Gutachten zu Julia Enxing / Stephan Jütte, Sünde. Zur theologischen Relevanz eines strapazierten Deutungsbegriffs

Gutachten zu Julia Enxing / Stephan Jütte, Sünde. Zur theologischen Relevanz eines strapazierten Deutungsbegriffs


Gutachten:
Apl. Prof. Dr. Florian Bruckmann, Eichstätt

Augustinus, wir haben ein Problem. Trotz aller natürlichen Vorgaben versteht sich der moderne abendländische Mensch als Kulturwesen, das seine Individualität und Freiheit liebt und pflegt. Das ist mehr als verständlich, mussten die Menschenrechte und die Religionsfreiheit doch lange Zeit hart erkämpft werden und auch heute können nicht alle, sondern nur wenigen Menschen von ihnen Gebrauch machen, während andere sich nach ihnen sehnen, ohne dass sie ihnen gewährt werden. Vor dem Hintergrund der modernen Freiheitsgeschichte hat sich auch das theologische Subjektverständnis geändert, was nicht nur zu einer veritablen Krise des Beichtsakramentes, sondern vor allem für dessen Grundlage gesorgt hat: Was um alles in der Welt ist Sünde? Oft scheint es (zumindest in der theologischen Theoriebildung) so zu sein, dass wir Menschen nicht mehr unsere Abständigkeit und Differenz zu Gott erfahren, sondern uns in unserem Freiheitsvollzug Gott so nahe spüren, dass dieser Freiheitsvollzug gleichsam zur Verwirklichung und Erfahrung der Gottebenbildlichkeit des Menschen wird. Was aber passiert, wenn Freiheit nicht mit Wahrheit und Liebe korreliert, sondern genau in das Gegenteil umschlägt, in Hass und Ablehnung? Ist ein Mensch z. B. für einen Mord, den er begangen hat, verantwortlich? Nur wenn er in vollem Bewusstsein, mit Planung und unter Absehung der Folgen gehandelt hat, kann er für sein Tun verantwortlich sein. Der Abwägungsprozess, ob jemand voll schuldfähig ist, ist juristisch mehr als kompliziert und dabei auch noch hoch umstritten, weil die Frage aufkommt, ob man einer Person und der ihr nicht zu nehmenden Würde gerecht wird, wenn man sie als Opfer ihrer Zustände versteht und nicht als willentlich frei handelndes Subjekt. Die Theologie steht hier vor der gravierenden Frage, ob eine Sünde als Freiheitsakt einer zurechnungsfähigen Person verstanden werden muss, was dann aber eine implizite Bejahung Gottes als der diese Freiheit ermöglichenden Instanz beinhalten würde, oder ob Sünde gerade eine Pervertierung von Freiheit ist, damit aber im Letzten nicht mehr dem Subjekt zugerechnet werden kann, weil dieses dann nicht in Freiheit sündigt. Lange Zeit hat christliche Theologie an diesem Punkt auf die Erbsündenlehre zurückgegriffen, wie sie von Augustinus entwickelt und spätestens mit Luther und seiner Deutung der Rechtfertigungslehre zum Weltthema geworden ist. In diesem Rahmen ist klar, dass jeder menschliche Freiheitsvollzug nicht so frei ist wie ein göttlicher Freiheitsvollzug, sondern bis in die letzte Tiefe hinein von einer gewissen Sündhaftigkeit durchdrungen ist, die dem Menschen qua Menschsein mitgegeben ist. Wenn aber jeder Freiheitsvollzug von einer gewissen Sündhaftigkeit geprägt ist, dann gilt dies auch für den Glaubensakt, und Glaube kann nicht Sünde sein; allein die Gnade kann den Menschen rechtfertigen, aber kommt es dann hier zu einer Hinwendung des Menschen zu Gott auf Augenhöhe, oder wendet Gott den Menschen zu sich, so dass er ihn letztlich erlösen wird, auch wenn dieser das gar nicht will?

