Tagungsbericht zur Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing, 8. bis 10. Dezember 2017:

Antonia Leugers

Tagungsbericht zur Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing, 8. bis 10. Dezember 2017:

„Annette Kolb – ihre literarische und politische Bedeutung 50 Jahre nach ihrem Tod“.


Annette Kolb (1870-1967) zähle mit den Schriftstellerinnen Ricarda Huch und Mechthilde Lichnowsky zum „großen Dreigestirn deutscher Frauen“, so Percy Ernst Schramm im Jahr 1966. Heute dürfte den meisten Menschen höchstens der Name Huch noch geläufig sein. Ulrike Haerendel, Studienleiterin der Evangelischen Akademie Tutzing, lud daher Expertinnen und Experten ein, dem interessierten Tagungspublikum die literarische und politische Bedeutung Kolbs 50 Jahre nach ihrem Tod neu zu erschließen.

Ein entscheidendes Manko für die breite Rezeption Kolbs, die in den führenden Literaturlexika und selbst im „Lexikon für Theologie und Kirche“ vertreten ist, stellte bislang das Fehlen einer Werkausgabe dar. Hiltrud und Günter Häntzschel haben diese Lücke in der Reihe der Autorinnen des 20. Jahrhunderts nun geschlossen. Im Göttinger Wallstein Verlag haben sie eine vierbändige kommentierte Werkauswahl herausgegeben. Jeweils im Anhang werden Fotos der Schriftstellerin und zeitgenössische Rezensionen der Werke Kolbs zusammengestellt, die man, wie auch ihre verstreut erschienenen und nicht leicht zugänglichen Schriften, erstmals zur Hand hat.[1]

Die Münchener Literaturwissenschaftlerin Hiltrud Häntzschel gab in Tutzing einleitend einen an Leben und Werk Kolbs orientierten Überblick. Kolb war traumatisch gezeichnet durch eine katholische Klosterschulerziehung, die im Gegensatz stand zur liberalen musischen Atmosphäre im Kreis ihrer fünf Geschwister im weltläufigen Münchener Elternhaus: der Vater, königlich bayerischer Gartenbauinspektor, die Mutter, französische Pianistin mit eigenem häuslichen Salon. Die ersten literarischen Versuche der leidenschaftlichen Klavierspielerin Kolb wurden 1899 noch verspottet. Ihren Durchbruch erlebte die 43-Jährige mit ihrem innovativ-unkonventionellen Debutroman „Das Exemplar“, für den ihr 1913 der Fontane-Preis zuerkannt wurde. Die Feindpropaganda im Ersten Weltkrieg forderte die Pazifistin Kolb zu scharfer Kritik allen Kriegsparteien gegenüber heraus. Das hatte seinen Preis: Briefsperre und Reiseverbot. Nur durch Beziehungen glückte die Emigration in die Schweiz, wo sie den Anschluss an internationale FriedensaktivistInnen fand. Die Möglichkeiten, die die kulturell offenen Weimarer Jahre endlich boten, schöpfte Kolb voll aus: bodenständig durch Hausbau und mit befreundeten Nachbarn in Badenweiler, europäisch reiselustig mit festen Anlaufpunkten und Kreisen (so in Luxemburg), sogar mit Erwerb des Führerscheins und eines feschen Autos. Ihre Texte gewannen an politischer Schärfe, zuletzt im 1932 erschienenen „Beschwerdebuch“.

Im Februar 1933 wurde Kolb gewarnt und trat unverzüglich die Flucht über die Schweiz und Luxemburg nach Paris an. Ihre sehr guten, vertrauten Beziehungen zahlten sich aus; eine Wohnung in Paris und der Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft sicherten die Emigrantin ab. Bis zum Kriegsbeginn zwischen Deutschland und Frankreich setzte sie ihre Reisetätigkeit fort, u.a. in die USA, und publizierte weiter, darunter ihren bekanntesten Roman „Die Schaukel“. In Bayern standen ihre Werke schon früh auf Verbots- und Beschlagnahmungslisten, im Deutschen Reich wurden sie auf die Liste des so genannten schädlichen und unerwünschten Schrifttums gesetzt.

Vor der deutschen Besetzung Frankreichs floh Kolb schließlich über Spanien und Portugal nach New York. Sie kehrte 1945 nach Paris, 1961 in ihre Heimatstadt München zurück, wo sie 1967 hoch geehrt starb. Hiltrud Häntzschel gewichtete die Stärken Kolbs in ihrem literarischen Werk und politischen Engagement, verwies aber zugleich auf Kolbs Begrenztheiten (blinde Idealisierung Bayerns und Konrad Adenauers, eigenwillige Vorstellungen zur „Judenfrage“, ein ausgeprägtes Standesbewusstsein zu „Elite“ und „Pöbel“), die in den weiteren Vorträgen aufgegriffen wurden.

