Franz Walter, Rebellen, Propheten und Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert

Franz Walter, Rebellen, Propheten und Tabubrecher. Politische Aufbrüche und Ernüchterungen im 20. und 21. Jahrhundert, Göttingen 2017, Vandenhoeck & Ruprecht, 398 S.,  35 €, ISBN 978-3-525-30185-2


Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter hat in diesem Buch eine Reihe von Artikeln zusammengestellt und überarbeitet, die zuvor meist in der Zeitschrift INDES erschienen sind[1].
Da er aufgrund einer schweren Krankheit in seiner Arbeitskraft bis auf weiteres eingeschränkt ist, versucht er damit, eine Quintessenz seines wissenschaftlichen Arbeitens zu liefern. Das Ergebnis ist beeindruckend und intellektuell inspirierend.
Es geht Walter um „soziale Bewegungen und politische Ideen […], um die langen Entwicklungen im Sozialismus, Liberalismus, Konservatismus gleichermaßen.“ Er richtet seinen Blick „auf einzelne Figuren und Repräsentanten, ebenso auf kollektive gesellschaftliche Strukturen und immer wieder auf Sinnhorizonte, Einstellungen, geistige Klimata im Wandel der Zeit und ihre zähe Beharrungskraft über alle Wechsel von spektakulären Ereignissen und institutionellen Transformationen hinweg.“ (S. 7) Er wirft aber auch immer wieder einen Blick auf die positiven Möglichkeiten kleiner Kadergruppen und geistig homogener Zirkel, die “in besonderen historischen Situationen ungewöhnliche Leistungen hervorgebracht” hätten. (S. 12)
Walter liefert in seinem Buch eine Fülle an biographischen Miniaturen politisch agierender Personen des 20. und 21. Jahrhunderts, so von den Sozialdemokraten August Bebel, Hermann Heller, Friedrich Ebert, Otto Wels, Hermann Müller, Philipp Scheidemann und Willy Brandt, den Liberalen Friedrich Naumann, Karl Hermann Flach, Jürgen Möllemann und Guido Westerwelle, den Konservativen Heinrich Brüning und Karl Carstens, dem Schweizer Populisten Christoph Blocher und dem Göttinger „Mescalero“ Klaus Hülbrock, aber auch von den Idolen der Jugend: Eberhard Koebel alias tusk, Stefan George, Leonard Nelson, Gustav Wyneken, Rudolf Steiner und Herbert Marcuse.  In den biographischen Skizzen und gesellschaftlichen Strukturanalysen kommen auch Aspekte der Geschichte sozialer Bewegungen zur Sprache, die lange verdrängt wurden, so der sexuelle Missbrauch als integraler Bestandteil der Reformpädagogik eines Gustav Wyneken in Wickersdorf (S. 56) und die sich daran anschließende Propaganda zur Abschaffung der Strafrechtsartikel zum Kindesmissbrauch in den linkslibertären Milieus der 1960er bis 1980er Jahren. (S. 159ff.)
Auch weist Walter nachdrücklich darauf hin, dass die seit den 1970er Jahren von Christoph Blocher und der Schweizer Volkspartei praktizierte Ausländerhetze die SVP zur Partei mit dem stärksten Arbeiteranhang gemacht hat. Auch über Anhängerschar der Nationalsozialisten gibt er sich keinen Illusionen hin: "Für junge Arbeiter bot der Nationalsozialismus einige Chancen, die zuvor für sie nicht existiert hatten."  (S. 286f.)

Eine besonders wertvolle, auf Quellenmaterial basierende Detailstudie ist die Skizze über die Geschichte der sächsischen Kleinstadt Freital. Diese war in der Weimarer Republik die sozialdemokratische Vorzeigehochburg schlechthin. Der Anteil an der Wählerschaft lag 1921 für die sozialdemokratischen Parteien bei Zweidrittel aller Stimmen. Den Rückhalt, den die Sozialdemokratie genoss, vermochte auch der NS-Staat nicht zu brechen. Der Niedergang begann mit der Stalinisierung der SED seit 1947. Heute ist die SPD in Freital bedeutungslos. Die sächsische Kleinstadt ist die Hochburg des Rechtsradikalismus im Dresdener Raum (S. 297ff.)

Walter erinnert auch daran, dass die Politik der kalkulierten Verstöße gegen Reglements und Codes, die zum politischen Standardrepertoire rechtsradikaler Parteien gehört,  nach der Jahrtausendwende zunächst von den Repräsentanten des deutschen Liberalismus, Jürgen Möllemann und Guido Westerwelle, wieder salonfähig gemacht worden ist. Die beiden FDP-Politiker führten  gezielte antisemitische Attacken gegen führende deutsche Juden und den Staat Israel aus, um – wie Christoph Blocher in der Schweiz - in die Rolle des populistischen Volkstribuns zu schlüpfen und die FPD zu einer 20 % Partei zu machen. (S. 20 und 148ff.)

Das besondere Augenmerk des Sozialdemokraten Walter liegt in seinen Studien zum 20. und 21. Jahrhudert aber auf der Sozialdemokratie und ihrem Niedergang. Er diagnostiziert die Erosion des sozialdemokratischen Milieus seit den 1970er Jahren, parallel zum Aufkommen der neuen sozialen Bewegungen und der Grünen.  (S. 288) Einschneidender für die Entwicklung der SPD sei jedoch die Hartz IV-Gesetzgebung mit ihrer Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau gewesen. In den Jahren der rot-grünen Regierung Schröder stieg die Armutsquote von 2000 bis 2005 von 12% auf 18%, während gleichzeitig durch die Deregulierung des Finanzmarktes die Hedgefonds besonders gefördert wurden. (S. 292f.; vgl auch S. 327-340) Die SPD verlor in diesen Jahren nicht nur ihre grundsätzliche Orientierung, sondern auch unwiderruflich die Hälfte ihres traditionellen Wählerpotentials.

Angesichts der vielen instruktiven Detailstudien biographischer und struktureller Art über die sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts wären repräsentative Studien über das nationalsozialistische und kommunistische Milieu eine wertvolle Erweiterung des Untersuchungsfokus gewesen. Auch die Auseinandersetzung der sozialistischen, liberalen und konservativen Milieus und ihrer Repräsentanten mit dem Nationalsozialismus, aber auch dem Realsozialismus ist m.E. unterbelichtet. Bedauerlich ist auch, dass das Buch kein Sach- und Personenregister hat. Zur Erschließung des Inhalts wäre das sehr nützlich gewesen.

Zum Rezensenten:
Dr. August H. Leugers-Scherzberg, geb. 1958, Historiker und katholischer Theologe, Herausgeber von theologie.geschichte.

Anmerkung:
[1] Leider gibt er die Ersterscheinungsorte in der Regel nicht an. Lediglich Erstdrucke der Texte über Marcuse und Heinrich Hellwege sind nachgewiesen. Vgl. S. 94 und  S. 215.

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