Gutachten zum Diskussionspapier Felix Teuchert

Gutachten zum Diskussionspapier Felix Teuchert, Integration und Religion. Theologische und historische Überlegungen zur Integration der Ostvertriebenen in die evangelische Kirche


Gutachten:
1. Dr. Lydia Koelle

Gutachten zum Diskussionspapier Felix Teuchert, Integration und Religion. Theologische und historische Überlegungen zur Integration der Ostvertriebenen in die evangelische Kirche

Millionen Biografien in Deutschland sind in ihrem Kern von einem Flüchtlingsschicksal geprägt. [...]

Der Handwagen von einst ist das auf dem Mittelmeer treibende Boot von heute.

Andreas Kossert[1]

Der 1986 geborene Autor hat Geschichte und Germanistik studiert. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der interdisziplinären DFG-Forschergruppe „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989“ (Universitäten München, Göttingen, Erfurt). Sein Beitrag „Integration und Religion. Theologische und historische Überlegungen zur Integration der Ostvertriebenen in die evangelische Kirche“ in theologie.geschichte, Bd. 12 (2017)  entstand im Kontext seiner kürzlich eingereichten Dissertation über den „Protestantismus in den Debatten über die Integration der Ostvertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft 1945-1972“.

Flucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 und die gegenwärtige Migrationsproblematik

Teuchert stellt die Haltung der Evangelischen Kirche zu ihren aus den Ostgebieten geflüchteten und vertriebenen Mitgliedern in einen aktuellen Bezug zu den Flüchtlingsdebatten unserer Tage: Religion sei ein wichtiges Thema dieses Diskurses: Gehört der Islam zu Deutschland? Wächst die Angst vor einer „Islamisierung des Abendlandes“? Bildet ein christliches oder ein säkular-aufgeklärtes Selbstverständnis das Fundament unserer Gesellschaft?

Aufschlussreich ist Teucherts Blickwinkel: Erst diese aktuellen Fragen und Infragestellungen leiten das Interesse bei Teucherts Darstellung und Analyse historischer Weichenstellungen der EKD bei der Integration evangelischer Vertriebener aus dem Osten in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zur jüngsten Gegenwart. Erst von hier aus stellt sich die Frage nach der eigenen Kirchengeschichte in der Nachkriegszeit, und nicht, weil Migration und Integrationsprozesse einen selbstverständlichen Teil kirchlicher Identität ausmachen oder diese gar theologisch im protestantischen Selbstverständnis verankert wären. Der Zugang zur Geschichte der Ostvertriebenen in der Evangelischen Kirche geschieht bei Teucherts von Außen, nicht von einer Innenperspektive, nicht aus dem Herzen der Kirche - in dessen Zentrum die Vertriebenen auch niemals waren. Bedarf es also eines äußeren Anlasses, um sich auf die Zeit der schwierigen Eingliederung der Heimatvertriebenen zu besinnen und geschieht dies würdigend oder lediglich funktional, um aus dem Damals für das Heute zu lernen? Dies wäre dann aber im Sinne einer „Nützlichkeitserwägung“ des Themas. Die katholischen Kirchenhistoriker Joachim Köhler und Rainer Bendel sind der Ansicht, dass diese „Nützlichkeitserwägung“ nicht das Hauptmotiv solcher Untersuchungen sein sollte, „vielmehr erscheint die Vertriebenenseelsorge als ein kardinales Thema für die kirchliche Zeitgeschichte in Deutschland, da sich an ihr eine Vielzahl von Entwicklungen und Phänomenen wie in einem Focus sammelt und bricht“[2].

Der als Kind aus Schlesien vertriebene evangelische Kirchenhistoriker Christian-Erdmann Schott (1932 – 2016) spricht in diesem Zusammenhang von einer „gespaltenen Erinnerungskultur“: Er stellt fest, dass es vor allem die Betroffenen selbst sind, die sich mit der Geschichte der Ostvertriebenen in der Evangelischen Kirche auseinandersetzen, als wären nur sie für diesen Teil der (Kirchen-)Geschichte zuständig und verantwortlich. Für Schott ist dies ein Zeichen, dass für die Heimatverbliebenen der Evangelischen Kirche Flucht und Vertreibung ihrer Mitglieder uninteressant bis unerheblich geblieben sind. Als hätte ihre Integration auch ihre Geschichte eingeebnet. Oder - aus der Perspektive der Heimatvertriebenen -, ihre Geschichte ausgelöscht oder sie erneut daraus vertrieben. Schott mahnt an, dass der Beitrag der Vertriebenen endlich, wie es auch schon durch die öffentliche Geschichtsschreibung geschehe, kirchlicherseits anerkannt werde. Denn: „Eine so auffällige Ignoranz ist auf die Dauer nicht hinnehmbar. Sie wirkt wie eine Verlängerung der Ausgrenzung, unter der die Vertriebenen in den Aufnahmegebieten nach dem Krieg häufig zu leiden hatten.“[3]