Vor dem Hintergrund des so beschriebenen debattentheoretischen und kulturgeschichtlichen Hintergrundes nehmen sich die katholische Theologin Julia Enxing und der evangelisch-reformierte Theologe Stephan Jütte des Sündenbegriffs an. Alltagssprachlich wirkt der Begriff Sünde eher verharmlosend, wohingegen der Begriff Schuld auf einem hohen Verantwortungsbewusstsein aufruht. Aus der Begriffstradition und -uneindeutigkeit geht für die Autorin und den Autor hervor, dass christlicherseits das Freiheitsmoment zu beachten ist und man nicht von einem Determinismus ausgehen darf; das beinhaltet, dass Freiheit die Beziehung zwischen den Subjekten Gott und Mensch beschreibt, wohingegen Sünde das Verfehlen dieser Beziehung  ausdrückt. Daraus folgt für die Autorin und den Autor, dass ein und dasselbe Geschehen sowohl säkular als auch religiös gedeutet werden kann und nur im zweiten Deutungsmuster als Sünde erfahren wird. Ein Mord bleibt zwar ein Mord, für den jemand Verantwortung tragen muss, aber nur in der religiösen Deutung kann er als Sünde wahrgenommen werden. Hier wäre m. E. zu fragen, ob ein Mord nicht auch aus dem Phänomen heraus von demjenigen als Verfehlung gegen eine den anderen Menschen noch übersteigende Größe verstanden wird, der für ihn nicht den Deutungsbegriff Sünde zur Verfügung hat. In juridischer Sicht machen die Autorin und der Autor die Tendenz aus, dass Täter_innen pathologisiert werden, weil es für seine / ihre Tat keine nachvollziehbaren Gründe gibt oder deren Existenz geleugnet wird. Gerade in dieser Art der Pathologisierung wird die eigentliche Gefahr gesehen, weil dann kein Subjekt mehr verantwortlich ist und sündig wird, sondern eine Tat nur als Ausdruck einer Krankheit verstanden wird, die im Strafvollzug therapiert werden soll.  Der Blick richtet sich hier allerdings allein auf den Täter / die Täterin und man vergibt sich die Chance, den Opfern oder Überlebenden gerecht werden zu können.  Ob man deshalb mit der Autorin und dem Autor von „einer Infantilisierung oder Invalidisierung von Schuld“ sprechen muss, bleibt dahingestellt; auch ein therapierender Strafvollzug wird bei der Personenwürde des Täters / der Täterin ansetzen müssen, um Erfolg zu haben. Sollte hier nicht aus reiner Vorsichtsmaßnahme gegen eine sich hart gebende rechte Kritik des Strafvollzugs Stellung bezogen werden, damit man sich nicht falsche Diskurspartner_innen in der Kritik eines zu laschen, linken, therapeutischen Strafvollzugs einhandelt? Vielleicht könnte auch ein Blick auf Michel Foucaults Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses zur Klärung beitragen. Sehr klar arbeiten die Autorin und der Autor heraus, dass die genannte Pathologisierung einer Tat dazu dient, die unverletzliche Personenwürde des Täters / der Täterin herauszustellen und sie machen darauf aufmerksam, dass der theologische Sündenbegriff an dieser Stelle sehr viel hilfreicher zu sein scheint als der säkulare Begriff der Schuld. Vor Gott erkennt sich der Sünder / die Sünderin zwar als solche, weiß aber gleichzeitig, dass Gott ihn und sie anders gedacht und gemacht hat und deshalb nicht mit der Sündenbrille, sondern mit der Barmherzigkeitsbrille auf den Menschen schaut. Damit geht einher, dass Gott in diesen Konzeptionen keinerlei Schuld an der Sünde trägt und diese ihm nicht zugeschrieben werden kann. Um darüber hinaus nicht dem bekannten Problem nach dem eigentlichen Personkern[1] und der diesen verstellenden, nur äußeren und dann letztlich nichtssagenden historischen Taten im ganz konkreten Hier und Jetzt zu verfallen, sollte die Frage nach der Sünde also sehr viel mehr im Hinblick auf die Sozialdimension des menschlichen Handelns gelenkt werden. Im Endeffekt schafft es der Sündenbegriff dergestalt, dass die Sünde weder zum Wesen Gottes noch zum Wesen des Menschen gehört und deshalb der Mensch als er / sie selbst und das heißt als einer / eine, dem / der vergeben wurde, bei Gott zu sein. Sehr eindrücklich betonen die Autorin und der Autor, dass gerade im Hinblick auf den Sündenbegriff die Einheit der Gottes- und Nächstenliebe gedacht werden muss, so dass eine Verfehlung nie nur die Beziehung des Täters / der Täterin zu Gott verletzt, sondern damit zugleich auch immer die Beziehung zu den Mitmenschen und zur Schöpfung. Deutlich ist dabei die Absicht der Autorin und des Autors zu sehen, (Selbst)Entschuldungsmechanismen zu enttarnen und sich für die „Haftbarmachung und Zurechenbarkeit einer Tat“ stark zu machen: Nur einem starken und freien Subjekt kann man eine Tat anrechnen oder vorhalten. Während der säkulare Schuldbegriff Freiheit aber nur als Ziel kennt, auf das der potentiell freie Mensch hin therapiert werden soll, weiß der religiöse Sündenbegriff um die Erwählung des Menschen durch Gott: Der Mensch ist bereits frei, er ist geliebt und als solcher kann der Mensch Gott erkennen, auch wenn er selbst Sünder_in ist. Äußerst interessant erscheint nun die Erkenntnis, dass der Schuldbegriff die der Handlung zugrunde liegende Freiheit nur postuliert, wohingegen sie dem Sündenbegriff inhäriert, damit aber unter Projektionsverdacht gerät. Es zeigt sich, dass Schuld und Sünde auf „einer unterschiedlichen Theorieebene operieren“, so dass sich hier die Analogie des Böckenförde-Diktums aufdrängt: Was die eine Theorieebene nicht hervorbringen, sondern nur unter Rekurs auf die andere postulieren kann, das kann die andere nur glauben, ohne es zu wissen. In diesem Sinne wird deutlich, dass sich die Autorin und der Autor mit der Sündenthematik keinem theologisch randständigen Thema zugewandt haben. Sie haben vielmehr einen Glutkern der Theologie für den Diskurs mit der (post_säkularen) (Spät)Moderne aufgeschlossen und fordern ihre Leserinnen und Leser zum Nachdenken über das eigene Menschenbild heraus.

Zum Gutachter:
Apl. Prof. Dr. Florian Bruckmann ist außerordentlicher Professor der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichtätt-Ingolstadt.

Anmerkungen:
[1] Im Text: „das Eigentliche des Menschen“; „ausdrücken, dass der Mensch ‚eigentlich‘ anderes möchte“.

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