theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Johann Anselm Steiger (Hg.), 500 Jahre Theologie in Hamburg. Hamburg als Zentrum christlicher Theologie und Kultur zwischen Tradition und Zukunft, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2005, (Arbeiten zur Kirchengeschichte 95) 504 Seiten, 128,- EUR, ISBN: 3-11-018529-6

In geistesgeschichtlicher, insbesondere theologiegeschichtlicher Hinsicht sind 50 Jahre eine verhältnismäßig kurze Zeitspanne. Aber der Jubiläumsband zum fünfzigjährigen Bestehen der theologischen Fakultät an der Universität Hamburg kann auf eine respektable Vorgeschichte von fünf Jahrhunderten zurück blicken. Als Ertrag einer Vorlesungsreihe vom Wintersemester 2004/05, veranstaltet vom Fachbereich Evangelische Theologie, macht der Sammelband Stationen und Themen dieser Vorgeschichte historisch anschaulich. Den teils mühsamen und verschlungenen Pfaden bis zur Fakultätsgründung selbst geht der Beitrag "Die späte erste Fakultät" von Rainer Hering nach (S. 225-242).

Lange vor der Universitäts- und Fakultätsgründung 1919 bzw. 1954/55, als Hamburg ob seiner lutherisch konfessionellen Geschlossenheit noch als das "nordische Zion" Achtung genoß (S. 135), wurde es zugleich je länger je mehr zum Zentrum und "Umschlagplatz" aufklärerisch-deistischen Denkens (S. 124). Fraglos ist die frühneuzeitliche Aufklärung die herausragende Epoche Hamburger Theologie- und Geistesgeschichte. Das macht vorliegender Sammelband einmal mehr bewußt. Den Beiträgen zu Johann Albert Fabricius (Ralph Häfner), Barthold Hinrich Brockes (Andreas Grossmann), Johann Christoph Wolf, (Martin Mulsow) Hermann Samuel Reimarus (Johann Anselm Steiger) und Gotthold Ephraim Lessing (Gerhard Freund) gelingt eine überaus facettenreiche und zugleich gedrängte Darstellung dieser Jahrzehnte Hamburger Geisteslebens, verortet am 1613 gegründeten Akademischen Gymnasium, einer auf die artes-Fächer spezialisierten Hochschule von enormer wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit (S. 35-152). Daß man die Beiträge mit gespannter Aufmerksamkeit liest, hängt mit der Aktualität der Sache zusammen, die da verhandelt wird. Lesend wird man Zeugin eines sich vollziehenden Paradigmenwechsels, bei dem ganz im Geist der Aufklärung das Historische als unverzichtbare Dimension allen Theologisierens bewußt wird. Nichts anderes als dies ist die Triebkraft hinter der immensen Gelehrsamkeit, mit der die vorgestellten Geistesgrößen der frühneuzeitlichen Aufklärung in Hamburg Religionswissenschaft, Orientalistik, Hebraistik, Literaturwissenschaft, Philologie betrieben bis hin zur radikal-deistischen Bibelkritik des Reimarus, der als einer der ersten in der Geschichte der neueren Theologie Ernst macht "mit der Entdeckung der christlichen Offenbarungsreligion als einer geschichtlichen Religion" (S. 138). Es wird einmal mehr deutlich, daß es hinter die damals bezogenen Positionen im Gegenüber von Dogma und Geschichte, Vernunft und Glaube kein Zurück mehr gibt und geben kann. Wenn dieser Tage der Titel erscheint "Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts" [1], dann geht es, wenn auch von veränderten Voraussetzungen des Argumentierens her, im Kern um den nämlichen Konflikt, den Lessing durch die schubweise Veröffentlichung der Schriften des Reimarus im sogenannten Fragmentenstreit gezielt anzettelte und mit den Hütern der lutherischen Orthodoxie, voran dem Hauptpastor Johann Melchior Goeze, austrug (S. 133-152).

Mit dem Beitrag zu Johann Hinrich Wichern (S. 155-188) setzt ein merklicher Themenwechsel ein hin zu einer in der kirchlich-pastoralen Praxis sich bewährenden Theologie. Soziologisch-methodisch analysiert Hans-Martin Gutmann das erweckungstheologisch motivierte soziale Wirken Wicherns, zeigt seine zeitbedingt fragwürdigen Ambivalenzen und seine positiven Perspektiven auf (S. 186-188). Als Vorläuferinnen aus dem 19. Jahrhundert für die heute in der evangelischen Kirche selbstverständliche Gleichberechtigung der Frauen (Frauenordination u.a.) kommen im Beitrag von Inge Mager mit Amalie Sieveking und Elise Averdieck zwei autodidaktische Laientheologinnen zu Wort, die im Rahmen ihres sozialen pädagogischen Wirkens auch theologisch-schriftstellerisch tätig wurden (S. 189-223).

