Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1964

Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung 1964, bearb. v. Bernd Florath, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017 (Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung, hg. v. Daniela Münkel im Auftrag des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik), 320 S., 30.- €, ISBN: 978-3-525-37508-2


Das ambitionierte Projekt der (fast) vollständigen Edition der geheimen Berichte der Staatssicherheit der DDR an die SED-Führung hat im vorliegenden Band zum Jahr 1964 eine Fortsetzung gefunden. Die erhaltenen 380 Berichte des Jahres 1964 der ZIG (Zentrale Informationsgruppe) bzw. im Weiteren der ZAIG (Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe) haben einen Gesamtumfang von etwa 1360 Seiten. Der Wissenschaftliche Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung der BStU, Bernd Florath, besorgte die Bearbeitung und Kommentierung in der vorliegenden Auswahl der Druckausgabe. Etwa 200 Druckseiten des Bandes gehören den Originalquellen, die mit erklärenden Fußnoten und Querverweisen zu anderen Vorgängen und Beständen ihren editorischen Mehrwert erhielten. Auch für die sorgfältige und mühsame Überarbeitung der sensiblen Quellen nach den Vorgaben der Persönlichkeitsrechte und des Stasi-Unterlagengesetzes gebührt großer Dank. Die Berichte, die – mit Ausnahme der von der Hauptverwaltung A (S. 11) über die Bundesrepublik Deutschland und das Ausland erstellten Unterlagen –  in chronologischer Reihung ohne weitere Unterteilung vorgelegt wurden, stellen eine kontinuierliche Quellenbasis des Wissenshintergrundes der obersten DDR-Führung dar. Und auch für die DDR-Forschung, die aufgrund ihrer Fülle zuweilen selbstreferenziell wirkt, ist diese Quellensammlung von Nutzen. Während im vorgelegten Band nur eine Auswahl der Dokumente des Jahres präsentiert wird, verspricht die parallel verfolgte Online-Edition den Zugang zu allen Dokumenten (www.ddr-im-Blick.de). Zunächst soll der Jahrgang aber für die Dauer eines Jahres im Rahmen einer Datenbank zugänglich gemacht werden (www.ddr-im-Blick-1964.de).  

Die Herausgeberin der Reihe, Daniela Münkel, macht in ihrem Vorwort zu den Berichten von 1953 bis 1989 als historische Quellen auch deutlich, dass die hier vorlegten Informationen des Jahres 1964 als Zeichen eines "verhaltenen Aufbruchs" zu verstehen seien, der bereits im Jahr 1965 sein "jähes Ende" (S. 7) finden sollte. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wurde dabei zur Blaupause dessen, was es über die Jahre hinweg zu verhindern galt. Erich Mielke war es, der 1960 diese "Informationsarbeit" zu einer Kernaufgabe des MfS erhob. Auch hierbei wurde das Arkanwissen zum elitären Herrschaftswissen, das die Macht Mielkes innerhalb des Apparates gleichsam sicherte. Die auf Geheimhaltung verpflichteten Adressaten der Berichte waren so innerhalb der Führungselite wiederum Auserwählte und Gebundene des Systems. Die Zentrale Informationsgruppe ZIG war 1959 gebildet worden und wuchs bis Anfang der 1960er Jahre auf etwa 13 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf, darunter Robert Korb und Werner Irmler. Letzterer wurde zu einem der Förderer der elektronischen Datenverarbeitung in der Staatssicherheit. Neben der Erstellung von Analysen und Einzelinformationen sollte die ZIG auch die vergleichbaren Einrichtungen auf Ebene der Bezirke und Kreise der DDR anleiten und kontrollieren. Offenbar sind für einige Vorgänge in der Stasi die Informationen der ZIG die einzige Quelle aus den Akten der BStU, so wie bei der Botschaft des Papstes Paul VI. an den Staatsratsvorsitzenden der DDR oder bei den Informationen zu einer Konferenz der evangelischen Bischöfe der DDR (S. 51 – 54). Leider gibt es zumindest für das Jahr 1964 anscheinend kaum Quellenhinweise darüber, die auf die weitere Rezeption der Berichte im Apparat hindeuten. Dass die Berichte von Interesse waren, ist allein aus der Lektüre der vielfältigen und teilweise ungeschminkten Inhalte jedoch anzunehmen.

