Julia Maria Erber-Schropp, Schuld und Strafe. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung des Schuldprinzips

Julia Maria Erber-Schropp, Schuld und Strafe. Eine strafrechtsphilosophische Untersuchung des Schuldprinzips (Perspektiven der Ethik 9), Tübingen 2016, Mohr-Siebeck, 210 S., 49 €, ISBN 978-3-16-153993-0


Worum es der Autorin in ihrer rechtsphilosophischen Studie geht, das schreibt sie gleich zu Beginn mit aller nur wünschenswerten Klarheit, nämlich um eine Analyse und Verteidigung des strafrechtlichen Schuldprinzips. Quasi als Material hierzu dienen ihr „zwei Debatten …, die ineinandergreifen. Zunächst stellt sich die übergeordnete Frage nach der Legitimation der Institution Strafe … Zur Diskussion steht in diesem Kontext das zugrundeliegende Konzept der strafrechtlichen Schuld: Was bedeutet strafrechtliche Schuld und ist diese zur Begründung der Strafe tragfähig? Ist der Schuldausgleich ein angemessener Strafzweck oder gibt es Strafzwecke, die eine überzeugendere Legitimation von Strafe leisten? … Neben der Diskussion um die Straftheorien fordert des Weiteren die Willensfreiheitsproblematik das strafrechtliche Schuldprinzip heraus. Ist ein Schuldstrafrecht wirklich zu rechtfertigen, wenn die Freiheit des Willens noch immer – aktuell vermehrt auch durch den Rekurs auf Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften – in Frage gestellt wird?“ (S. 2-3)

Das erste Problem, die Frage nach der Rolle des Schuldprinzips im Kontext der Begründung der Institution Strafe, wird im umfangreichen zweiten Kapitel bearbeitet; im dritten, fast ebenso langen Kapitel, wird das Problem analysiert, ob das Schuldprinzip noch vertretbar ist, wenn der Determinismus recht hat oder umgekehrt, ob das strafrechtliche Schuldprinzip nicht doch den Indeterminismus voraussetzt. Diese beiden Kapitel sind das Hauptstück der Arbeit (ca. 150 Seiten). Kapitel 1 bietet einen knappen aber informierenden Überblick über den Gang der Darstellung (S. 1-10); Kapitel 5 (S. 183-186) enthält eine lesenswerte Zusammenfassung der Analyse. Über den schwierigen Umgang der Rechtspraxis mit dem Schuldprinzip berichtet die Autorin im kurzen Kapitel 4 (S. 165-182); für die Würdigung der Arbeit spielt dieses Kapitel (ebenso wie die Kapitel 1 und 5) aber keine große Rolle.

Wenden wir uns dem Hauptstück, den Kapiteln 2 und 3 zu und beginnen mit der Frage nach der Rolle des Schuldprinzips im Kontext der Strafbegründung (Kapitel 2, S. 10-87).

Die (hoffentlich) einigermaßen logische Rekonstruktion des Argumentationsverlaufs in diesem Kapitel ist, wenn der Rezensent sich nicht mit einer mehr oder weniger trivialen Paraphrase begnügt, doch einigermaßen schwierig. Meine Analyse folgt nicht unbedingt dem Gang der Darstellung – ich möchte aber doch hoffen, den Kern der Sache richtig verstanden zu haben. Also versuchen wir’s!

Die Autorin startet, indem sie die beiden wichtigsten Rechtsfolgen des Strafgesetzes, die Strafe (§§ 38, 40, 46 StGB) und die Maßregeln der Besserung und Sicherung (§§ 61-73 StGB) als institutionelles Faktum notiert (S. 1, 22, 26, u. ö.)

Wie eingangs zitiert, lauten nunmehr die Fragen: (i) Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dem Schuldprinzip und der Legitimation der Institution Strafe? und – selbstredend –: (ii) welche Rolle spielt das Schuldprinzip im Kontext des Maßregelrechts – obwohl dieser Punkt in der kleinen anfänglichen Systematik nicht erwähnt wurde; dies aber nur en passant.

Um die Rolle des Schuldprinzips im Kontext der Strafbegründung herauszuarbeiten (das Hauptargument formuliert sie erst S. 21), holt die Autorin weit aus (S. 10-20). Sie folgt zunächst der traditionellen Gliederung in absolute und relative Strafbegründungstheorien; (später, auf S.19, 20, wird diese „klassische Gegenüberstellung“ immerhin ein wenig kritisiert). Wie zu erwarten, werden die Theorien Kants und Hegels als der exponiertesten Vertretern der Vergeltungstheorie ausführlich und sorgfältig beschrieben (S. 14-19). Die Darstellung entspricht im Wesentlichen der herrschenden Lehre in der Rechtsphilosophie und der Strafrechtsdogmatik.

Auch die verschiedenen Varianten der Präventionstheorie (positive, negative Generalprävention; negative und positive Spezialprävention) werden detailgenau beschrieben (S. 10-14). Auch diese Beschreibung entspricht der herrschenden Lehre in der strafrechtlichen (Lehrbuch-)Literatur.

