Christoph Schmitt-Maaß, Daniel Fulda (Hg.), Vertriebene Vernunft? Aufklärung und Exil nach 1933, (Laboratorium Aufklärung, Bd. 30)

Christoph Schmitt-Maaß, Daniel Fulda (Hg.), Vertriebene Vernunft? Aufklärung und Exil nach 1933, (Laboratorium Aufklärung, Bd. 30), Paderborn 2017, Wilhelm Fink Verlag, 170 S., 24,90 €, ISBN: 978-3-7705-6062-2


Der Einbruch der Barbarei 1933, so folgern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“ 1944 im amerikanischen Exil, war kein Einbruch, sondern die Folge einer verfehlten Zivilisation. Hier, in den „Philosophischen Fragmenten“, werden die katastrophischen Ereignisse in einen engen Zusammenhang mit dem Prozess der europäischen Aufklärung und der Enthemmung des instrumentellen Denkens gebracht.

Bildungsbürgerliche, intellektuelle, jüdische Persönlichkeiten mussten das Land verlassen, ein Land, das ihnen biographisch, kulturell und philosophisch Heimat war und in der Emigration auch oftmals blieb.

Unter dem Titel „vertriebene Vernunft“ ist zweierlei zu verstehen; ihres Landes gewaltsam vertrieben wurden jene Persönlichkeiten, die eine vernünftige, kritische und dem Menschen zugewandte Haltung verkörperten. Es sind jene Denkerinnen und Denker, die an einem Vernunft- und Aufklärungsbegriff festhielten, der ideologisch bereits in seinen Anfängen bekämpft, politisch umgedeutet und missbraucht wurde.

Insbesondere das deutsche Judentum, wie heterogen es sich auch historisch ausnahm, hat die Aufklärung überwiegend emphatisch begrüßt, auch weil deren Postulate Emanzipation und Gleichberechtigung versprachen. Rechtlich jedoch blieb das Judentum gegenüber den christlichen Konfessionen noch bis 1918 benachteiligt. Mit der Vertreibung der „Vernunft“, wurde also eine Generation exiliert, ein Denken zunichte, mit dessen Verlust die deutsche Geisteswissenschaft, überhaupt die Intellektualität und das politische Denken in Deutschland bis heute zu ringen hat.

Der vorliegende Band versammelt zehn Aufsätze, die sich mit den Reflexionen exilierter Autorinnen und Autoren zu Aufklärung und Vernunft beschäftigen. Es handelt sich um die Beiträge einer Tagung, die im Oktober 2010 am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (Halle/S.) in Kooperation mit dem Leopold Zunz Center zur Erforschung des europäischen Judentums und der International Feuchtwanger Society (Los Angeles) stattfand.

Der mit einem Fragezeichen versehene Titel möge, so der Herausgeber Schmitt-Maaß, als „argumentative Einschärfung“ verstanden werden. (S. 11) Denn bereits vor der historischen Zäsur 1933 war der  Aufklärungsbegriff vieldeutig und die Standpunkte waren heterogen – das verdeutlichen u.a. die Positionen Karl Mannheims, Georg Lukács‘ und Ernst Cassirers, so der Herausgeber. (S. 10) Im Exil verschärfte sich durch die destabilisierte Existenz nochmals die Verteidigung eigener Positionen. Die Debatte um Vernunft und Aufklärung wurde also unter anderen politischen Bedingungen weitergeführt. Insbesondere die biographische Erfahrung, konstatiert Linda Maeding in ihrem literaturwissenschaftlichen Beitrag, und die „spätere reflexive Verarbeitung der nationalsozialistischen Vertreibung konfrontierte die exilierten Autoren mit der Aktualität oder Dekadenz genuin aufklärerischer Ideen.“ (S. 94)

Aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven wird das Thema von den Beiträgerinnen und Beiträgern angegangen, wobei verdeutlicht wird, dass die Frage der Exilierten nach Aufklärung konstitutionell stets eine mehrdimensionale ist: die Frage nach der richtigen Aufklärung gilt für eine gesamte historische Epoche, für ihre philosophischen und politischen Präfigurationen – sie gilt indes auch für die zeitgenössische Gegenwart.

Geordnet werden die Denkerinnen und Denker in „Aufklärungsskeptiker“ und „Aufklärungsemphatiker“. Diese Aufteilung gibt auch fachfremden Lesenden Orientierung, auch wenn damit die diskursive Komplexität unterschlagen wird, denn unter die „Skeptiker“ fallen in dieser Ordnung so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Hannah Arendt, Ernst Cassirer, Leo Strauss, Ludwig Marcuse und die bereits genannten Autoren Horkheimer und Adorno. Bei aller Kritik, so ist zumindest zu konstatieren, halten Ludwig Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an ihrem Begriff von Aufklärung und Vernunft fest. Insbesondere Ernst Cassirer ist derjenige, der fraglos die Begriffe verteidigt und gar eine wiederholte, radikalere Aufklärung fordert.