Bernd Florath unterteilt seinen Beitrag in die Abschnitte "Zeitgeschichtlicher Hintergrund" und "Zentrale Themen der Berichterstattung". Darin das Passierscheinabkommen (S. 26), die Ausgrenzung der Reformer, wie Robert Havemann (S. 29) und Heinz Brandt (S. 37). Dabei werden die zumal auch eher beschreibenden und oberflächlichen Informationen schon einmal zu breiten Analysen. So beinhaltete die Einzelinformation Nr. 124/64 vom 19. Februar 1964 eine „Charakterisierung des Auftretens“ von Robert Havemann und schildert die Wirkung seiner Lehre an der Humboldt-Universität und seine Kontakte nach West-Berlin und in die Bundesrepublik.  Bei Vorlesungsthemen, wie „Todesstrafe“ und „Gefängnisse“ erreichte die Anwesenheit in den Lehrveranstaltungen Havemanns nach Stasi-Einschätzung „eine Rekordhöhe“ (S. 137). Andere Berichte schildern die Bandbreite der Arbeits- und Lebenswelt in der DDR. Das Thema "Sportler" wird mit Blick auf die Olympischen Spiele in Innsbruck und Tokio unter den Bedingungen der gemeinsamen deutschen Mannschaft betrachtet. Das Thema "Gesundheitswesen" steht unter dem Gesichtspunkt des Ärztemangels in der DDR. So wurden etwa 350 Ärzte aus Bulgarien, Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen angeworben. Das Thema "Jugendwerkhöfe" handelt vom wichtigen Bericht 85/64, der die Einweisungspraxis und den geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau sowie andere Einrichtungen mit „schonungsloser Offenheit“ beschrieb. Wohl zu deutlich, denn die Editionsbemerkungen zur Quelle halten fest, dass offenbar die eigentlichen Adressaten der SED-Führung diesen Bericht gar nicht erhielten (S. 47 und S. 127). Spionage, Spekulationsverbrechen, allgemeine Mängel und Facetten von Kriminalität, wie im Bauwesen der DDR, sind Inhalte der Informationen. In mancher Hinsicht schien dabei der DDR-typische Normenzwang sogar erst zu kriminellen Handlungen zu führen, wie im Fall der Benzinabrechnung, die nur nach dem Normverbrauch erfolgen konnte. War man sparsamer gefahren, sahen sich Fahrer offenbar beinahe gezwungen, das überschüssige Benzin unter der Hand zu verkaufen (S. 49 und 171 f.). Hier kann die Quellenedition auch explizit Ansätze für Desiderate der rechts- und wirtschaftshistorischen DDR-Forschung aufzeigen. Dass vor den Vertragsarbeitern aus Vietnam das Thema der Arbeitsmigranten die DDR beschäftigte, zeigt auch ein Bericht über die Schlägerei mit polnischen Vertragsarbeitern des Braunkohlewerkes „Jugend“ bei Tornow aus dem Mai 1964. Dass auch die internationale Solidarität unter dem Alkoholkonsum litt, zeigt dabei ein Bericht über eine Auseinandersetzung zwischen afrikanischen Studenten und FDJ-Angehörigen. Als Ursache für das „ungehörige Verhalten“ eines der Studenten nahmen die um allseitige Aufklärung bemühten zuständigen Stellen an, er stünde „besonders stark unter dem Eindruck der Rassendiskriminierung in Südafrika“ und sei „als Trinker und Schürzenjäger bekannt“ (S. 184 f.).

Bernd Florath sieht insgesamt ein Jahr 1964 „voller Unwägbarkeiten“. Die Quellen zeigen ein ambivalentes Bild der Führungselite und der Staatssicherheit in Anbetracht der ökonomischen Modernisierung und notwendigen Reformen, deren Grenzen es für die Hüter der Parteimacht der SED auszuloten und dann zu verteidigen galt: „All dies schlägt sich in den ostdeutschen Entwicklungen des Jahres 1964 nieder: Flexibilität und Umbruch verkrusteter Verhältnisse, ja mitunter rigides Vorgehen gegen unfähige und unwillige Altkader ebenso wie das permanente Misstrauen gegen Kritiker.“ (S. 55). Und auch die Stasi blieb vorsichtig, beschrieb eher ohne zu werten und änderte zuweilen erst nach der ideologischen Klarstellung durch die Partei ihre Einschätzung. Der vorliegende Band zum Jahr 1964 kann für sich stehen und lässt zugleich auf weitere Editionsbände hoffen.

Zum Rezensenten:
Dr. Heiner Bröckermann, geb. 1966, ist Oberstleutnant und Leiter des Bereiches Grundlagen der Abteilung Bildung, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam.

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