Was aber ist die Parallele zwischen den ostdeutschen Flüchtlingen und Vertriebenen und den Flüchtlingen, die heute nach Deutschland kommen? Beide waren oder sind vielerorts „die Unerwünschten“[4]. Teuchert erinnert an die Anfänge: Die staatsbürgerliche Integration und die Gleichstellung der deutschen Vertriebenen waren unstrittig, aber diejenigen, die sie in ihrer Mitte aufnehmen sollten, begegneten ihnen mit Vorurteilen, Argwohn, deutlicher Abgrenzung und Abneigung: Es tobten heftige „Interessens- und Verteilungskonflikte“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die krasse Abwertung Osteuropas und seiner Bewohner durch die NS-Propaganda hatte sich in den Seelen und Hirnen der Deutschen festgesetzt. Die Ostdeutschen wurden als „Polacken“ beschimpft[5], man sah in ihnen Fremde und Eindringlinge. Diese Haltung schließt auch nicht die Angehörigen beider christlichen Kirchen aus – aus heutiger Perspektive eine verstörende Tatsache, dass denen, die alles verloren hatten, von ihren Glaubensgeschwistern statt Solidarität und Nächstenliebe oftmals Kälte und Abneigung entgegenschlugen.


Integrationskonflikte vor Ort

Die Integrationskonflikte zeigten sich in der Praxis in besonderer Schärfe, wo unterschiedliche Traditionen und Identitäten in den konkreten evangelischen Gemeinden aufeinandertrafen. Teuchert: „Hier wirkten sich materielle Verteilungskämpfe und Xenophobien im zwischenmenschlichen Miteinander aus. Jeder einzelne Flüchtlingsgottesdienst konnte dabei zum Politikum avancieren“ (FT). Von den Alteingesessenen wurden die Ostvertriebenen als rückständige Gläubige diffamiert; Beispiel ist der Wunsch nach Altarkerzen, den  ca. 3800 lutherische Vertriebene aus Schlesien in der reformierten Kirchengemeinde Rheydt äußerten. Es kam zu Beschwerden bei der „Vereinigung Evangelisch-Lutherischer Kirchen“. Eine lutherische Familie fühlte sich von der Gemeinde „rücksichtslos und schroff“ behandelt und unter ein ihr fremdes Bekenntnis gezwungen. Letztendlich wurde in diesem Konflikt auf hoher Ebene eine Lösung gefunden, und ein ihnen zugesichertes Mitspracherecht der lutherischen Gläubigen verhinderte ihre Abspaltung in eine eigene Bekenntnisgemeinschaft.

Teuchert kommt zu dem Ergebnis: „Insgesamt entzog sich der Integrationsprozess also zumindest partiell der kirchenleitenden und kirchenadministrativen Steuerung und zog Veränderungs- und Anpassungsprozesse auf beiden Seiten nach sich“ (FT). Nach Schott war die Delegation der Flüchtlingsbetreuung an die Landeskirchen „alternativlos die einzige realistische Möglichkeit“[6]. Diese Betreuung hatte Grenzen: Aufnahme und Versorgung der Vertriebenen konnte geleistet werden, aber die Kirche war darüber hinaus nicht in der Lage, „die Fragen des Vertreibungskomplexes anzupacken“[7].