Anschließend muss die Frage gestellt werden, welche Rolle die Darstellung dieser unendlichen Geschichte (S. 11) in der Argumentation der Autorin spielt. Werden nun die einzelnen Theorien kritisch gewürdigt und eine – gleichgültig ob präventive oder retributive – als die vorzugswürdige Theorie ausgewiesen? Das ist nicht der Fall. Die Autorin verknüpft vielmehr diesen Streit mit dem Schuldprinzip. Das geht so: Erstens werden sämtliche Präventionstheorien jetzt ganz ausgeblendet (warum sie dann überhaupt dargestellt wurden, bleibt ein Rätsel). Zweitens und pointiert wird an dieser Stelle (die Verbindung wird aber später auf S. 37 ff. wieder aufgelöst) das Schuldprinzip und das Vergeltungsprinzip – sagen wir – identifiziert! Dieser kardinale Punkt muss mit einem Zitat belegt werden. Die Autorin schreibt: „Das strafrechtliche Schuldprinzip wird als Element der Vergeltungslehre betrachtet, da es die wesentlichen Charakteristika des Vergeltungsdenkens aufweist. Es blickt (‚zurück’) auf die Schuld an der begangenen Tat und betrachtet Strafe als Ausgleich der Schuld. Das Vergeltungsprinzip definiert den Ausgleich als Zweck der Strafe, das Schuldprinzip präzisiert, wo der Ausgleich anzusetzen hat: bei der Schuld des Täters.“ (S. 21; diese These wird noch mehrfach wiederholt, z. B. S. 36 und S. 41.)

Das ist also die Antwort auf die erste Frage (genauer: auf den ersten Teil der ersten Frage) „was bedeutet strafrechtliche Schuld und ist diese zur Begründung der Institution Strafe tragfähig?“ (S. 2)

Ergänzend muss, an die oben erwähnte Zweispurigkeit des Strafrechts anknüpfend, die Frage nach der Rolle des Schuldprinzips im Maßregelrecht angeschlossen werden. Obwohl die Frage (und natürlich die Antwort) eigentlich trivial ist, widmet ihr die Autorin doch einige Aufmerksamkeit (S. 21-24, S. 26-28 und S. 57-61). Strafe setzt Schuld voraus: nulla poena sine culpa (S. 1, 24, 186). Dieses (Fundamental-)Prinzip habe in unserer Rechtsordnung Verfassungsrang (S. 1). Dagegen knüpft das Maßregelrecht die Maßregel an die Sozialgefährlichkeit des Täters an (S. 26). Das ist völlig unstreitig. Daraus folgert die Autorin zu Recht, dass der Schuldgedanke zum Maßregelrecht sich „indifferent“ (S. 27) verhält oder gar ganz „unerheblich“ (S. 28) sei. Offenbar ist die Dichotomie zwischen Schuld und Maßregel (die Autorin bezeichnet diese auch als Sicherheits-, Präventions- oder Prognoserecht) doch nicht so eindeutig. Es sieht so aus, als müsse man das Verhältnis von Schuld und Prävention als offene Frage betrachten: „Wie stehen Schuldausgleich und Präventionsgedanke zueinander?“ Hierzu gibt die Autorin keine abschließende Antwort, sondern so etwas wie einen rechtspolitischen Appell. (S. 28) Das Maßregelrecht stellt für die Autorin eine ernsthafte Bedrohung des liberalen Schuldstrafrechts dar (besonders deutlich wird dieser Gedanke S. 57-61 ausgedrückt). Plädiert die Autorin deshalb für eine Abschaffung des Maßregelrechtes? Das ist nicht der Fall. Maßregeln sind, so auch ihre resignierende Haltung, als „ultima ratio“ (S. 61) wohl unverzichtbar. Weitere Einzelheiten können offenbleiben.

Der analytische Teil des zweiten Kapitels ist damit im Wesentlichen abgeschlossen. Es folgt eine leidenschaftliche Verteidigung des Schuldprinzips. Skizzieren wir zunächst die Verteidigungsstrategie. Das Schuldprinzip muss gegen zwei massive Angriffe verteidigt werden: (i) Einmal gegen die Kritik am Vergeltungsprinzip und damit gleichzeitig, weil das Schuld- und Vergeltungsprinzip nach Ansicht der Autorin identisch sind, gegen die implizite (aber auch explizite) Kritik am Schuldprinzip selbst. (ii) Zum anderen gegen die eingangs referierte, variantenreiche Präventionstheorie, die ihrer „Logik“ nach, so die Ansicht der Autorin, mit dem Schuldprinzip kollidierten und – radikal zu Ende gedacht – sogar „die Frage nach der Schuld des Täters überflüssig machen“. (S. 3)

Starten wir mit der Kritik am Vergeltungs- und Schuldprinzip (S. 31-37) und der Replik der Autorin hierzu.

Die Autorin intendiert, wie sie selbst schreibt (S. 31), keine vollständige, umfassende Auseinandersetzung mit den Kritikern des Vergeltungsprinzips (implizit auch des Schuldprinzips). Die Kritik primär am Vergeltungsprinzip (und damit sekundär und implizit auch am Schuldprinzip) fasst sie wie folgt zusammen (S. 31-33): Das Vergeltungsprinzip sei ein atavistisches (Herkunft aus dem Talionsprinzip, S. 36) und vor allem irrationales Prinzip. Die Betonung liegt auf Letzterem. Irrational sei der Anspruch der Vergeltungstheorie die „Institution Strafe“ damit zu rechtfertigen, „dass sie einen Ausgleich für das begangene Verbrechen darstelle …“ (S. 33) Wie soll es möglich sein, dass die Sequenz zweier Übel (Straftat und Strafe) sich in ein Gut verwandelt? – so die rhetorisch eindringliche Frage der Kritiker.