Als Hamburger Besonderheit ragt die dort im 20. Jahrhundert betriebene Missionswissenschaft heraus (S. 245-314). Einleitend konstruiert Theodor Ahrens schon mit der Schrift De Regno Christi (1597) in Philipp Nicolai einen frühen Vorläufer dieser Disziplin (zum pastoraltheologischen Wirken Nicolais s. den Beitrag von Anne M. Steinmeier S. 17-33). Neben Carl Mirbt und Hans Jochen Margull wird Walter Freytag als namhafter Vertreter der Hamburger Missionstheologie des letzten Jahrhunderts gewürdigt. Nach Gründung der Fakultät war er seit 1954 der erste Lehrstuhlinhaber für Missionswissenschaft. Sein späterer Nachfolger im Amt, Theodor Ahrens, verteidigt Freytags missionstheologisches Denken gegen die seit langem entstandene Kontroverse unbeirrt (S. 261-287). Dieser apologetisch orientierten Darstellung gelingt es aber keineswegs, die von Rainer Hering und Werner Ustorf aufgrund ihres Quellenstudiums konstatierten Positionen Freytags, insbesondere während des "Dritten Reiches", zu entkräften [2]. Der Herausgeber hätte hier die Chance ergreifen sollen, die Kontroverse durch eng aufeinander bezogene Beiträge der drei Kontrahenten (Ahrens, Hering, Ustorf) auf ein wissenschaftliches Niveau zu bringen, bei dem die Beiträge erst nach Prüfung der Zitate und der Lieferung aller Belege, unter Wahrung der Logik in der Beweisführung und nicht zuletzt durch den respektvollen und sachlichen Ton Aufnahme in den Sammelband gefunden hätten. An all dem mangelt es Ahrens' Beitrag.

Der Gründungsdekan der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Helmut Thielicke, weit über Hamburg hinaus bekannt und wirkend, ist mit zwei Beiträgen vertreten. Aus dem immensen literarisch-theologischen Opus Thielickes greift Michael Moxter das Thema der Anthropologie heraus (S. 317-334); Christian Herrmann stellt die komplexen Argumentationsgänge um die sogenannte Kompromißethik vor (S. 335-359), zwei Einzelaspekte, die repräsentativ und zentral sind für das theologische Denkens Thielickes. Über den Weg von Darstellung und Kritik machen die beiden Autoren die Zeitgebundenheit seiner Positionen bewußt, verweisen aber auch auf seine fortwirkende Präsenz in der Gegenwartsdiskussion.

Nicht die systemtragende, sondern die nonkonformistische Seite theologisch-kirchlicher Realität nimmt Rainer Hering in den Blick, wenn er in seinem Beitrag "Theologie am Rande der Kirche" (S. 361-397) fünf theologische Außenseiter aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts vorstellt, der bekannteste unter ihnen wegen seiner umfangreichen publizistischen Tätigkeit vermutlich Paul Schütz. Alle fünf verbindet, daß sie von verschiedenen Voraussetzungen und Zielsetzungen her sich entfernt haben von kirchlich-institutionalisierten Positionen des Glaubens und der Theologie, d.h. sie haben den Boden des Bekenntnisses der lutherischen Kirche verlassen. Hering geht es darüber hinaus um die Klarstellung, von welchem kirchenpolitischen und theologischen Hintergrund her die Abweichler nicht integriert, sondern mit allen Mitteln an den Rand gedrängt und womöglich totgeschwiegen wurden.

Reflexionen zur Thematik der Theologie als Universitätswissenschaft in den heutigen Gegebenheiten von Jörg Dierken (S. 399-419) bringen den Spannungsbogen zu Ende, der mit "Der Ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung" des Reformators Johannes Bugenhagen von 1529 anhebt (Traugott Koch, S. 1-15), dann Themenbereiche, Akzentverschiebungen und Paradigmenwechsel von theologisch kirchlicher Relevanz aus fünf Jahrhunderten vor Augen führt und schließlich im Heute ankommt. Das Verzeichnis von 280 Dissertationen für den Zeitraum von 50 Jahren, das den Band abschließt, soll die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit des Fachbereichs Evangelische Theologie an der Universität Hamburg dokumentieren und den Unmut verständlich machen, den die Autorinnen und Autoren immer wieder einfließen lassen über die hanseatische Universitäts- und Wissenschaftspolitik (s. S. 36, 78, 211, 241f, 401f), die es nicht gut meint mit dem Fortbestand des Fachbereichs und sich lieber von "einem ökonomistischen Nützlichkeitsglauben" (S. 401) leiten läßt.


[1] Siegfried Zimmer, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben? Klärung eines Konflikts, Göttingen 2007.

[2] Vgl. Rainer Hering, Die Missionswissenschaft in Hamburg 1909-1959, in: ders., Theologische Wissenschaft und "Drittes Reich". Studien zur Hamburger Wissenschafts- und Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert, Pfaffenweiler 1990, S. 35-85; ders., Theologie im Spannungsfeld von Kirche und Staat. Die Entstehung der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Universität Hamburg 1895 bis 1955, Berlin/Hamburg 1992; Werner Ustorf, Sailing on the Next Tide. Missions, Missiology, and the Third Reich, Frankfurt a.M. u.a. 2000; Erhard Kamphausen/Werner Ustorf, Deutsche Missionsgeschichtsschreibung. Anamnese einer Fehlentwicklung, in: Verkündigung und Forschung 2 (1977), S. 2-57.


Zur Rezensentin:
Antonia Leugers

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