Peter Czoik, leitender Redakteur beim „Literaturportal Bayern“, widmete sich dem frühen schriftstellerischen Werk Kolbs. Das 1899 im Selbstverlag erschienene 80 Seiten umfassende Bändchen „Kurze Aufsätze“ beachteten, Kolbs Erinnerungen zufolge, nur Rainer Maria Rilke und Franz Blei; im Übrigen seien ihr Spott und Verachtung entgegengeschlagen. Dabei wiesen die Texte durchaus eigenständige Betrachtungen auf, so in der Erzählung „Der Zufall“ mit seinen menschenfeindlichen oder –freundlichen Auswirkungen. Das zweite Werk trägt den Titel „Sieben Studien“, enthält aber tatsächlich acht Beiträge, weil der schon ein Jahr zuvor publizierte Text „Torso“ in den 1906 erschienenen Band mit aufgenommen wurde. Ihrem viel zitierten Ausspruch „Ich habe etwas zu sagen!“ folgend habe Kolb damals noch kein aufhorchendes Publikum gewinnen können, das ihren politischen Positionen und mondänen Reiseerinnerungen begeistert hätte folgen wollen. Erst „Das Exemplar“ von 1913 brachte Kolb den literarischen Durchbruch. Czoik legte dar, dass Kolb in den Grundzügen schon in ihrem Frühwerk enthalten sei; sie gehe impressionistisch und symbolistisch vor, sei innovativ in den Mann-Frau-Themen und im Versöhnungsgedanken.

Die Historikerin Ulrike Haerendel befasste sich mit der Wahlrechts- und Frauenfriedensbewegung und den Künstlerinnenkreisen um 1900. Der „Verein für Fraueninteressen“, der „Deutsche Verein für Frauenstimmrecht“ und die „Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit“ waren in München durch Ortsgruppen bzw. Sektionen um die Persönlichkeiten Anita Augspurg, Lida Gustava Heymann und Constanze Hallgarten repräsentiert. Unkonventionalität und Freiheitsdrang hätten selbst so gegensätzliche Typen wie Franziska von Reventlow und Annette Kolb geprägt. Sie sei nie eine Frauenrechtlerin gewesen, so Kolb, aber es stelle sich die Frage, wie es wäre, wenn Frauen regieren würden, denn das „Männerregiment“ habe einen vollendeten „Wirrwarr“ zutage gefördert. Ihre pazifistische Position habe Kolb in ihren Vorträgen und durch solidarische Unterstützung von Aufrufen der Münchner Friedensaktivistinnen öffentlich vertreten, so Haerendel.

Der Münchener Literaturwissenschaftler Dirk Heißerer erschloss die literarischen und bildlichen Quellen einer auf Annette Kolb bezogenen Stelle im „Doktor Faustus“ (1947) von Thomas Mann, in der sie als Jeanette Scheurl auftaucht. Manns Charakterisierung, die sich insbesondere auf Kolbs Äußeres bezog, sei damals als „Mord“ und „literarischer Florettstich“ gewertet worden. Die Familien Kolb und Pringsheim hatten in München in engerer Nachbarschaft gelebt. Annette und Katja, noch bevor sie Thomas Mann heiratete, kannten einander und duzten sich, während Kolb und Mann sich auch später weiter siezten. Mann habe also auf eigene und familieninterne Erzählungen zu Annette zurückgreifen können, so Heißerer. Kolb selbst habe eine Formulierung geprägt, die bei Mann abgewandelt auftauche. Kolb beschrieb eine Pariser „Dame mit dem eleganten Primelgesicht“. Im Buch „Das große Bestiarium der modernen Literatur“, in dem Franz Blei 1922 das literarische Deutschland vorführte, sei die „Kolbannette“ schon als „Edelziege“ karikiert worden (Lithographie von Rudolf Großmann). Als Quellen hierfür sieht Heißerer die Fabel von Jean de La Fontaine „Les deux Chèvres“ an, die vom Vater von Hedwig Pringsheim, Ernst Dohm, übersetzt worden sei und die Illustration von Grandville aus dem Jahr 1838, in der die Ziege, der Fabel folgend, als Dame abgebildet worden sei. Franz Blei habe den Geist der Unabhängigkeit Kolbs damit unterstreichen wollen. Dies sei spöttisch, aber nicht kränkend gewesen. Manns Formulierung hingegen, bezogen auf Kolb („Von mondäner Häßlichkeit, mit elegantem Schafsgesicht“), aber mehr noch die Charakterisierung von Kolbs französischer Mutter  als einer „gelähmt im Stuhl verharrenden, aber geistig energischen alten Dame“, die nie Deutsch gelernt habe, hätten Kolb verletzt. Bis zum Tode Manns kam es darüber zu keiner Aussöhnung.

