Willi Steul (Hg.), Koran erklärt – Ein Beitrag zur Aufklärung. Unter Mitwirkung von Sebastian Engelbrecht und Thorsten Gerald Schneiders, Berlin 2017, Suhrkamp Verlag, 298 S., 10,00 €, ISBN 978-3-518-46802-9
Die Publikation „Koran erklärt“ geht auf die gleichnamige Senderreihe, die Anfang März 2015 bis Dezember 2016 im Deutschlandfunk (DLF) jeweils freitags von 9:55-10:00 Uhr ausgestrahlt wurde, zurück. Ausgewählte Verse werden von renommierten, sowie weniger bekannten, jedoch nicht weniger kompetenten islamischen TheologInnen und IslamwissenschaftlerInnen, sowie von OrientalistInnen aus acht Ländern in 5 Minuten fachkundig erläutert. Ausgewählte Beiträge aus der Sendereihe sind nun als Suhrkamp-Taschenbuch erschienen. Hierbei bezieht sich das Buch auf 81 Texte der Sendereihe.
Die für das Buch ausgewählten Verse, deren Erläuterung selten mehr als zwei Seiten umfassen, sind zu 16 unterschiedlichen Themenfeldern zusammengefasst. „Der Koran über sich“, „Auslegungsfragen“, „Strukturell besondere Verse und Suren“; „Gottes Eigenschaften“, „Über den Propheten Mohammed“, „Die Propheten“, „Die Schöpfung“, „Die Apokalypse und das Jenseits“, „Eigenschaften und Pflichten des Menschen“, „Die Frau“, „Juden und Christen“, „Gewalt und Krieg“, „Geschichte und Moderne“, „Humor und Dichtung im Koran“, „Naturwissenschaft, Biologie und Bildung.“ Ausgewählte schiitische und mystische Sichtweisen“ kommen ebenfalls zu Wort.
Aus der Fülle der Beiträge sollen hier einige kurz besprochen und vorgestellt werden.
Im Kapitel „Gottes Eigenschaften (60-76) widmet sich Dr. Tuba Isik zwei verschiedenen Suren (2, 186 und 4,110). In ihrem Beitrag zu Sure 2. 186 (60-61) erläutert sie, dass der Koran als „göttliche Rede“ keinen Monolog darstellt. Vielmehr zeigt sie auf, dass Gott jenseits von Raum und Zeit, Kategorien und Vorstellungen, dem Menschen näher ist als „seine Halsschlagader“, wie dies bildlich in der Sure 50:16 zum Ausdruck kommt. Somit wird die Unmittelbarkeit als zentrale Beziehungskategorie zwischen Gott und Mensch hervorgehoben und ein Gott vorgestellt, der verspricht, „dem Ruf des Rufenden zu antworten.“ Erst durch diesen Ruf erfährt die Nähe des Menschen zu seinem Schöpfer eine besondere Qualität, die den Menschen möglicherweise von anderen Geschöpfen (Tiere, Pflanzen), die ebenfalls unter Gottes Gnade und Barmherzigkeit stehen, abhebt, da die Barmherzigkeit Gottes als eine alles umfassende Dimension im Verhältnis des Schöpfers zu seinen Geschöpfen gilt. Ihr anschließender Beitrag „über die Sünde“ (4,110) zeigt die nächste Verhältnisbestimmung in der Gott-Mensch-Beziehung auf.
„Und wer eine Missetat tut oder
wider sich sündigt und dann Gott um Verzeihung bittet, wird Gott
verzeihend und barmherzig finden.“ (Sure 4,110).
Nach Tuba Isik bündelt dieser Vers die an vielen Stellen des Koran
verkündete zentrale Botschaft Gottes, dass dem Menschen, wenn er
seine schlechten Taten bereut, immer ein Weg zur Umkehr offensteht.
Demnach ist der Mensch nie verloren, jedoch immer verantwortlich
für sein Tun und Lassen.
Im Themenbereich „Auslegungsfragen“
(25-26) widmet sich Prof. Dr.
