert. Barths herausragende Rolle als Prophet, Widerständler und Theologe wird von Niebuhr ebenfalls nicht klar genug gesehen, obwohl sich Barth wie Niebuhr selber persönlich stark gegen das Dritte Reich eingesetzt hatte.[3] Diese Tatsache sollte in der Forschung noch detaillierter aus kontinentaleuropäischer Sicht herausgestellt werden. Der christliche Realismus aber entstand als Abgrenzung gegenüber liberaler Theologie einerseits und dialektischer Theologie andererseits.
4. Niebuhr als Theologe der Krise – eine profunde Analyse
Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass Niebuhr eine derartige Prominenz als theologischer Politikberater oder politaffiner Theologe erlangte, da er zur passenden Zeit am passenden Ort war. Diesem Befund stimmt die Autorin zu. In verdienstvoller Weise stellt sie dar, aus welch komplexer Mixtur sich Niebuhrs Verständnis der Krisen seiner Zeit zusammensetzt.
Bereits in den frühen dreißiger Jahren prognostizierte er einen unausweichlichen zivilisatorischen Endkampf zwischen Faschismus und Sozialismus. Sein Pessimismus war unter anderem einer Rezeption Spenglers geschuldet, den Niebuhr jedoch nur zur Diagnose der Zeit nutzte; Spenglers preußischen Wertekonservativismus lehnte er hingegen vollständig normativ ab. Den Begriff der Zivilisation assoziierte Niebuhr jedoch eng mit einem westlichen Demokratie- und Rechtsverständnis. Auf Grund des Zustandes der Zivilisation bräuchte es eine Art Krisenanzeiger oder Krisenprophetinnen und Krisenpropheten, welche auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen hinweisen, noch bevor sich diese in bedrohlicher Weise zusammenbrauten. Die Krise trat ein, aber nicht in der Form, wie sie Niebuhr vorausgesagt hatte. Kapitalismus und wehrhafter Liberalismus hatten gesiegt, was Niebuhrs Abschied vom Sozialismus mitbedingte. Die Krisen des aufkommenden Kalten Krieges wie der US-Verstrickung in Vietnam wurden vom „Krisentheologen“ weiter kritisch begleitet, aber ohne den apokalyptischen Furor der früheren Jahre. Doch sind Niebuhrs anthropologische Einsichten auch über Krisendiagnosen heraus von intrinsischem analytischem Wert.
5. Die prophetische Rolle der Religion gegenüber der vorherrschenden Kultur
Dass das Verhältnis von Religion und Politik seit dem 11. September 2001 wissenschaftliche Hochkonjunktur hat, ist eine Binsenweisheit. Aber auch in den dreißiger Jahren war das Thema von akuter Bedeutung, da verschiedene faschistische Staaten die Religion zur Legitimation ihrer Herrschaft einspannten. Dem jungen Niebuhr war schon früh bewusst, dass Religion trotz gewünschter Einflussnahme immer auch außerhalb des Zeitgeistes wirken musste: „Religion can be healthy and vital only if a certain tension is maintained between it and the civilization in which it functions.“[4] Gerade hier zeigt sich der Wandel in Niebuhrs Denken in dramatischster Weise. Während der junge Prediger und Sozialist an die große verändernde Idee glaubte, die in institutionalisierter Form ungerechte Strukturen eliminieren und durch gerechtere ersetzen könnte, so hatte der reife Niebuhr die Überzeugung gewonnen, dass formale Settings nicht das persönliche Charisma und das wertbezogene Handeln herausragender Individuen ersetzen könne. Ohne genuin menschliche Prägekräfte, die sich in Beziehungen zeigten, bliebe institutionalisierte Gerechtigkeit meist sehr abstrakt. Auf der anderen Seite wollte sich Niebuhr auch nicht exklusiv auf die Liebesfähigkeit Einzelner im Sinne rein philanthropischer Gesellschaftsentwürfe verlassen.
Die liberale Religion ging für Niebuhr völlig in der sie umgebenden Kultur auf und war damit einfach ein Kind des Zeitgeistes. Die Religion müsse ihren Werten jedoch gegen gesellschaftlichen Widerstand treu bleiben; Zivilisationen kämen und gingen, aber Religion und Kultur müssten ein dauerhaftes Fundament aufweisen. Religion als Benchmark im Sinne der christlich-eschatologischen Hoffnung auf ein tausendjähriges Reich, in dem Liebe und Gerechtigkeit realisiert sein werden, macht Bellmann als leitende Vision bei Niebuhr aus. Aus dieser Perspektive heraus würden soziale Realitäten der Gegenwart verurteilt und der Mut erlangt, gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen (S. 221). Das Konzept der Sünde führe zu einer realitätsnäheren Gesellschaftsanalyse als säkulare Alternativen.