Walter Hettche vom Institut für Deutsche Philologie (Ludwig-Maximilians-Universität München) stellte Briefe Annette Kolbs, von denen bislang nur Auswahleditionen vorliegen, als Quelle für solche Spuren vor, die nur am Original selbst und im Vergleich mit der gesamten Briefsammlung entziffert werden könnten. Kolb benutzte unterschiedliche Briefpapiersorten und –formate, sehr häufig Hotelpapierbögen. Sie ließ aber auch eigene Ansichtskarten mit ihrem Porträt und ihrem Häuschen in Badenweiler drucken. Schreibutensilien (Bleistift, Kugelschreiber, Tintenfüllhalter) und ihre Handschriften variierten (deutsche und typische französische Schreibweise). Die Paratexte (Adressen, Absenderangaben) waren bei der häufig auf Reisen befindlichen Schriftstellerin divers. Als Datierungsmöglichkeiten bleiben oft nur Post- oder Eingangsstempel, als Adressen tauchen Hoteladressen auf, auch wenn sie andernorts weilte: das Hotel hatte den Auftrag, ihr die Post jeweils nachzuschicken. Zu den Eigenheiten zur Übermittlung versteckter Botschaften gehörte auch das symbolische Schrägkleben von Briefmarken. Autographen Kolbs konnten durch freundliche Bereitstellung des Antiquariats Köster (Tutzing) von den TagungsteilnehmerInnen in Augenschein genommen werden.

Der emeritierte Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft (Ludwig-Maximilians-Universität München) Günter Häntzschel untersuchte Grenzüberschreitungen und Begrenzungen Annette Kolbs, wobei er „Grenze“ im metaphorischen Sinne verwendete. Als ersten Bereich betrachtete er die pazifistischen Grenzüberschreitungen Kolbs, die 1917 in die Schweiz, 1933 nach Paris und 1941 schließlich in die USA emigriert war. Kolb habe sich durch den Ersten Weltkrieg als Deutsch-Französin heimatlos gefühlt. 1915 habe sie sich in ihrem Vortrag in Dresden gegen die Kriegshetze der Franzosen und der Deutschen gewandt und, an die Vernunft beider Nationen appellierend, ihren Friedenswunsch geäußert, was einen Skandal auslöste. Romain Rolland sei beeindruckt gewesen, habe aber den Wert der Argumentation eingeschränkt, weil Kolb als „zwiefache Patriotin“ nur auf die beiden Nationen fixiert gewesen sei. Für die gesamteuropäische Frage habe Kolb nur eine mäßige Aufmerksamkeit gezeigt. Als zweiten Bereich nannte Häntzschel Kolbs begrenzte Ansichten über den preußischen Protestantismus, wie sie in ihren Werken „Zarastro“ und „Die Schaukel“ zum Ausdruck gekommen seien. Sie habe sich boshaft intolerant gegen Protestanten geäußert und Konfession und Charakter in engste Verbindung gebracht. Einer ihrer Freunde habe gemeint, sie sei sogar eine Chauvinistin und Lokalpatriotin in Bezug auf das katholische Bayern gewesen. Der dritte Bereich ihrer Begrenzungen betraf die „Judenfrage“. In „Die Schaukel“ äußerten sich die Kinder der katholischen Familie Lautenschlag spöttisch zu äußeren Merkmalen von Juden. In der Erstausgabe von 1934 ließ Kolb eine Anmerkung ihrer Wertschätzung und Dankesschuld den Juden gegenüber abdrucken; das sei ungewöhnlich gewesen. Dennoch finde man in Texten und Briefen Kolbs judenfeindliche Äußerungen in einer kühlen und den NS-Kategorisierungen entsprechenden Sprache, so in ihren abschätzigen Urteilen über die Passagiere auf ihrer Schiffsreise nach New York 1939 und über dortige jüdische Familien in „Glückliche Reise“ (1940). Max Brod habe Kolbs Äußerungen scharf verurteilt, in der Nachkriegsausgabe habe Kolb die Stellen getilgt.

Die ehemalige Leiterin des Nationalen Literaturzentrums im Luxemburger Mersch Germaine Goetzinger stellte den Luxemburger Stahlbaron und Industriellen Emil Mayrisch (1862-1928) und seine Frau, Aline Mayrisch – de Saint Hubert (1874-1947), eine sozial engagierte Feministin, Kunst- und Literaturkennerin, vor. Das Ehepaar lud in den 1920er Jahren nach Schloss Colpach als Ort der deutsch-französischen Begegnung Persönlichkeiten aus Kunst, Literatur, Kultur und Politik ein, u.a. Walther Rathenau und Konrad Adenauer. Annette Kolb war erstmals 1921 in Colpach zu Gast. In der von Mayrisch gekauften „Luxemburger Zeitung“ veröffentlichte sie zwischen 1922 und 1938 insgesamt 74 Zeitungsartikel, die dem besseren Verständnis der Länder untereinander dienen sollten. Kolb war 1933 von Aline Mayrisch nach der Flucht materiell unterstützt worden, zunächst in Colpach, später in Paris. Auch in Südfrankreich hatten Mayrischs ein Anwesen. Aline vermittelte Kolb wichtige Kontakte. Die von den Manns gegründete Exilzeitschrift „Maß und Wert“, in der auch Kolb schrieb, finanzierte Mayrisch ebenfalls drei Jahre.