Analog dazu wird auch „das Schuldprinzip als irrationales Prinzip betrachtet“. (S. 32) Nach dem Schuldprinzip rechtfertigt sich die Strafe ja ebenfalls als Ausgleich für die Schuld des Täters. Das Problem, was der Schlüsselausdruck „Ausgleich“ bedeute, bleibe in diesem Zusammenhang gänzlich ungelöst (S. 32). (Radikale) Kritiker behaupten weiter, dass die Schuld eines Täters weder messbar (S. 32) - was sie aber sein müsste, damit das Äquivalenzprinzip funktioniert - noch beweisbar sei, was unschwer aus dem Streit um die Willensfreiheit folge (S. 33, 34) und folgern daraus, das Schuldprinzip durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu ersetzen (S. 62-64).

Soweit zur (konzisen) Kritik am Vergeltungs- und Schuldprinzip. Was antwortet die Autorin ihren Kritikern? Das ist leider gar nicht so leicht zu sagen. Was das Vergeltungsprinzip anbelangt, so hat die Autorin gegen das Irrationalismusargument direkt kein Gegenargument formuliert (ich bitte den Leser selbst die S. 33 sorgfältig zu lesen). Ich vermute, die Autorin strebt eine (indirekte) Lösung dieses Problems in einem größeren Zusammenhang an (S. 36, Nr. 2), in einer der sog. Vereinigungstheorien zur Begründung der institutionellen Sanktionspraxis (S. 65-84). Dazu später mehr.

Und wie lautet die Replik auf die Irrationalität des Schuldprinzips? Die ist in der Tat recht originell. Das Schuldprinzip wird aus dem scheinbar „unauflösliche(n) Zusammenhang“ (S. 36) mit dem Vergeltungsprinzip herausgelöst und neu definiert. In der neuen Fassung spielt das Schuldprinzip bei der Begründung der Institution Strafe keine Rolle mehr, obwohl es nolens volens immer noch ein „Element der Vergeltungslehre ist“ (S. 65) und bleibt, sondern bei der Bemessung der Sanktion(shöhe). Apodiktisch wird dann der Irrationalitätsvorwurf abgewiesen. Nunmehr gilt: Das Schuldprinzip „stellt ein rationales Prinzip dar, welches bei der Bemessung von Strafe eine Verhältnismäßigkeit von begangenem Unrecht und Strafe gewährleistet“. (S. 65) Indem die Autorin den Entwicklungsprozess von der Erfolgshaftung zur Schuldhaftung nachzeichnet (S. 37-42) begründet sie die Ablösung des Schuldprinzips vom Vergeltungsprinzip (insbesondere natürlich vom rohen Talionsprinzip) und gleichzeitig seinen neuen Status als Proportionalitätsprinzip, als „Postulat der Restriktion und Proportion“. (S. 41)

Wenigstens eine Rückfrage muss an dieser Stelle formuliert werden: Bekommt die ganze Argumentation durch diese Strategie nicht einen, wie soll man sagen, dissonanten Ton? Wie auch immer: Dieses neue Schuldprinzip vorausgesetzt, werden die Kritiker zurückgewiesen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip biete keine Alternative zum Schuldprinzip. Bei der Bemessung der Sanktion nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip spiele eine Größe keine Rolle, die aber durch das Schuldprinzip gewährleistet wird; es bringt „eine feste … Größe in die Bemessung mit ein: die persönliche Schuld“. (S. 63) Die spontane Reaktion, die persönliche Schuld sei nicht messbar, weist die Autorin mit dem Argument zurück, die persönliche Schuld habe etwas mit dem „Dafür-können der Täterin oder des Täters“ (S. 64) zu tun, also mit Vorsatz oder Fahrlässigkeit und das ist m.E. eine gut begründete Replik.

Vergleichsweise ausführlich (S. 42-46) setzt sich die Autorin mit einer „Gegenposition zum Schuldprinzip“ (S. 42) auseinander, die man als moderne Variation der in der Strafrechtsdogmatik längst vergessenen Erfolgshaftung bezeichnen könnte. Es ist nicht ganz klar, warum sie das tut. Das Konzept ist evident aporetisch (S. 45), und die Erfolgshaftung ist auch von der Autorin selbst als nur noch von historischer Bedeutung ausgewiesen worden.

Soweit zur Verteidigung des Schuldprinzips im Verhältnis zum Vergeltungsprinzip. Wie eine Vereinigungstheorie auf retributiver Basis, in der auch das Schuldprinzip eine adäquate Rolle spielt, konstruiert werden kann – das ist quasi die Pointe des zweiten Kapitels – werde ich sogleich im Anschluss diskutieren. Vorher muss aber noch das Schuldprinzip – wie oben S. 3 angekündigt, gegen die Präventionstheorien verteidigt werden.

Gegen die Präventionstheorien referiert die Autorin die bekannten und vielfach wiederholten Argumente (S. 46-57). Die positive Spezialprävention (Resozialisierungstheorie), so der Hauptvorwurf, instrumentalisiere den Delinquenten, degradiere ihn zu einem „Behandlungsobjekt“ (S. 52) und verstoße evident gegen das Schuldprinzip (jetzt im Sinne der Proportionalität), weil die Sanktion nicht nach der persönlichen Schuld des Täters bemessen werde, sondern nach den Erfordernissen der Prävention, der Resozialisierung (S. 54 und S. 30).