Schott: „Die wichtigste unter den im Voraus nicht bedachten Folgen der Bindung der Flüchtlingsbetreuung an das Territorialprinzip ist die Tatsache, dass die Landeskirchen auf diese Weise fast ohne Gegenleistung zu Gewinnern der Vertreibung wurden. Sie erlebten den größten Zustrom der Geschichte an Mitgliedern und Mitarbeitern, ohne dass sie die Verpflichtung übernehmen mussten, sich im Gegenzug für das zurückgebliebene Erbe der ostdeutschen Kirchen, seine Bewahrung und Pflege verantwortlich zu wissen. Von sich aus haben sie den Drang zur Übernahme einer solchen Verpflichtung nicht verspürt. So wie sie sich auch uninteressiert zeigten an der Herkunft der Vertriebenen, an ihren Traditionen und an ihren Prägungen. Sie räumten den Dazugekommenen Chancen zum Leben und Arbeiten ein, erwarteten aber auch, dass sich die Vertriebenen möglichst geräuschlos mit den neuen Verhältnissen arrangierten und sich in der vorgefundenen landeskirchlichen Provinzialität unauffällig einrichteten.“[8]

Auch von katholischer Seite kommen Köhler und Bendel zu dem Ergebnis, „dass von den Verantwortlichen in der Kirche die Not gar nicht wahrgenommen und an der Wirklichkeit vorbei „pastorisiert“ wurde. Inwieweit ist es den Vertriebenen gelungen, ihre erlebte Grenzsituation und existenziellen Erschütterungen zu artikulieren und die Kirche und Gesellschaft insgesamt für die Grundbefindlichkeiten menschlicher Existenz zu sensibilisieren? [...] Die Vertriebenen haben mit ihrem Schicksal deutlich gemacht, daß die Welt aus den Fugen geraten ist.“[9]


Ekklesiologische Überlegungen der Ostkirchen nur als Kompensation ihres Machtverlustes?

Teuchert hat in seinen Ausführungen sehr deutlich gemacht, dass bei der Aufnahme der evangelischen Vertriebenen durch die westdeutschen Landeskirchen theologische oder ekklesiologische Fragen kaum oder nur sehr unzureichend in den Blick kamen. Er äußert zudem die Vermutung, dass die ekklesiologischen Überlegungen der Ostkirchenvertreter weniger einem echten theologischen Interesse entstammten, als vielmehr die eigene Daseinsberechtigung untermauern und eine schwächere Machtposition gegenüber den westlichen Landeskirchen kompensieren sollte. Demzufolge wurde sie dann auch von der Gegenseite ignoriert. Teuchert nennt dies eine „theologische Überformung“. Die Bekenntnisprobleme waren oftmals nur inszeniert, um sie taktisch als „Abgrenzungs- und Identitätsressource“ (FT) einzusetzen.[10]

Nach meiner Ansicht wäre zu analysieren, ob es zwischen den heimatvertriebenen und den heimatverbliebenen Theologen eine Verständigung und Diskussion darüber gegeben hat, wie der Heimatverlust theologisch einzuordnen sei. Offensichtlich kam es hier zu keinem theologischen Dialog oder Diskurs, der in irgendeiner Weise eine für die Aufnahmepraxis verbindliche Richtschnur aufgezeigt hätte. Von einer kirchensoziologischen Perspektive aus wäre zu fragen, ob und in welcher Hinsicht die Art der konflikthaften Integration von Millionen evangelischer und katholischer Vertriebenen in die westdeutschen christlichen Gemeinden zu einer Erosion des Glaubens und einem Bedeutungsverlust theologischer und religiöser Inhalte beigetragen hat. Und, eine Möglichkeit auf die geforderte Anpassung an die religiösen Traditionen und Bekenntnisse der aufnehmenden Gemeinde zu reagieren, ist eben auch die Totalverweigerung der Integration im stillen Rückzug oder als Glaubensabsage. Viele der evangelischen Vertriebenen wandten sich enttäuscht von der Kirche ab und den Landsmannschaften zu. Schott: „Hier wurden sie als das wahrgenommen, was sie waren: Verwundete, traumatisierte Menschen. Hier fanden sie die Wärme und die Aufmerksamkeit, die sie in der Kirche nicht gefunden haben.“[11]


Der/das Fremde als interessengeleitete Konstruktion.
Langfristige Perspektiven in der heutigen Flüchtlingsfrage?