Ömer Özsoy unter dem Titel „Islam – ein Wort und seine
religiöse Bedeutung“ der Sure 3,19-20.[1]
Er macht darauf aufmerksam, dass die vorherrschende muslimische
Religionsauffassung einen exklusiven Charakter aufweist, wonach der
Islam als die einzig wahre Religion gelte und frühere Religionen
durch die koranische Offenbarung aufgehoben und für ungültig
erklärt worden seien. Nach Özsoy lässt sich bei einer
kritischen Lektüre entsprechender Koranpassagen dieser
Exklusivitätsanspruch nicht aufrechterhalten, wie er dies am
Beispiel der Entwicklungsgeschichte des Wortes islam im Sprachgebrauch des Koran
zeigt, dessen ursprüngliche Bedeutung „Hingabe“ sei, woraus sich
kein Glaubensmonopol ableiten ließe. Zudem würden im
arabischen Originaltext des Koran viele frühere Propheten, wie
Abraham und Jesus und deren Anhänger, als muslim im Sinne von „Gott ergeben“
bezeichnet.
In seinem Beitrag wiederspricht Özsoy somit einer exklusiven
Haltung, wonach nur Muslime im Besitz der endgültigen
göttlichen Wahrheit sind. Sein inklusiv-pluralistisches
Verständnis gegenüber Menschen, die nicht der islamischen
Religion angehören -insbesondere gegenüber Christen und Juden
-lädt zum Dialog und zur respektvollen Begegnung ein. In diesem
Zusammenhang charakterisiert er metaphorisch die eigene Religion als
ein persönliches Zuhause, wonach niemand das ethisch legitimierte
Recht habe, das glückliche Kind einer Nachbarsfamilie ins eigene
Heim zu entführen. Der Koran böte die Perspektive, Muslime
und ihre muslimische Familie als Bewohner eines nachbarschaftlichen
Viertels zu sehen, dem gegenüber sich Gott als Beschützer zu
erkennen gebe.
Der Beitrag von Prof. Dr. Fred M.
Donner (162-164) bekräftigt mit der Sure 2, 62 ebenfalls
die positive Haltung des Koran gegenüber Andersgläubigen,
insbesondere gegenüber Christen
und Juden. Dort heißt es:
„Siehe, diejenigen, die glauben, die sich
zum Judentum bekennen, die Christen oder Sabier – wer an Gott glaubt
und an den Jüngsten Tag und rechtschaffen handelt, die haben ihren
Lohn bei ihrem Herrn, sie brauchen keine Furcht zu haben und sollen
auch nicht traurig sein!“
Gegenüber anderen, kritisch gehaltenen Versen sei der zitierte
Vers den „positiven“ Versen zuzurechnen, womit die
widersprüchlichen Aussagen im Koran zu Christen und Juden
angesprochen werden. Donner geht schließlich der Frage nach, wie
sich dieses widersprüchliche Meinungsbild, das muslimische wie
nichtmuslimische Korankommentatoren seit Jahrhunderten
beschäftige, erklären lasse. Abschließend betont er,
mit dem Koran sei es wie mit allen heiligen Schriften:
„Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Und die Diskussionen
werden zweifelsohne noch lange anhalten.“
Zweifelsohne halten die Diskussionen auch um den nächsten Vers,
den Dr. Ayse Ba?ol erläutert (81-82), von der frühislamischen
Geschichte bis heute an. Der Streit um Mohammeds Hochzeit mit der
Exfrau seines „Ziehsohnes“ gehört zu den schwer nachvollziehbaren
und provokanten Themen und zeigt, dass in „Koran erklärt“
schwierige Themen nicht ausgespart werden. Im Rückgriff auf den
Vers 33,37 arbeitet Ba?ol in ihrem Beitrag heraus, dass die Ehelichung
Zainabs durch den Propheten bereits bei seinen Zeitgenossen
Anstoß erregte, weshalb der hier angeführte Vers offenbart
wurde und die Neuordnung „der Beziehungen von Mohammed zu seiner
Familie und seiner Gemeinde“ (81) intendierte.