An Kant anknüpfend (S. 47), werden gegen die negative Generalprävention im Wesentlichen drei Argumente vorgetragen: Der Delinquent werde ebenfalls instrumentalisiert („Demonstrationsobjekt“, S. 47), wenn er zum Zwecke der Abschreckung potentieller Rechtsbrecher bestraft werde (S. 47). Weiter sei eine Kollision mit dem Schuldprinzip quasi unvermeidbar, weil aus Gründen einer effektiven (psychischen) Abschreckung die Verhängung überproportional hoher Strafen sehr wahrscheinlich sei (S. 48, 54). Schließlich sei der in der Theorie enthaltene Kausalzusammenhang zwischen der Sanktionsdrohung und dem normkonformen Verhalten der Bürger grundsätzlich wohl vorhanden („… dass eine Abschreckungswirkung sicher besteht …“, S. 57), jedoch nicht bei allen Delikten gleich wirksam, praktisch nicht messbar (S. 56) und vermutlich „nur ein Faktor unter vielen“ (S. 56) für rechtstreues Verhalten.

An dieser Stelle muss freilich eine Bemerkung in kritischer Absicht eingefügt werden. In der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit ist von Vertretern der negativen Generalprävention gegen das (ständig wiederholte) Instrumentalisierungsargument und das überproportional – hohe – Strafen-Argument eine sehr fundierte und m. E. überzeugende Antikritik vorgetragen worden. Es ist bedauerlich, dass die Autorin die hierzu publizierte Literatur nicht zur Kenntnis genommen hat – obgleich im Übrigen ihr Literaturverzeichnis eine bemerkenswerte Länge hat (S. 189-197).

Pointiert und überzeugend ist wiederum ihre Kritik an der positiven Generalprävention (Zweck der Sanktionspraxis ist danach die Normstabilisierung, S. 50), die in der Strafrechtsdogmatik gegenwärtig von sehr vielen (und prominenten) Autoren vertreten wird, vorausgesetzt natürlich, man akzeptiert das Instrumentalisierungsargument. Die Autorin schreibt, dass „der zu Bestrafende selbst … auch in der Theorie der positiven Generalprävention … instrumentalisiert (wird).“ (S. 49/50) Das Argument ist – unter der genannten Voraussetzung – evident richtig, es verwundert nur, dass viele Proponenten der positiven Generalprävention diesen wichtigen Punkt entweder übersehen oder nicht zur Kenntnis nehmen.

Die Kritik an den Präventionstheorien fasst die Autorin wie folgt zusammen: „Die Kritik an allen Präventionstheorien lässt sich somit aus der Perspektive der Straflogik des Schuldprinzips generell unter die Gefahr der Strafwillkür und der Ungleichbehandlung subsumieren.“ (S. 34)

Wie soll, kann es nun weitergehen? Auf der Suche nach einer Straftheorie in der das Schuldprinzip (im Sinne von „Restriktion und Proportion“, S. 41) eine adäquate Rolle spielt, ist die Autorin schlussendlich bei den sog. Vereinigungstheorien angekommen (S. 65-84). Es gibt zahlreiche Varianten dieses Theorietyps. Ihr vielleicht kleinster gemeinsamer Nenner besteht in dem Versuch, die „klassische Gegenüberstellung“ (S. 20) von absoluten und relativen Theorien zur Legitimation der Institution Strafe zu überwinden durch eine Synthese des Vergeltungs- und des Präventionsprinzips. Doch wie könnte eine solche Synthese gebildet werden, ja, ist sie überhaupt logisch möglich, weil die Vertreter beider Lager von einem konträren Gegensatz zwischen beiden Theorien ausgehen? Dass und wie eine Vereinigungstheorie möglich ist, versucht die Autorin an drei Beispielen (H. Hart, S. 66-70; C. Roxin, S. 70-75 und schließlich M. Pawlik, S. 75-84) exemplarisch zu zeigen.

Die bekannteste und m. E. schlüssigste Vereinigungstheorie stammt aus der Feder des Oxforder Rechtsphilosophen Herbert Hart. Obgleich die Autorin Harts Theorie ausführlich referiert (S. 66-70), genügt m. E. an dieser Stelle nur eine kleine Skizze, um den wesentlichen Punkt aufzuzeigen. Hart gelingt eine (echte) Synthese zwischen Vergeltung und Prävention, indem er die institutionalisierte Sanktionspraxis konsequentialistisch (oder utilitaristisch) rechtfertigt – das entspricht exakt der negativen Generalprävention – und dem Vergeltungsprinzip die entscheidende Rolle bei der Strafzuerkennung (Wer darf bestraft werden? Wie hoch darf die Sanktion sein?) beimisst. (S. 66, 67, 69, 70)

Dass auch die Autorin Harts Vereinigungstheorie für eine gelungene Theorienkonstruktion hält, wird deutlich, wenn sie schreibt: „Hart zeigt mit seiner Konzeption, dass … der Vergeltungsgedanke eine wesentliche Funktion in der Straftheorie hat. Der Gedanke der ‚Retribution in Distribution’ ist das wesentliche Korrektiv zum utilitaristischen Strafgedanken.“ (S. 70, Hervorh. von J. M. E.-Sch.)

