Manfred Gailus/Hartmut Lehmann (Hg.), Nationalprotestantische Mentalitäten. Konturen, Entwicklungslinien und Umbrüche eines Weltbildes (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 214). Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 2005. 472 Seiten, Ln., 66,– EUR, ISBN: 3-525-35866-0
Der vorliegende Band enthält außer der Einleitung von Hartmut Lehmann (7-15) sechzehn Beiträge zum Thema Kontinuität und Diskontinuität nationalprotestantischer Mentalitäten über die Epochen und Umbrüche der deutschen Geschichte hinweg. Sie sind vier Themenkreisen zugeordnet. Im einleitenden Abschnitt „Politische Emphasen und Sinnkrisen (17 – 78) skizziert Franz Becker differenziert und abgewogen „Protestantische Euphorien“ im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1870/71, 1914 und 1933 (19-44). Pointierter hätte vielleicht die Nutzung des Nationalismus im Zuge der traditionellen Aufgabe der protestantischen Staatskirchentümer, an der sozialen und politischen Integration der Bevölkerung mitzuwirken, hervorgehoben werden können. Den genannten Daten korrespondieren die Zusammenbrüche von 1918 und 1945. Frank-Michael Kuhlemann charakterisiert sie als „Protestantische Traumatisierungen“ (45-78). Aufschlussreich ist seine These, dass führende protestantische Kreise den Verlust ihrer Kulturhoheit als persönlichen Verlust und individuelle Verletzung begriffen. Vertreter der liberalen Theologie hätten mit der Niederlage 1918/19 leichter fertig werden können als die Konservativen, weil sie der Reformunwilligkeit der alten Führungskreise die Schuld zuweisen konnten. 1945 mussten sich auch diese Gruppen dem Thema der Schuld stellen, wenn sie mit dem Trauma der umfassenden Niederlage fertig werden wollten.
Fünf Artikel sind unter der Überschrift „Mentalitäten und Diskurse“ subsumiert (79-162). Matthias Pöhlmanns Überblick behandelt das bunte Spektrum der Weltanschauungen in der Zeit der Weimarer Republik mitsamt der zunehmenden Konzentration auf den Begriff des Volkes (81-102). Günter Brakelmann bietet Anmerkungen zur protestantischen Kriegstheologie 1870/71 und 1914-1918 (103-114). Einen eigenen deutschen „Kriegsprotestantismus“ konzipiert Doris L. Bergen (115-131). Kennzeichnend für ihn sei eine von 1914 bis 1945 andauernde Fokussierung auf Kampf und Krieg gewesen. Dabei könne die durchgängige Betonung von Macht und Stärke nicht verbergen, dass Unsicherheit, Schwäche und Angst dominierten. Zumindest einseitig ist allerdings die Behauptung, dass sich die Militärgeistlichen im Zweiten Weltkrieg mit Hitlers Politik identifizierten, mit Einschluss des Vernichtungskrieges im Osten. Sicherlich zutreffend ist dagegen die Feststellung, dass die zunehmend bedrängte militärische Lage Deutschlands dazu verführte, besonders radikale und schrille Töne anzuschlagen. Schließlich verweist Frau Berger auf den über jene historischen Situationen hinausweisenden Trend, in Kriegszeiten sämtliche verfügbaren geistigen und emotionalen Ressourcen für die eigene Sache zu mobilisieren. Lucian Hölscher steuert sodann Hinweise auf Säkularisierungsängste in der Neuzeit bei (133-147), Rolf Schieder informiert über die Erwartungen und Enttäuschungen im Protestantismus im Blick auf die Nutzung des Radios für kirchliche Interessen in der Zeit von 1923 bis 1939 (149-162).