Den Exulanten gemein ist die Anstrengung, „die Defizite zu benennen, die die Aufklärung dem 19. und 20. Jahrhunderts vererbte,“ (S. 50) so wie es Leo Strauss tat und Thomas Meyer präzise in seinem Beitrag „Leo Strauss und die Aufklärung“ darlegt. (S. 49-68)

Für Ernst Cassirer, so konstatiert Paul Bishop in seinem Überblick zu „Philosophie im Exil und die Heimkehr zur Vernunft“, bedeutete das Exil keineswegs die Abkehr von seinem Begriff von Vernunft und Aufklärung; in der fast versöhnlichen Formel „Heimkehr zur Vernunft“ bewahrte sich Cassirer seinen symbolischen und ästhetischen Begriff von Aufklärung, denn, so Bishop: „Cassirer sagt uns, dass wir uns nirgendwo im Exil befinden, wenn wir – durch die Kultur – die Welt als eine Welt betrachten, als unsere Heimat, als ein (sic!) Ort, wo wir zu Hause sind.“ (S. 46f) Die Aufklärung ist für ihn prozesshaft – sie vollende sich nicht.

Diese Wiederherstellung von Vernunft, die Cassirer als Aufgabe erkennt, dieser emphatische Zugriff auf Aufklärung ist Hannah Arendt nicht eigen. Im Eichmann-Buch nimmt Arendt das „radikal Böse“ Kants zum Anlass, wie Christoph Schulte expliziert, um eine politische Aussage zu treffen. Ihr Kontext ist der Totalitarismus, nicht die von Kant konstatierte menschliche Autonomie. Insofern distanziert sich Arendt angesichts des Zeitgeschehens von den philosophischen Postulaten der Aufklärung, die zwar individuell Geltung beanspruchen mögen, politisch jedoch ohne Verankerung blieben [1].

Auch Ludwig Marcuse, dessen Haltung differenziert im Artikel von Christoph Schmitt-Maaß dargestellt wird, „ übt sich als skeptischer Humanist in einer pessimistischen Aufklärung“ – verbindet dies jedoch mit der „Notwendigkeit, nicht hinter die Erkenntnisleistungen des 18. Jahrhunderts zurückzugehen.“(S. 77) Sein Begriff von Aufklärung ist – so Schmitt-Maaß – ein doppelter: Einerseits bezeichne Marcuse die historische Epoche, zum anderen eine „überzeitliche philosophische Praxis (man könnte auch sagen: Lebenspraxis).“ (S. 76) Hierin, so kann postuliert werden, treffen sich die Exulanten bei aller Kritik an Aufklärung und Vernunft; sie alle betreiben Aufklärung als Praxis.

Der hochinteressante Aufsatz von Tilmann Reitz „Unheilsgeschichten deutscher Ausgewanderten (sic!). Die Dialektik der Aufklärung als ästhetische Figur“ hebt weniger auf den Gehalt der Philosophischen Fragmente ab, sondern fragt vielmehr nach deren ästhetischer Komposition. Konzise weist Reitz die Kompositionslinien des Textes nach, die sich bereits in der „Philosophie der neuen Musik“ Adornos von 1940/41 artikulierten. Musiktheoretische, narratologische und ästhetische Reflexionen Schönbergs, Benjamin, Kracauers und Lukács‘ seien in den Fragmenten als Sprache und Form nachzuweisen und würden stilistisch antizipiert. Diese ästhetische Signatur geht allerdings mehr noch auf Adorno als auf Horkheimer zurück – das hätte noch deutlicher herausgearbeitet werden können. Der analytische Blick auf die Ästhetik der Fragmente sagt freilich auch etwas über deren Autoren aus: angesichts des Grauens erhalten sich die Autoren doch einen Begriff von Kunst und in der Kunst einen Begriff von Freiheit.