Dennoch wird sich die Autorin Harts Theorie nicht anschließen. Das ist einigermaßen überraschend; auch enthält der Text praktisch keine Gegenargumente (eine Andeutung vielleicht S. 74, 75). Über die Gründe dafür kann ich nur spekulieren. Vielleicht liegt es daran, dass Hart das Schuldprinzip nicht explizit erwähnt und natürlich dem Präventionsgedanken bei der Begründung der institutionellen Sanktionspraxis ein viel zu hohes, ja entscheidendes Gewicht beimisst.

Es folgt ein längeres Referat der leider nicht ganz widerspruchsfreien (S. 74) Vereinigungstheorie Roxins (S. 70-75). Doch genügt auch an dieser Stelle eine knappe Skizze. Roxins hochtrabend sog. dialektische Vereinigungstheorie (S. 71) ist in Wahrheit ein überschaubares Zuordnungsmuster. Darin wird die Strafandrohung generalpräventiv gerechtfertigt; die Strafverhängung wird durch zwei Prinzipien begründet, nämlich wieder durch die Generalprävention und das Schuldprinzip, und der Strafvollzug wird schließlich durch die Spezialprävention gerechtfertigt (S. 71). Wie unschwer erkennbar, spielt das Vergeltungsprinzip in Roxins Konzept keine Rolle (S. 71) – und das ist nach Ansicht der Autorin ein entscheidender Mangel (eigentlich könnte man noch weitergehend die Frage stellen, ob Roxins Konzept überhaupt eine Vereinigungstheorie darstellt). Ein weiterer Mangel hat mit dem Status des Schuldprinzips in diesem Zuordnungsmuster zu tun. Nach Roxin ist es ein „rechtsstaatlich unentbehrliches Mittel zur Begrenzung der staatlichen Strafgewalt“. (S. 73) Der vehemente Widerspruch gegen diese Funktion des Schuldprinzips kann in dem Argument zusammengefasst werden, dass Roxin den Status des Schuldprinzips zu leicht gewichtet. Sie schreibt: „Gibt aber, so der meiner Ansicht nach zentrale Einwand, ‚die Schuld die Grenze der Strafe an, so muss sie zugleich zu ihren Voraussetzungen gehören’.“ (S. 74) Der Einwand ist aber nicht überzeugend. In ihm ist die oben erwähnte Paradoxie enthalten, die das Schuldprinzip mit dem Vergeltungsprinzip identifiziert und gleichzeitig davon trennt und als Proportionalitätsprinzip ausweist. Insoweit ist Roxins Konzept schlüssiger.

Wie könnte nun eine „konsistente Straftheorie“ konstruiert werden, in der das Schuldprinzip nicht nur auf die Funktion der „Eingriffsbegrenzung reduziert“ wird (so wie bei Roxin), „sondern auch seine legitimatorische Funktion für die Institution Strafe“ (S. 75) erhält? Ein solches „konsistentes vergeltungstheoretisches Rechtfertigungsmodell“ (S. 76) hat Pawlik (in 2004) vorgelegt. Im Gegensatz zu Hart und Roxin begründet Pawlik die institutionelle Strafpraxis vergeltungstheoretisch, stark orientiert an der esoterischen Hegelschen Vergeltungstheorie. Kein Zweifel: Pawlik ist ihr Protagonist (S. 76, 77). Die Autorin schreibt: „Als den wesentlichen Zweck der Institution Strafe für die Gesellschaft betrachtet Pawlik die Aufrechterhaltung einer Daseinsordnung von Freiheit durch die Wahrung der Rechtsordnung.“ (S. 76, Hervorh. durch die Autorin) Jeder Bürger befinde sich zu seiner Rechtsordnung in einer „doppelten Beziehung“ (S. 76). Er sei sowohl „Destinatär“ als auch „Mitträger“ (S. 76) der normativen Ordnung. In der Rolle des Mitträgers trifft den Bürger eine Loyalitätspflicht zur Aufrechterhaltung der Geltung und Wirksamkeit der Rechtsordnung (S. 77). Das alles ist mehr oder weniger selbstverständlich. Dann folgt der Übergang zur Sanktion: Auf jeden Normbruch müsse eine Reaktion erfolgen. (S. 78) Und noch wichtiger: Nur die Strafe sei eine angemessene Reaktion auf das spezifische Unrecht des Bürgers. Durch die Strafe werde nämlich „auf Kosten des Täters … die Unauflöslichkeit des Zusammenhanges von Freiheitsgenuss und Loyalitätspflichterfüllung“ (S. 78) demonstriert. (Wie bekannt, wird insbesondere diese These Pawliks gegenwärtig intensiv diskutiert. Dieser Diskurs wird von der Autorin aber nicht einmal erwähnt.)