Sechs wiederum sehr unterschiedliche Artikel sind unter der Rubrik „Protestantische Lebensläufe“ zusammengefasst (163-375). Sehr ausführlich, breit und bis in viele Einzelheiten hinein entfaltet Thomas Kaufmann neben den theologisch-politischen Gemeinsamkeiten vor allem die beträchtlichen Unterschiede der Theologenfamlilien Seeberg und Harnack (165-222). Die beiden führenden Persönlichkeiten waren Vertreter des Nationalprotestantismus. Aber sie bezogen in diesem Umfeld ausgesprochen antagonistische Positionen. Manfred Gailus plädiert dafür, die Deutschen Christen als eine eigene gewichtige Gruppe für den Machterhalt des Nationalsozialismus zu begreifen (223-261). Dabei unterscheidet er zwei Gruppen: Einerseits evangelische Christen, die sich gleichzeitig intensiv dem Nationalsozialismus zuwandten und andererseits Nationalsozialisten, die Christen bleiben wollten. Beide Positionen waren allerdings keineswegs Charakteristika der Deutschen Christen. Siegfried Hermle stellt danach die Haltung der Bischöfe Marahrens, Wurm und Meiser zu den „nichtarischen Christen“ dar (263-306). Peter Noss entdeckt „Theologische Leuchttürme“ im Blick auf die Zuwendung zu jenen Menschen (307-342). Die Einengung der Betrachtung auf vier Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche – Martin Albertz, Barth, Bonhoeffer und Hans Ehrenberg – wird den historischen Zusammenhängen allerdings kaum gerecht: Zumindest Albertz und Ehrenberg waren konservative nationale Protestanten, und neben ihnen gab es durchaus Persönlichkeiten, die aufgrund anderer theologischer und politischer Überzeugungen für Juden und „Judenchristen“ eintraten. Widerlegt ist im übrigen die hier erneut vertretene Auffassung, Bonhoeffer habe bei dem „Unternehmen 7“ zur Rettung von „christlichen Nichtariern“ eine Rolle gespielt. Dass er 1938 von den „Umsturzplänen“ der Kreise um Stauffenberg und Canaris (!) wusste (333 f.), erscheint insofern pikant, als zumindest Stauffenberg damals noch keineswegs an ein solches Vorgehen dachte! Über mutige Frauen im Kirchenkampf informiert anschließend Dagmar Herbrecht (343-359), und John S. Conway zeigt, dass beide Kirchen der Vernichtung der Juden insofern unbeteiligt gegenüber standen, als sie diese Menschen nicht zu denen zählten, für die sie Verantwortung trugen.
Von „Finalen Mentalitätsabbrüchen“ ist zuletzt die Rede (377-466). Im ersten der drei Beiträge dieses Abschnitts beschreibt Clemens Vollnhals materialreich und dicht die „Erblast des Nationalprotestantismus“ (379-431). Detlef Pollack bestreitet dagegen entschieden die von Vollnhals dargelegte Kontinuität und votiert stattdessen dafür, die von vielen Protestanten nach 1945 betonte Notwendigkeit der Umkehr und des Neuanfangs ernst zu nehmen. Erst das Verhalten der Siegermächte habe den nationalprotestantisch getönten Widerspruch hervorgerufen. Die zunächst nicht nur kirchenpolitisch, sondern darüber hinaus wirkenden Arbeiten von Wilhelm Niemöller zur „Geschichte des Kirchenkampfes“ behandelt schließlich Robert P. Erickson (433-451). Der jüngere Bruder Martin Niemöllers propagierte eine Sicht der jüngsten Vergangenheit, die ausschließlich von der Bekennenden Kirche als der Kirche Jesu Christi handelte. Von der Verflochtenheit der Bekennenden Kirche in den Nationalsozialismus, ihrer Begeisterung für Hitler, der Zustimmung zu den außenpolitischen Zielen des Regimes und der Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Juden war dabei ebenso wenig die Rede wie von Wilhelm Niemöllers eigener Vergangenheit als Mitglied der NSDAP seit 1923.
Die Bedeutung dieses Bandes liegt nicht zuletzt in den hier dokumentierten Unklarheiten und Widersprüchen. Von Nationalprotestantismus und nationalprotestantischen Mentalitäten ist durchgängig die Rede. Dabei soll es sich sogar um eine hundert Jahre andauernde „babylonische Gefangenschaft“ gehandelt haben (Lehmann, 9; nach Gailus). Aber eine Definition dieser Größe fehlt. Die diesbezüglichen Hinweise z. B. von Becker werden in den folgenden Beiträgen nicht aufgenommen oder weiter reflektiert. Dadurch entsteht der Eindruck, als handele es sich hierbei um ein eindeutiges Phänomen. Welche Eindeutigkeit besitzt aber ein Sachverhalt, dem man Harnack und die chauvinistischen Prediger des Ersten Weltkriegs ebenso zuordnen kann wie die verschiedenen Richtungen der Deutschen Christen, der Bekennenden Kirche und nicht zuletzt die Ratsmitglieder der EKD und Vertreter vieler Kirchenleitungen nach 1945?
Der deutsche Nationalismus entwickelte sich bekanntlich im frühen 19. Jahrhundert, im Widerspruch gegen den Nationalismus und die Ideale der Französischen Revolution. Die deutsche Variante trug insofern von Anfang an ein ambivalentes Gesicht. Es mischten sich aufgeklärte christliche Frömmigkeit und liberales Freiheitsstreben mit antimodernen, restaurativen Zügen. Gingen sämtliche progressiven, positiven Elemente dieses Nationalismus im Zuge der Zeit und in der Verbindung mit dem Protestantismus verloren? Es fällt auf, dass in keinem der hier vorliegenden Beiträge z. B. von der Bedeutung des Protestantismus für den national-konservativen Widerstand gegen den Nationalsozialismus die Rede ist; oder von seinem Beitrag für die Entstehung der CDU und insofern für den Aufbau der Bundesrepublik.
Geboten erscheint sodann der Blick über die deutschen Verhältnisse hinaus: Nicht um die Problematik der eigenen Geschichte zu relativieren, sondern um zu begreifen, welche geistigen, religiösen und kulturellen Kräfte es dort gab und gibt, die das Überwuchern eines überbordenden Nationalprotestantismus wie in Deutschland behinderten.