Zu Recht weist Teuchert darauf hin, dass es – bei aller Unterschiedlichkeit der geflohenen oder vertriebenen Personengruppen – Ähnlichkeiten im ablehnenden „Krisendiskurs“ (FT) gibt. Auch die Heimatvertriebenen, obwohl deutsche Staatsbürger, Getaufte und der deutschen Sprache mächtig, wurden von ihren Landsleuten zunächst als fremd und unerwünscht abgewehrt. So entlarve sich diese Abgrenzung als ein bewusstes Ent-fremden des Anderen, um den  „Kampf um Ressourcen, Stellung und Einfluss“ zu legitimieren. Dies gelte erst recht für die heutige Flüchtlingsproblematik. Ebenso würden sich die innerkirchlichen Kämpfe als weltliche Auseinandersetzungen entlarven, die „konfessionalisiert“ wurden.

Teucherts abschließende Frage richtet sich nach der Relevanz von Religion in Integrationsdebatten: Religion sei ambivalent, da einerseits identitäts- und gemeinschaftsstiftend, andererseits ist sie ein Spielfeld der Abgrenzung.

Am Ende bringt Teuchert die „langfristige Dimension“ ins Spiel. Im Rückblick auf die Integration der Heimatvertriebenen in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft habe „das religiöse Moment“  immer mehr „an Bedeutung verloren“ (FT). Wobei nicht klar wird, was Teuchert unter dem Begriff „Religion“ meint: religiöse Praxis, Bekenntnisdebatten, theologische Überlegungen oder allgemein das individuelle Selbstverständnis von konfessioneller Herkunft und Gruppenzugehörigkeit?

Die Einschätzung trifft zu, dass am Ende nicht die Kirchen und die christliche Brüderlichkeit die Vertriebenen integriert haben, sondern diese sich selbst durch Aufbauwillen und Tatkraft beim Wirtschaftsaufschwung. Sie selbst waren es, die sich auf diese Weise gesellschaftliche Anerkennung und Einflussnahme verschafften.

Teuchert schließt seinen Beitrag mit der zuversichtlichen Haltung, dass auch ein konflikthafter Beginn von Integrationsprozessen mit allen Ängsten und Fremdheitserfahrungen, wie bei der Integration der Heimatvertriebenen, sich „in der historischen Distanz relativieren“ (FT) werde. Und das könnte zu mehr Gelassenheit bei der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte führen. Auch hier könnte sich, das ist wohl die Ansicht Teucherts, ein „pragmatischer Modus vivendi“ finden lassen, wenn die Integration der Flüchtlinge von heute in den bundesrepublikanischen Arbeitsmarkt wirksam werde. Das würde den kulturellen und religiösen Unterschieden und Debatten die krisenhafte Schärfe nehmen.[12]


Versteinerte Herzen? Oder: Der Preis des Gelingens.
Kritische Anmerkungen zur Integration als wirtschaftliche Teilhabe


Wenn man die – zunächst rigide betriebene - Eingliederung der Ostflüchtlinge und Heimatvertriebenen als „gelungen“ bezeichnen will, muss man auch den Preis nennen, den sie gekostet hat: Den Preis erzwungener Verdrängung auf Seiten der Heimatvertriebenen und den Preis kollektiver Verdrängung auf Seiten der Heimatverbliebenen. Das Wirtschaftswunder, an dem die Vertriebenen tatkräftig mitwirkten, hat die psychischen Kosten von Flucht, Vertreibung und „Eingliederung“ nicht aufgewogen; die Nachkommen tragen noch heute daran.[13] Dies ist der Grund, warum Schott eindrücklich Würdigung und Wertschätzung der Vertriebenen einfordert wie eine späte Gerechtigkeit. Auf diesem Hintergrund greift deshalb auch die Einschätzung, die Vertriebenen von damals würden die Geflüchteten von heute selbstverständlich mit offenen Armen als ihre Schicksalsgenossen aufnehmen oder müssten es sogar, zu kurz. Wem nicht gegeben wurde, dem fällt das Teilen schwer, weil es an den einmal erlittenen Verlust erinnert und seinen mühsamen Ausgleich.