Und welche Rolle spielt das Schuldprinzip in diesem „Modell“ (S. 79)? Der Sache nach befindet sich an dieser Stelle ihres Referates nur mehr dieser eine, lapidare Satz: „Die strafrechtliche Schuld fragt danach, ob der Bürger, der die Rechtsnorm gebrochen hat, für sein Verhalten verantwortlich ist …“ (S. 79) Der Satz ist natürlich nicht zu bestreiten, ja evident, aber er evoziert die Rückfrage an die Autorin, ob ihre „Pawlikrezeption“ tatsächlich eine Lösung des eingangs (S. 6) erwähnten Problems enthält, nämlich die Schuld als Funktion sowohl der Strafbegründung als auch der Strafbegrenzung auszuweisen. Daran bestehen m. E. begründete Zweifel. Ich glaube auch nicht, dass Pawlik eine schlüssige „Vereinigungstheorie“ (S. 82) konstruieren wollte. Er beabsichtigte in 2004 (S. 5) – wie er selbst schreibt – eine „erneute Hinwendung zu den retributiven Straftheorien …“

Ich komme nun zum zweiten Hauptstück der Dissertation (Kapitel 3), der Frage nach dem Zusammenhang von Schuld, Determinismus und Indeterminismus.

Eröffnet wird das sehr gut aufgebaute dritte Kapitel mit einer kurzen Beschreibung des mittlerweile recht stabilen Diskursrahmens im Streit um die Willensfreiheit (S. 89-93). Zu den wichtigsten Positionen zählen, wie bekannt, der harte und weiche Determinismus und der Indeterminismus. Es folgt ein knappes Referat der Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Neurophysiologie (S. 94-98), die den (ur-)alten Streit zwischen Deterministen und Indeterministen erheblich beflügelt haben. Wenn, so die Autorin, „da(s) Argument des Neurodeterminismus“ (davon wird später noch ausführlich die Rede sein) zutreffen sollte, so könnte es „die Anwendbarkeit des Schuldprinzips in der Tat fragwürdig machen. Wenn die Verschaltungen im Gehirn, die zu einer Entscheidung führen, determiniert sind, wie soll dann freie Selbstbestimmung möglich sein? Und wie soll … (dann) ein Zusprechen von persönlicher Schuld begründet werden?“ (S. 97)

Die von strafrechtlichen Autoren zur (versuchsweisen) Lösung dieses Kardinalproblems des traditionellen Schuldstrafrechts entwickelten Konzepte (S. 98-115), werden von der Autorin sämtlich mit im Wesentlichen zwei wirklich intelligenten Argumenten (S. 103, 114) zurückgewiesen. M. E. ist diese Kritik völlig berechtigt. So lesenswert diese Passage auch ist, sie steht nicht im Mittelpunkt der Erörterung (sodass an dieser Stelle hierzu auch nichts weiter gesagt werden soll).

Zum Kern der Sache führt die folgende pointierte These. Die Autorin schreibt: „Meine These ist jedoch, dass die Schuldidee keine Willensfreiheit voraussetzt und daher unabhängig von Determinismus und Indeterminismus für das Strafrecht gültig ist.“ (S. 91) Der Begründung dieser These ist der Rest des Kapitels (S. 115-158) gewidmet.

Es ist nützlich, die Begründung in zwei Teile zu ordnen. Im zweiten geht es um das dem Strafrecht zugrunde liegende Schuldprinzip (S. 135-158), und im ersten um das bekannte und vieldiskutierte Konzept des Philosophen Peter F. Strawson, in dem er die Irrelevanz des Streits um die Willensfreiheit für die Bewertungspraxis menschlicher Handlungen zu zeigen versucht. Wenn Strawson Recht hat, so ist auch die Irrelevanzthese der Autorin schon so gut wie begründet (S. 116). Strawsons Konzept wird ausführlich referiert (S. 115-125). Weil es in der strafrechtlichen Literatur so gut wie unbekannt ist, soll an dieser Stelle das „Modell“ ein wenig skizziert werden. Wenn A den B durch eine Verbalinjurie heftig beleidigt hat – welche Haltung kann B gegenüber A in der alltäglichen interpersonalen Interaktion oder Wechselbeziehung dann einnehmen? Nach Strawson stehen B nur zwei Möglichkeiten zur Verfügung: eine reaktive (oder nicht-distanzierte) Haltung und eine objektive (distanzierte) Haltung. Welche Haltung B wählen wird, hängt wesentlich von der Absicht des A ab (S. 116-117). B wird auf die Kränkung des A dann nicht missbilligend reagieren, sondern die Kränkung entschuldigen (also eine objektive, distanzierende Haltung einnehmen), wenn er erfährt, dass A etwa die Bedeutung der von ihm verwendeten Wörter nicht reflektiert hat, also den objektiven Sinn seiner Rede gar nicht selbst verstanden hat. Generell gilt, dass Gründe, die in einer ungewöhnlichen Handlungssituation liegen (hier hat eine Person nicht wirklich die Möglichkeit zum Andershandeln) oder Ursachen in der Konstitution einer Person (etwa einem psychischen Defekt) dazu führen, ihr gegenüber eine objektive, distanzierende Haltung einzunehmen (S. 118). Was für die alltägliche interpersonelle Interaktion gelte, gelte analog für die „unpersönliche“, „stellvertretende“ (S. 122) institutionelle Sanktionspraxis. Auch hier schließen Gründe in der Konstitution des Angeklagten oder eine dilemmatische Handlungssituation die regelmäßig reaktive Haltung aus und begründen eine objektive (distanzierte nicht-reaktive) Einstellung (S. 124) – und die entsprechenden Rechtsfolgen, von denen im zweiten Teil noch die Rede sein wird.