Selbstverständlich bestand im deutschen Nationalprotestantismus durchgängig die Gefahr, dass die christliche Substanz verloren ging. Man sollte es sich jedoch auch hier nicht zu leicht machen. In großer Offenheit erklärte Martin Niemöller am 5. Juni 1945 in Neapel in seinem berühmt –berüchtigten Interview, dass er sich aus dem KZ zur Marine gemeldet habe, um seinem Vaterland zu dienen. Er habe nicht den Nationalsozialismus bekämpft, sondern dessen christentumsfeindliche Handlungen und kirchenpolitischen Übergriffe. „My soul belonged to God. But I must render into Caesar things that are Caesar’s, which is my whole physical life.” (Zit. bei C. Vollnhals, Evangelische Kirche und Entnazifizierung 1945 – 1949, München 1989, 13). Das war bekanntlich nicht Niemöllers letztes Wort zum Thema. Aber dieses Votum belegt doch, dass ein massiver Nationalprotestantismus das unerschrockene Eintreten für die Freiheit der evangelischen Kirche und den christlichen Glauben gewiss einengen, aber nicht ausschließen musste.
Bestand jene nationalprotestantische Mentalität über 1945 hinaus weiter – nach Vollnhals bis 1950, nach Lehmann sogar bis 1970? Vollnhals behauptet das, wie berichtet, Pollack widerspricht ihm vehement. Über die besseren Argumente verfügt aufs Ganze gesehen m. E. Vollnhals. Gegen Pollack ist auch einzuwenden, dass sich Mentalitäten nicht unter äußerem Druck zu ändern pflegen, sondern nur langsam, wenn die sie konstituierenden Bedingungen seit längerem weggefallen sind. Deshalb tritt ein solcher Wandel zumeist bei einem Generationswechsel zutage. Darin ist Pollack allerdings zuzustimmen, dass es sich bei den Verhaltensweisen des Protestantismus nach 1945 nicht um ein einfaches Fortschreiben der Positionen und Überzeugungen der Vergangenheit handelte, sondern um einen komplizierten, „widersprüchlichen Prozess, in welchem sich Gefühle der Niedergeschlagenheit und Scham, der Reue und der Selbstbehauptung“ mischten (460). Der Hinweis auf die Notwendigkeit solcher Differenzierungen dürfte für die Interpretation des nationalen Protestantismus in sämtlichen hier behandelten Epochen angemessen sein.
Eine Anmerkung zum Schluss: Nicht wenige Artikel in diesem Band erwecken den Eindruck, als handele es sich beim Nationalismus um ein primär negatives Phänomen. Diese Einstellung entspricht einem in Deutschland nicht zufällig weit verbreiteten, wenn nicht sogar als selbstverständlich angesehenen Empfinden. Die befreiende Wirkung, die der Nationalismus im Gefolge der Französischen Revolution, aber doch durchaus auch im Kontext des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert auszuüben vermochte, scheint völlig geschwunden. Dafür gibt es selbstverständlich viele gute Gründe. Bemerkenswert ist jedoch, dass die befreienden Elemente des Nationalismus sowohl in den Ländern der „Dritten Welt“ als auch von der Bevölkerung im ehemaligen Ostblock erlebt wurden und werden. Handelt es sich dabei um eine in unserer Region glücklicherweise überwundene Rückständigkeit? Oder haben wir es beim Nationalismus auch mit einer gewichtigen, positiv die Zukunft gestaltenden Kraft zu tun? In seinem Europabuch spricht Geert Mak angesichts der voranschreitenden Globalisierung von der Sorge der „Preisgabe des nationalen Zusammenhangs, in dem sich über Jahrhunderte Kultur, Wirtschaft, Rechtsstaat und Demokratie entwickelt haben“. Und er zitiert Max Kohnstamm, einen der Gründungsväter der Europäischen Union: „Der Markt wird jetzt europäisch reguliert, aber Mitmenschlichkeit wird in erster Linie national organisiert.“ (G. Mak, In Europa. Reise durch das 20. Jahrhundert. 2. Aufl. München 2005, 892). Um die soziale Demokratie im globalen Zeitalter zu festigen, plädiert der Amerikaner David Held für die Verteidigung eines „kulturellen Nationalismus“, bilde dieser doch jetzt und in Zukunft „einen wichtigen Baustein für die Identität des Menschen“ (D. Held, Soziale Demokratie im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2007, 149). Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang besser von Patriotismus als von Nationalismus reden? Wie auch immer, insgesamt muss man der Feststellung von Hartmut Lehmann voll und ganz zustimmen: „Viele der Probleme, die mit der Thematik von Kontinuität und Diskontinuität im Denken und Handeln des national orientierten deutschen Protestantismus zusammenhängen, sind noch nicht genügend erforscht, auch noch nicht ausreichend analysiert worden.“ (10)
Zum Rezensenten:
Martin Greschat
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