Wobei hilft die Erkenntnis der bundesrepublikanischen Vergangenheit der ersten Stunde in der  gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte? Die psychischen Dynamiken der Gesellschaft einer großen Welle von Migranten gegenüber wiederzuerkennen, die als Eindringlinge verstanden werden: der Widerwille, das – gegen die eigene Trauer - hart Erarbeitete zu teilen; das Krisenbewusstsein, das zunächst nicht den langfristigen Nutzen der Migration für die deutsche Gesellschaft sehen kann,  wie Innovationskraft und Bereicherung durch andere Herkunftsgeschichten und Kulturen. In diesem Widerwillen und diesem Krisenbewusstsein bricht die unabgeschlossene Trauer sich ihre Bahn. Diesen Dynamiken muss Raum und Aufmerksamkeit gegeben werden, damit im Prozess der Eingliederung die Befindlichkeiten beider Gruppen berücksichtigt werden und damit Integration Entwicklungen auf beiden Seiten freisetzen kann.

Was bei den innerkirchlichen Kämpfen um Macht und um die protestantische Leitkultur der jeweiligen Landeskirchen auf der Strecke blieb, war die Seelsorge an den Traumatisierten.

Schott – als ein Betroffener – beurteilt das so, dass die Traumatisierung der Vertriebenen „eigentlich immer schon gesehen“ wurde. „Was man aber wohl nicht wirklich in Rechnung gestellt hat, ist die Tatsache, dass diese seelischen Verwundungen professionell psychologisch und seelsorgerisch nie wirklich bearbeitet und aufgearbeitet worden sind. Diese zeitlebens mitgeschleppten Traumata haben dazu geführt, dass sich viele Vertriebene in einer besonderen Opfermentalitiät einlebten, einschlossen, verschlossen und sich so den Weg zu einer inneren Befreiung auch verstellten. In diesem Zustand bleibender Verhärtung war es ihnen nicht möglich, von sich aus konstruktiv nach außen zu wirken und eine neue, positiv zukunftsorientierte Beziehung zu den früheren Heimatgebieten aufzubauen und mitzugestalten. In der Regel waren es erst die Kinder der Vertriebenen, die zukunftsweisende Schritte auf die östlichen Nachbarn hin tun konnten.“[14]

Schott benennt das Versagen, gibt aber auch zu bedenken, dass es damals nicht genug Psychologen gegeben hätte, die zu dieser Aufarbeitung hätten Hilfestellung geben können. Davon abgesehen, waren derartige Behandlungen noch eher selten, kostspielig und hatten etwas Anrüchiges.

Wie hätten die Kirchen das damals leisten können? Waren sie nicht selbst zu verhaftet im Verdrängen der jüngsten Vergangenheit und ihrer Rolle im Dritten Reich?

Das Versagen der Nachkriegskirche liegt für Schott ganz klar darin, dass sie sich selbst als  seelsorgerische Begleiterin durch ihr „Theologumenon vom Gericht Gottes“ bei den Vertriebenen unmöglich gemacht hat. Die 1945 in Treysa versammelten Kirchenführer haben die Vertreibung aus den Ostgebieten als Strafgericht Gottes gedeutet. Schott: „Aber dass es da einen Unterschied gibt zwischen denen, die durch das Gericht hindurch alles behalten und denen, die nichts behalten durften, wird nicht thematisiert. Ja, es scheint gar nicht wahrgenommen worden zu sein. [...] Insofern hat Treysa den hoch problematischen Anfang eines hochproblematischen Weges gesetzt.“[15] Die Unterschiede zwischen den Heimatvertriebenen und den Heimatverbliebenen wurde in Treysa weder theologisch noch rechtlich hinterfragt: „[...] diese Deutung der jüngeren deutschen Vergangenheit war eine geschichtstheologische Antwort auf die Verbrechen der Nazis. Sie konnte aber keinem Vertriebenen erklären, warum gerade er und seine Heimatfreunde den Zorn Gottes tragen mussten und nicht alle Deutschen oder wenigstens die tatsächlichen Verbrecher unter den Nazis.“[16] Schott sieht das „einzige seelsorgerische Instrument, das die Kirche auch damals hatte, [...] die Vertriebenen ihrer uneingeschränkten Solidarität zu versichern und sie in ihrem Leid zu trösten.“[17] Als alles in Trümmern lag, wäre die seelische Not allseits und so groß gewesen, dass niemand – auch die Kirche nicht – in der Lage gewesen wäre, Trost und Zuwendung zu geben.

Wurde das seelsorgerische Scheitern der beiden christlichen Kirchen wirklich schon – theologisch - aufgearbeitet und nicht nur kirchenhistorisch diagnostiziert?[18] Und welchen Beitrag können sie heute leisten für eine langfristige Integration der Flüchtlinge - jenseits ihres bloßen Funktionierens im Wirtschaftsland Deutschland?[19] Wäre es nicht ihre Aufgabe, für derartige Verwundungen zu sensibilisieren?