Soweit die kleine Skizze. Mit ihr verbindet Strawson zwei wesentliche Schlussfolgerungen. (i) Es ist (S. 120) weder möglich noch sinnvoll, diese soziale Praxis (also die Unterscheidung von reaktiver und objektiver Haltung) zu hinterfragen („The existence of the general frameworks of attitudes itself is something we are given with the fact of human society“ (S. 125)). (ii) Der theoretische Streit zwischen Deterministen und Indeterministen hat (wohl aus anthropologischen Gründen) für die soziale Praxis der interpersonalen Beziehungen und ihr stellvertretendes Analogon keinerlei Bedeutung (S. 120, 121, 125, 133). „Das theoretische Fragen widerlegt nicht die soziale Praxis.“ (S. 163) Diese These soll Irrelevanzthese heißen.

Peter F. Strawsons Lehre – außerhalb und quer zum oben erwähnten Diskursrahmen – gilt als bedeutender Beitrag in der Debatte um die Willensfreiheit; gleichwohl ist seine Lehre heftig kritisiert worden. Weil Strawsons Konzept für die Argumentation der Autorin schlechterdings die „zentrale Referenz“ (S. 125) darstellt, muss sie sich mit den kritischen Einwänden besonders gründlich auseinandersetzen. In diesem Kontext ist die Irrelevanzthese der Kern des Problems. Die Kritiker argumentieren zusammenfassend (S. 126-127) etwa so: Wenn der Determinismus wahr wäre, so würde dies ebenso wie die dilemmatische Handlungssituation oder eine pathologische Konstitution des Handelnden sowohl in der interpersonellen Interaktion wie im unpersönlichen, stellvertretenden Bereich des Strafens zu einer nicht-reaktiven, objektiven Haltung führen. Diesem kritischen Einwand wird von der Autorin selbst – jedenfalls prima facie – Plausibilität beigemessen. (S. 128) Gelingt es ihr die Kritik zurückzuweisen? Das ist, offengestanden, eine ganz schwierige Frage. Entgegen der Erwartung soll die Auseinandersetzung an dieser entscheidenden Stelle nur mehr „exkursorisch“ (S. 125) erfolgen. Die Bemerkung trifft m. E. recht gut das Niveau der Ausführungen. Es ist schwer zu erkennen, ob die Passage S. 128-130 überhaupt ein schlüssiges Gegenargument gegen Strawsons Kritiker enthält. Ich befürchte sogar, dass der Versuch der Anti-Kritik zirkulär verläuft. Jedenfalls kann man mit dem behaupteten trivialen „qualitativen Unterschied“ (S. 129), die klassischen Entschuldigungsgründe (Konstitution des Handelnden, dilemmatische Handlungssituation) seien konkret, die allgemeine Determinismusthese dagegen abstrakt, die Irrelevanzthese nicht stützen oder umgekehrt, den hiergegen vorgebrachten kritischen Einwand widerlegen. An dieser Stelle bleibt leider ein Begründungsdefizit.

Doch bleibt die Irrelevanzthese auch für das Schlussstück (S. 135-158) der Dissertation der entscheidende Bezugspunkt. Die Frage lautet nunmehr: „Wann liegt strafrechtliche Schuld vor?“ (S. 135) Bevor wir dieser Frage und dem Zusammenhang mit der Irrelevanzthese nachgehen, eine Zwischenbemerkung. Im Folgenden beschreibt die Autorin ausführlich und gründlich den Schuldbegriff (das ist der traditionell sog. psychologische Schuldbegriff), der tatsächlich dem Strafgesetzbuch zugrunde liegt. In der Diktion der Autorin ist das nunmehr der dritte Schuldbegriff. Wäre die Autorin auch im zweiten Kapitel von diesem Schuldbegriff ausgegangen (anstatt von einigen phantasievollen dogmatischen Konstruktionen), dann wären einige Passagen des ersten Teils anders oder gar nicht formuliert worden. Doch das nur en passant.

Was bedeutet also „strafrechtliche Schuld“? Die Autorin unterscheidet positive (S. 143–149) und negative (S. 149-158) Schuldmerkmale. Diese Unterscheidung entspricht genau der Architektur des Strafgesetzes. Zu den positiven Schuldmerkmalen gehören die bekannten Vorsatz- und Fahrlässigkeitsvarianten (S. 143) – die die Autorin vorzüglich beschreibt (S. 143) und ihre Anwendung an einem Beispiel (S. 146-147) mustergültig demonstriert – und zu den negativen Schuldmerkmalen die notorischen Schuldausschließungs- und Entschuldigungsgründe. Diese Beschreibung erfasst exakt das weite Feld der „strafrechtlichen Schuld“ und – wie die Autorin mehrfach zu Recht betont – dieses Muster passt haargenau zu Strawsons Konzept. Worum es aber eigentlich geht, kann in der Frage ausgedrückt werden: was folgt, wenn man dieses (strafrechtliche) Muster mit der Irrelevanzthese verbindet? Das Ergebnis ist in der Tat verblüffend. Wenn A den B mit einem Stein verletzt (S. 146-147) hat, dann ist die Frage, ob A seine Handlung freiwillig vollzogen hat bzw. ob er auch anders hätte handeln können (also die Verletzungshandlung unterlassen konnte), irrelevant für die Bewertung der Schuld des A, der Frage, ob ihm seine Tat als (bewusst oder unbewusst) fahrlässig oder als vorsätzlich (in den verschiedenen Graduierungen) zugerechnet werden kann. Die strafrechtliche „Binnendifferenzierung“ (S. 148, drei Vorsatz- und zwei Fahrlässigkeitsformen) erfolgt ohne jeden Seitenblick auf den Streit um die Willensfreiheit. Die Autorin schreibt: „Keine Rolle spielt bei dieser Analyse (hat A vorsätzlich oder fahrlässig gehandelt, H.K.), ob der Handelnde in seiner Entscheidung zur Tat frei war bzw. ob er auch hätte anders handeln können“ (S. 147). Ist es wirklich so einfach? Was antwortet die Autorin dem nicht ganz verstummenden Skeptiker, ob die strafrechtliche „Binnendifferenzierung“ eine indeterministische Willensfreiheit des Aktors voraussetzt? Die (zu erwartende) Antwort ist auch an dieser Stelle nicht (restlos) überzeugend: Die Frage nach der psychischen Disposition des Aktors (also die Binnendifferenzierung) „erfolgt in einem grundsätzlich anderen Kontext als die generelle Frage nach der Willensfreiheit“. (S. 148)