Während die oben angeführten Erläuterungen der
Koranverse entsprechend des ursprünglichen Sendeformats
notwendigerweise kurzgehalten sind, folgen im Anschluss an die Texte
drei umfangreiche Essays, die Hervorragendes zum Gesamtverständnis
der besprochenen Auslegungen leisten.
Angelika Neuwirth nimmt in ihrem Beitrag die Konzeption der Sendereihe
in den Blick und kritisiert, dass die Macher von der
ursprünglichen Konzeption abgewichen seien, sich aktuellen Themen
zu widmen, die nur von Muslimen selbst kommen könnten.
Entsprechend sei das vorliegende Buch also weniger das hochaktuelle
Zeugnis muslimischer Reflexion über den „Koran als heilige
Schrift“, sondern primär wieder ein Buch über den „Koran als
Text". (247). Die Leiterin des Forschungsprojekts „Corpus Coranicum“,
weist auf die unterschiedlichen Zugangsweisen zum Koran zwischen
Theologie und Philologie hin und spricht damit ein durchgehendes
Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Texten der Publikation „Koran erklärt“
an (246-252). Insofern spiegelten sich in der Publikation zwei
Koranbilder wider: einerseits ein Bild, das gekennzeichnet sei durch
einen theologischen Zugang zur Heiligen Schrift, deren Worte für
die Gegenwart auszulegen seien, andererseits ein Bild aus
orientalistischer Perspektive des „Koran als Text“, dessen Auslegung
aufgrund historischer Zeugnisse der exegetischen Analyse
überlassen bliebe. Besonders deutlich würde dies an dem
grundsätzlich unterschiedlichen Zugang zur „heiligen Schrift“. So
isoliere man den Koran aus seinem Milieu und lese ihn mit der „Brille
der traditionellen Exegeten“ oder kontextlos als Textvorlage für
philologische Analysen und religionsgeschichtliche Spekulationen (250).
In ihren weiteren Ausführungen bringt die Leiterin des
Forschungsprojekts „Corpus Coranicum“, ihre viel beachteten
Erkenntnisse ein, wonach sie den Koran in den Kontext der
Spätantike stellt und dafür plädiert, "ihn in die
Debatte der Religionskulturen, aus der heraus er entstanden ist"
zurückzustellen (ebd.).
Thorsten Gerald Schneiders, der Redakteur der ausgestrahlten Sendung, liefert zum Thema „Die Geschichte der Koranauslegungen im Überblick. Von den Anfängen bis zu Koran erklärt“ (219-245) wesentliche Informationen zur Interpretation des Koran, die sowohl das Verstehen der einzelnen Verse erleichtern als auch den Zugang der unterschiedlichen Gelehrten zu den Texten des Koranbeschreiben. Schneiders weist darauf hin, dass die Auslegung des Koran eine immerwährende Aufgabe darstellt, die, wie bekannte Koranexegeten und diverse Korankommentatoren betonen, wohl niemals zu einer eindeutigen, universell gültigen und abgeschlossenen Erklärung des Koran führen würde. Diese dem Koran zugrunde liegende „Ambiguitätstoleranz“ - einer von Thomas Bauer in „Die Kultur der Ambiguität“ (2011) geprägten Terminologie zur Bezeichnung einer zugrundeliegenden Uneindeutigkeit - sei nicht als Makel, sondern als Wert zu verstehen, den es zu erhalten gelte (220). Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass das Verständnis des Koran immer auch im Kontext seiner jeweiligen geschichtlichen Bezüge, der geographischen Lage und dem damit verbundenen Einfluss räumlicher Gegebenheiten auf religiöse Vorstellungen gesehen werden müsse.
Sebastian Engelbrecht, der
die Sendung konzipierte, gibt unter dem Titel „Die Beteiligung des Islams am Rundfunk in
Deutschland“ einen Überblick über die Beteiligung von
Muslimen an Sendezeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk in
Deutschland (253-281).