6. Eine sorgfältige Analyse der Frühwerke
Als besonders kompetent erweist sich die Verfasserin in Bezug auf die Darstellung der Anthropologie Niebuhrs. Sie zeigt, auf welche Quellen sich Niebuhr in Bezug auf sein Menschenbild, das er in den frühen Werken entwickelte, stützte, und ordnet Niebuhrs Arbeiten in die gesellschaftlichen Kontexte ein, in welchen sie entstanden; die besonders gut analysierten Frühwerke sind Does Civilization Need Religion? sowie An Interpretation of Christian Ethics. Bellmann zeigt, dass hier die Grundlagen für Niebuhrs Magnum Opus The Nature and Destiny of Man gelegt wurden, aber auch der Gedanke, dass sich die Theologie in der Realität ethisch bewähren müsse. Sie zeigt detailliert die Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Denken Niebuhrs auf und benennt die treibenden Faktoren, die diese Oszillationen bewirkten.
7. Zwei zentrale Kritikpunkte
Die Fragestellung hätte etwas stärker eingegrenzt werden müssen – „theologische Anthropologie als soziale Ressource“ ist eine zu breit formulierte Fragestellung, um konkrete programmatische Agenden zu setzen, obwohl es in Bellmanns Arbeit eine fast unerschöpfliche Zahl an Ansatzmöglichkeiten gibt. So bleibt ein zu großer subjektiver Spielraum, um Niebuhrs Einfluss auf dem Feld praktischer Sozialethik realistisch evaluieren zu können. Dass die Autorin die Rolle Niebuhrs als „public theologian“ herausstellt, ist abschließend dann gerade nicht die originellste Erkenntnis ihrer Arbeit, denn diese Rolle stellten Ronald Stone, Langdon B. Gilkey und Michael Plathow/Schössler[5] bereits deutlich heraus. Hier hätte Bellmann mehr den Propheten und Krisenanalytiker Niebuhr ins Feld führen können.
Nachdem Bellmann sehr gut herausgearbeitet hat, wie Niebuhr die erhebliche Zeitgeistanfälligkeit des Protestantismus nicht nur in den USA und die damit verbundene Preisgabe wesentlicher Teile des Evangeliums kritisierte, wagt sie den Schritt nicht, das identische Phänomen in der Gegenwart zu benennen, das vor allem die deutschen Amtskirchen prägt. In diesem Sinne fehlt auch die zugegebenermaßen vor allem in seinem Spätwerk vorfindbare Kritik an übertriebenen sozialen Erziehungskonzepten im Sinne eines social engineering, Bellmann verwies aber in Bezug auf die erwähnte Kritik Niebuhrs an Deweys Demokratiebegriff darauf, dass Niebuhr funktionalistischen politischen Erziehungsmodellen kritisch gegenüberstand. Einem vollkommen von Verantwortungsethik befreiten, rein gesinnungsethischen Humanismus hätte Niebuhr sicherlich kritisch gegenüber gestanden, da er in der Geschichte meist zu genau gegenteiligen Wirkungen führen könne.
Fazit
Die Leistung des Christentums liegt, so Bellmann im Sinne Niebuhrs, nicht in konkreten Rezepturen und Verbesserungsvorschlägen, sondern in seiner analytischen Kraft und ihrem motivatorischen Potenzial, aus dem sich Elemente einer gesellschaftlichen Ethik destillieren lassen. Sie zeigt, dass es Niebuhr in seinem Lebenswerk um eine ständige innere Reform in der Kirche einerseits und um eine prophetische Stellungnahme zu den Problemen seiner Zeit andererseits ging. Die Tatsache, dass sie in Deutschland kaum zugängliche Quellen erschlossen hat, stellt eine gute Basis für weitere Forschungen dar. Bellmann kommt das Verdienst zu, verschiedene Wege aufgezeigt zu haben, wie das christliche Liebesideal in persönlicher und institutioneller Form gesellschaftlich wirksam ausgestaltet werden kann und somit kein Ideal des Elfenbeinturmes verbleiben muss.
Zum Rezensenten:
Dr. Christoph Rohde war Lehrbeauftragter an der Hochschule für
Politik München. Seine Dissertation ‚Hans J. Morgenthau und der
weltpolitische Realismus‘ erhielt den Förderpreis der
Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahre 2002. Rode
ist als selbständiger Dozent im Bereich Volkswirtschaft und
Medienpolitik für verschiedene Bildungsträger tätig.
[1] Ronald Stone: Reinhold Niebuhr – A Mentor to the Twentieth Century. Louisville. Westminster 1992.
[2] Uwe Siemon-Netto: Luther – Lehrmeister des Widerstands. Basel. Fontis 2016.
[3] Christoph Rohde: Reinhold Niebuhr - Die Geburt des Christlichen Realismus aus dem Geist des Widerstandes. Berlin. Duncker & Humblot 2016.
[4] Reinhold Niebuhr, Does Civilization Need Religion? A Study in the Social Resources and Limitations of Religion in Modern Life. MacMillan, New York. 1927, S. 69.
[5] Michael Plathow/Dietmar Schössler: Öffentliche Theologie und Internationale Politik. Zur Aktualität Reinhold Niebuhrs. Springer. Wiesbaden 2013.
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