Teuchert sieht in der pragmatischen Lösung von damals die hoffnungsvolle Lösung der Flüchtlingsproblematik von heute: Der arbeitende Flüchtling wird – wie einst - der von der aufnehmenden Gesellschaft Akzeptierte sein. Damit wird „Eingliederung“ zu einem rein wirtschaftlichen Faktor degradiert und nicht als vollgültige Teilhabe an der Gesellschaft definiert. Wirtschaftliche Eingliederung würde zum eigentlichen Maßstab gelungener Integration, ja, zu ihrem vornehmsten Ziel. Die Gefahr bei dieser Engführung sehe ich darin, dass solcher Art „Eingliederung“ mit einer die Identitäten und Wesensarten einebnenden Funktion zusammenfällt. Kulturelle und religiöse Vielfalten und Identitäten als auch unbearbeitete seelische Verletzungen aus Fluchterfahrungen erschienen in dieser Perspektive und in diesem Prozess nur noch als Störfaktoren reibungsloser Abläufe, die so geräuschlos arbeiten sollen wie versteinerte Herzen.


Zur Gutachterin:
Dr. Lydia Koelle, geb. 1962, Tochter einer aus Oberschlesien geflüchteten Mutter; Theologin und Literaturwissenschaftlerin; Referentin an der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz. Sie veröffentlichte in theologie.geschichte, Bd. 11 (2016): Lydia Koelle, Offene Wunden - Muss es eine Vertriebenen-Seelsorge an den Nachkommen geben? Überlegungen im Anschluss an die Veranstaltungsreihe „Der lange Schatten des Krieges. Frauenerfahrungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ im Frühjahr 2015.