Schließlich zu den negativen Schuldmerkmalen (S. 149-158) übergehend, konstatiert die Autorin zunächst, dass der sog. entschuldigende Notstand (S. 150-152) und der Verbotsirrtum (S. 152-153) in der Debatte um die Willensfreiheit praktisch keine Rolle spielen, wenn auch nicht aus den gleichen Gründen (S. 151, 153). Im „Fokus der Diskussion um die Willensfreiheit und der Relevanz dieser Debatte für das Strafrecht“ (S. 154) steht § 20 StGB, der besagt, dass die Schuld eines Aktors ausgeschlossen ist, wenn er, etwa auf Grund eines psychischen Defektes, „unfähig ist das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“. (S. 153-158) Wie erinnerlich, ist strafrechtlich schuldig (im Sinne der sog. Vorsatzschuld), wer den Erfolg wollte und wusste, dass dieser im Vollzug der inkriminierten Handlung eintreten werde (S. 144). Spiegelbildlich dazu ist die Schuld eines Aktors ausgeschlossen, wenn er – etwa aufgrund einer krankhaften seelischen Störung – nicht in der Lage war, das Unrecht der Tat einzusehen (das intellektuelle Moment) oder nach dieser Einsicht zu handeln (das voluntative Element). (S. 144, 155) So weit ist alles recht einfach.

An dieser Stelle bringt aber ein wichtiges Argument aus der modernen neurophysiologischen Forschung das Schuldprinzip und die Irrelevanzthese in arge Bedrängnis. Es kann zusammenfassend (S. 94, 95, 155, 156, u. ö.) etwa so formuliert werden: Das menschliche Gehirn ist ein unendlich kompliziertes, aber deterministisches System. Der größte Teil eines Entscheidungsprozesses läuft unbewusst ab und nur ein kleiner Teil bewusst; letzteres ist auch der Grund dafür, dass ein Aktor seine Entscheidung als frei empfindet. Wenn § 20 StGB die Schuld einer Person z. B. auf Grund einer krankhaften seelischen Störung ausschließt, weil angenommen wird, dass in diesem Fall eines bekannten psychischen Defekts die Entscheidung des Aktors determiniert verlief, so ist auch im Falle einer aus unbekannten Gründen determinierten Entscheidung, die Wahl- oder Willensfreiheit des Aktors ausgeschlossen, weil, so die starke Ausgangsprämisse, auch das normale, gesunde Gehirn ein deterministisches System ist.

Spielt auch dieses Argument im Kontext des strafrechtlichen Schuldprinzips wirklich keine Rolle? Ist auch für die Anwendung des § 20 StGB der Streit zwischen Deterministen und Indeterministen irrelevant? Das ist tatsächlich die Ansicht der Autorin. Sie schreibt abschließend: „Das Strafrecht beurteilt … einen Mörder, bei dem eine krankhafte Veränderung der Gehirnstruktur festgestellt wurde, anders als einen Täter ohne feststellbaren Defekt“. (S. 162)

Auch an dieser Stelle ist die Replik der Autorin unbefriedigend (wenn nicht zirkulär). Wenn ein Opponent die freie Marktwirtschaft mit dem Argument angreift, sie sei möglicherweise effizient aber extrem ungerecht, so ist die Verteidigung eines Proponenten, sie werde aber von den Eliten in Politik und Wirtschaft als gerecht empfunden, nicht nur ideologisch, sondern, logisch gewendet, äußerst schwach.

Ich fasse zusammen: Jedes der beiden hier behandelten Themen (i) Schuld und Prävention und (ii) Schuld und Determinismus wäre für jeden Autor eine echte Herausforderung. Der Streit um das Schuldprinzip ist auch für zünftige Dogmatiker kaum noch zu übersehen. Dass es der Autorin, die keine professionelle Juristin ist, gelungen ist, das Schuldprinzip als unverzichtbares Prinzip eines gerechten und freiheitlichen Strafrechts auszuweisen und rational zu verteidigen, kann ich nur bewundern. Gegenüber dieser Dimension verblassen meine gelegentlichen kritischen Einwände zu Fußnoten.

Zum Rezensenten:
Dr. Heinz Koriath, geb. 1952, ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie an der Universität des Saarlandes.

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