Verzeichnisse der Autorinnen und Autoren, der ausgelegten Suren und ein
Inhaltsverzeichnis ergänzen die einzelnen Beiträge.
Schlussbetrachtung
Der Islam gerät meist dann in den Focus des öffentlichen
Interesses, wenn spektakuläre fundamentalistische Ereignisse und
terroristische Gewalttaten von bestimmten Rand- und
Terrororganisationen geschehen, die den Islam für ihre Interessen
instrumentalisieren und somit für negative Bilder und Schlagzeilen
sorgen. Es scheint schwierig zu sein, dagegen anzukämpfen, sodass
der Islam als besonders grausam diskreditiert wird und Muslime in ihrem
alltäglichen Leben mit diskriminierenden Haltungen und
Einstellungen als Angehörige dieser Religion konfrontiert sind.
Eine Herangehensweise, die die Geistesgeschichte des Islam und die
Auslegungstradition des Koran berücksichtigt und dabei nicht nur
an ein Fachpublikum gerichtet ist, tut not.
Die Publikation „Koran erklärt“, bietet beeindruckende
Informationen über die unterschiedlichen Themen im Koran
hinsichtlich der ausgewählten Verse, ermöglicht damit einen
differenzierten Zugang zur Heiligen Schrift einer Weltreligion und
sucht sich auf diese Weise, einer missbräuchlichen Interpretation
in den Weg zu stellen.
Die AutorInnen stellen das dynamische Potential einer statischen
Schrift dar, indem sie die Verse nicht nur in ihren historischen
Kontext einbetten und einer kritischen Analyse unterziehen, sondern
diese auch auf aktuelle Fragestellung unserer Zeit beziehen.
Mit „Koran erklärt“ wird somit einem breiten Publikum, in aller Kürze und meist in leicht
verständlicher Sprache, das Ringen um die richtige Deutung
koranischer Verse verdeutlicht, in ihrem Facettenreichtum
präsentiert und aufgezeigt, dass der Koran nicht wie eine
Bedienungsanleitung zu lesen ist, wie wir dies bei islamistischen
Fundamentalisten auf der einen und bei islamfeindlichen Akteuren auf
der anderen Seite finden.
Die ausgewählten Experten aus verschiedenen Fachdisziplinen
(Islamische Theologie, Islamwissenschaft und Orientalistik) öffnen
somit dem Leser- aus der Logik ihrer Fachdisziplin- ein Fenster zu
unterschiedlichen Themen des Koran, um somit - islamisch gesprochen-
der Wahrheit bzw. dem, was Gott sagen will, etwas näher kommen zu
können. Gleichzeitig ist das Format ein gelungenes Beispiel
für journalistische Sorgfalt und einen offensichtlich ehrlichen
Aufklärungswillen gegenüber einer Religion, deren
humanistisches Potential weitgehend in den öffentlichen Debatten
ausgespart bleibt.
In seinen einleitenden Worten verweist der Herausgeber (der Intendant des Deutschlandfunks und Herausgeber des Buches, Willi Steul) darauf, dass „Koran erklärt“ einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung und zur Aufklärung in unserer Gesellschaft leisten und den Blick auf das humane Anliegen des Islam richten möchte (9). Diesem Anliegen wird dieses Buch mehr als gerecht. „Koran erklärt“ ist für alle Personen interessant, die sich über den Islam sachkundig informieren möchten.
Zur Rezensentin:
Dr. Naime Cakir ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut
für Studien der Kultur und Religion des Islam an der
Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Anmerkung:
[1] Siehe, die Religion bei Gott ist der Islam. Und die, denen die
Schrift gegeben ward, waren nicht eher uneins, als nachdem das Wissen
zu ihnen gekommen war – aus Neid aufeinander (…) und so sie mit dir
streiten, so sprich: „Ich habe mein Angesicht ergeben in Gott, und so,
wer mir nachfolgt.“ (Sure 3,19-20).
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