Anmerkungen:
[1] Andreas Kossert, Böhmen, Pommern, Syrien. Wer heute gegen Einwanderung auf die Straße geht, verdrängt die eigene Migrationsgeschichte. In der Nachkriegszeit hat das Land Millionen Vertriebene aus dem Osten aufgenommen – und von ihnen profitiert. In: Die Zeit, Nr. 5, vom 29. Januar 2015, S. 16.
[2] Joachim Köhler / Rainer Bendel, Bewährte Rezepte oder unkonventionelle Experimente? Zur Seelsorge an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Anfragen an die und Impulse für die Katholizismusforschung. In: Siegerin in Trümmern. Die Rolle der katholischen Kirche in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Hg. v. Joachim Köhler / Damian van Melis, Stuttgart-Berlin-Köln 1998, 199-228, S. 225. „An den Vertriebenen bricht sich die Problematik des Katholizismus der unmittelbaren Nachkriegszeit und wird das unsichere Agieren in einer entscheidenden Epoche manifest“ (S. 213).
[3] Christian-Erdmann Schott, Alternativen zum Territorialprinzip? Fragen an die Eingliederung der Vertriebenen in der evangelischen Kirche. In: Josef Pilvousek, Elisabeth Preuß (Hg.), Aufnahme – Integration – Beheimatung. Flüchtlinge, Vertriebene und  die „Ankunftsgesellschaft“, Berlin 2009, S. 105-115: S. 115. - Indem die Landeskirchen die Ostkirchen ausgrenzen, stellten sie sich selbst infrage, mahnte damals der baltendeutsche Theologe Helmut Girgensohn, Gründungsvorsitzender des Ostkirchenausschusses. Die Ostkirche sei die „Kirche unter dem Kreuz“, sie habe sich als „echte Lebensgemeinschaft erwiesen“. Teuchert: „Demnach müsse sich die 'gesamte Kirche', die sich ja ohnehin in einem Institutionalisierungs- und Konstituierungsprozess befand, vom Vertreibungsgeschehen angesprochen fühlen“ (FT).
[4] Vgl. die Festschrift „60 Jahre Evangelische Kirche in Hessen und Nassau – EKHN 1947-2007. Dort die Kapitel-Überschrift „1945. Die Unerwünschten. Integration der Flüchtlinge“.
[5] Vgl. Andreas Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, S. 43ff.; Volker Ullrich, Keine Landsleute, sondern Fremde. Andreas Kossert zerstört den Mythos von der erfolgreichen Integration der Vertriebenen im Nachkriegsdeutschland. In: Die Zeit, Nr. 23 vom 29. 5. 2008,  S. 59.
[6] Schott, Alternativen zum Territorialprinzip?, S. 108.
[7] Schott, Alternativen zum Territorialprinzip?, S. 108.
[8] Schott, Alternativen zum Territorialprinzip?, S. 108.
[9] Köhler / Bendel, Bewährte Rezepte oder unkonventionelle Experimente?, S. 223-224.
[10] In einer anderen Publikation hat sich Teuchert damit auseinandergesetzt, welche Funktion und Wirkung theologische Argumente bei den Fragen nach Heimat, dem Recht auf Heimat und der Schuldfrage haben, die sich im Kontext des Vertreibungsgeschehens stellen: Felix Teuchert, „Wo Heimat verloren geht, da droht Zerfall.“ Der Protestantismus in den Debatten über die Integration der Ostvertriebenen in der westdeutschen Gesellschaft, Unveröffentlichte Diss. Univ. München 2016.
[11] Christian-Erdmann Schott, Wandlungen in der Wahrnehmung. Die Evangelische Kirche und ihre Vertriebenen. In: Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945. Hg. v. Rainer Bendel, Köln-Weimar-Wien 2008, S. 147-162, 150. - Die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“, verabschiedet am 5. August 1950, machte die Landsmannschaften moralisch, politisch und kulturell zu Instanzen, die politisch beachtet wurden.
[12] Eine ähnlich optimistische Sicht bei Kossert: Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten seien zu „Motoren einer ungeahnten Modernisierung“ geworden; Deutschland hätte mit der Integration von Millionen Vertriebenen „eine ungeheure kulturelle und soziale Herausforderung gestemmt. All jene hingegen, die damals deren Scheitern voraussagten, konnten nicht weiter danebenliegen.“ (Kossert, Böhmen, Pommern, Syrien, S. 16.)
[13] Vgl. Lydia Koelle, Offene Wunden - Muss es eine Vertriebenen-Seelsorge an den Nachkommen geben? Überlegungen im Anschluss an die Veranstaltungsreihe „Der lange Schatten des Krieges. Frauenerfahrungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ im Frühjahr 2015. In: theologie.geschichte, Bd. 11 (2016); Lydia Koelle, Kriegsversehrte. Die Dritte Generation in der Gegenwartsliteratur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 135 (2016) S. 607-633; Lydia Koelle, Schuld als Aufgabe. Deutsche Theologie der dritten Nach-Shoah-Generation und ihre Vergebungsdiskurse. In: Julia Enxing (Hg.), Schuld. Theologische Erkundungen eines unbequemen Phänomens, Ostfildern 2015, 262-275.
[14] Schott, Wandlungen in der Wahrnehmung, S. 152-153.
[15] Schott, Wandlungen in der Wahrnehmung, S. 149.
[16] Schott, Wandlungen in der Wahrnehmung, S. 153. - Die gleiche theologische Deutung der Vertreibung bei der katholischen Kirche: vgl. Köhler / Bendel, Bewährte Rezepte oder unkonventionelle Experimente?, S. 220f.
[17] Schott, Wandlungen in der Wahrnehmung, S. 153.
[18] Schott macht deutlich, dass er das Thema „EKD und ihre Vertriebenen“ noch längst nicht für abgeschlossen halte. Von Seiten der Landeskirche gäbe es wenig Interesse, sich mit der Integration der evangelischen Vertriebenen zu befassen – im Gegensatz zu den Vertriebenen selbst, die sich auf Treffen, Tagungen und in ihrer Erinnerungsliteratur sehr intensiv mit dem Thema auseinandersetzen. „Die Art, wie das geschieht, zeigt, dass bei den Vertriebenen Traumata wirksam sind, die auch durch die Zeit nicht geheilt werden konnten“ (Schott, Wandlungen in der Wahrnehmung, S. 162).
[19] Als Beispiel sei genannt die geplante Fachtagung „Migration – Religion - Gender – was trägt die Pastoral zur Integration bei?“ (Katholische Akademie Berlin, 10.-12. 9. 2018; Konzeption: Arbeitsstellen für Frauen- und für Männerseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz); weitere Informationen: www.frauenseelsorge.de.

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