In den wenig bekannten Autobiographien der Germanisten Bernhard Blume und Egon Schwarz spürt Linda Maeding in einem dichten Aufsatz („Arbeit am Subjekt als Aufklärungskritik in der Exil-Germanistik“, S. 93-112) deren Haltung zur Aufklärung nach. Obgleich beide Exulanten mit dem „Traditionsgehalt des Aufklärungsbegriffs“ (Einleitung, S. 12) vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung ins Gericht gehen, dient ihnen „Aufklärung“ als „Fundus an Idealen und Vorstellungen, die eng mit der eigenen Lebensgeschichte verbunden waren“ (S. 95) und halten sie dennoch an ihr fest, gerade in der Gattung der Autobiographie. Das selbstreflexive Schreiben, die Autobiographik, ist auch eine „Arbeit am Subjekt“, diese sei für die Germanisten Blume und Schwarz, so Maeding, eine Praxis der Aufklärung.

Zwei Artikel widmen sich Lion Feuchtwanger und dessen Werk; als „Aufklärungsemphatiker“ kann Feuchtwanger durchaus gelten. Freilich lässt seine Beschwörung der Sowjetunion als „Reich der Vernunft“ Kritik zu. Hier, auf seiner Reise in die Sowjetunion im Jahre 1936, sieht er eine politische Vernunft verwirklicht. Obgleich Feuchtwanger unscharf mit dem Begriff „Vernunft“ verfahre, zeige sich dieser als Gegenbegriff zu Dummheit, „Gefühl und Vorurteil“, die das Fundament des Nationalsozialismus darstellten. Anne Hartmann kritisiert die unscharfe Polysemantik: Feuchtwangers Begriffe seien keiner philosophischen Schule zuzuordnen und im Votum für die Sowjetunion verteidige er die eine Diktatur gegen die andere. (S. 126) Hartmann attestiert Feuchtwanger sowohl Blindheit gegenüber der der Aufklärung und Vernunft innewohnenden Dialektik als auch gegenüber den totalitären Strukturen der Sowjetunion. Zum gleichen Schluss gelangt Daniel Azuélos, fällt sein Urteil aber etwas milder: „Die rechte Hand des handelnden Bourgeois und Humanisten ignorierte wohl, was die linke Hand des Dogmatikers schrieb.“ (S. 138) Hinsichtlich der Romane müsse konstatiert werden, dass sich Feuchtwanger bei aller Unschärfe der Begriffe einen Humanismus bewahre, der sich in seinem Oeuvre allenthalben als Kritik an Gewalt und Ignoranz artikuliere. Dazu sei anzumerken, dass sich die Sowjetunion für viele deutsche Juden hoffnungsvoll als die Macht darstellte, die Nazideutschland Einhalt gebieten könne und im Stande sei, es zu besiegen.

Eine Adaption von Lessings Trauerspiel „Nathan der Weise“ inszenierten Erwin Piscator und Ferdinand Bruckner 1942 im von Piscator gegründeten Studio Theatre an der School of Social Research (New York). Freilich wird hier symbolisch dem nationalsozialistischen Deutschland die progressive deutsche Kulturgeschichte entgegengehalten – zumal Lessings Trauerspiel zu dieser Zeit der deutschen Zensur unterlag und nicht aufgeführt werden durfte. Kristina-Monika Kocyba arbeitet anhand von Exil-Archivalien heraus, dass diese ins Englische übertragene Fassung des „Nathan“ und die Inszenierung jedoch wenig Anklang in der Presse fanden; es wirkte, wie dessen Autoren, aus Zeit und Kultur gefallen – ein Text im Exil. (S. 139-152)

Den Band beschließt Michaela Ullmann mit einem Blick in die Feuchtwanger Memorial Library, Los Angeles. Die Sammlung enthält umfassende Bestände und beherbergt eine Fülle an Autographen, Manuskripten und Büchern der europäischen Literatur, Philosophie, und Geschichtsschreibung. Der Aufsatz versteht sich als Anregung für die Exil- und Aufklärungsforschung. Die Bibliothek Lion Feuchtwangers steht für die vielen privaten Sammlungen von deutschen Jüdinnen und Juden, die ihr kulturelles Erbe nach Tel Aviv, New York, Buenos Aires und andernorts als materialisierte Identifikation mit dem „anderen Deutschland“ mitnahmen, einem Deutschland der Aufklärung und des Humanismus. Dass die Tradition der Aufklärung bei aller Kritik an ihrem Gehalt für viele Emigranten und Emigrantinnen unumstößlich blieb, wird durch die vorliegenden Studien nochmals verdienstvoll sichtbar gemacht.


Zur Rezensentin:
Prof. Dr. Yael Kupferberg forscht und lehrt am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin.

Anmerkung:
[1] Hannah Arendt, Aufklärung und Judenfrage (1932), in: Hannah Arendt, Die verborgene Tradition, Frankfurt am Main 1976, 108 – 126, hier 108.

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