Zum Abschluss des zweiten Tages wurde Percy Adlons Film „Die Schaukel“ (1983) nach dem Roman von Annette Kolb vorgeführt.

Die emeritierte Professorin für Deutsche Literatur (University of Massachusetts in Amherst, USA) Sigrid Bauschinger, befasste sich mit Kolbs Exiljahren. Durch ihr erstes Schweizer Exil als Folge ihrer Dresdener Rede im Ersten Weltkrieg eröffnete sich ihr ein internationaler pazifistischer Freundeskreis; sie nahm sogar 1919 am Internationalen Sozialistenkongress teil, lernte Kurt Eisner kennen und äußerte sich lobend über ihn. Die Weimarer Republik als Garant der Meinungsfreiheit war ihr wesentlich. Sie prognostizierte allerdings, es werde Leute geben, die sich je nach der politischen Lage anpassen würden. Im Anschluss an Hitlers Rede vom 31. Januar 1933 fürchtete sie einen neuerlichen Krieg. Sie hatte sich 1932 in ihrem „Beschwerdebuch“ gegen die Nationalsozialisten geäußert. Überstürzt floh sie und konnte schließlich in Paris in eine Wohnung ziehen, die Hugo Simon bezahlte. Ihren Flügel und Möbel aus ihrem Badenweiler Haus hatten ihr Freunde über die Grenze geschafft, eine Haushaltshilfe stand ihr zur Verfügung. Sie sei die ideale Exilantin gewesen, so Bauschinger, weil sie Französisch muttersprachlich beherrschte und einheimische Freunde hatte. 1936 erhielt sie die französische Staatsbürgerschaft. Weiterhin war sie schriftstellerisch tätig. Sie verfasste „Die Schaukel“ und „Mozart“ (1937). Ihre erste von verschiedener Seite finanzierte USA-Reise unternahm sie im Mai 1939 auf Einladung von Dorothy Thomson zum Internationalen Schriftstellerkongress in New York und zu einem Besuch im Weißen Haus, bei dem sie Präsident Roosevelt vorgestellt wurde. Thomson kam aus der Frauenwahlrechtsbewegung und war bis zu ihrer Ausweisung 1934 Korrespondentin in Berlin gewesen. In den USA wurde Kolb ein Chauffeur gestellt, sie gab Abendessen und besuchte u.a. Thomas Mann. D.h. es sei ihr insgesamt gut gegangen, so dass ihr Buch „Glückliche Reise“, das 1940 erschien, diesen Eindruck spiegele, so Bauschinger. Wie Günter Häntzschel ging sie auf diese Publikation näher ein wegen der dort enthaltenen antisemitischen Stereotypisierungen. Kolb habe dem jüdischen Geschwisterpaar Eleonora und Francesco von Mendelssohn als „Elitejuden“ jene „vulgären Juden“ als „Bazillenträger des Antisemitismus“ gegenübergestellt. Max Brod und Hermann Kesten kritisierten sie äußerst scharf. Kolbs zweite USA-Reise 1941 stand am Ende des Fluchtwegs über Spanien und Portugal; Thomson hatte für sie gebürgt. Während dieser vier Exiljahre sei Kolb nicht glücklich gewesen. Hier habe die militante Pazifistin des Ersten Weltkriegs eine Wende im Denken vollzogen. Man müsse nun gegen Hitler kämpfen, es sei unmöglich, Pazifistin zu sein. Nach ihrer Rückkehr nach Paris, später nach Deutschland, habe sich Kolb für die deutsch-französische Aussöhnung eingesetzt; durch ihren Austausch mit dem Rabbiner Elazar Benyoetz und ihren Besuch in Israel 1967 sei eine letzte Wandlung ihrer Anschauungen eingeleitet worden.

Der ehemalige Präsident des PEN Deutschland, Johano Strasser, würdigte Kolbs Persönlichkeit abschließend. Kolb sei keine intervenierende Intellektuelle gewesen. Sie habe Gefährdungen Deutschlands und Frankreichs „gewittert“, sei eine europäische Grenzgängerin, Pazifistin und untypische Frauenrechtlerin gewesen. Sie habe Talent zur Freundschaft gehabt und Politik über persönliche Beziehungen gepflegt; die deutsch-französische Aussöhnung, von der ihrer Meinung nach die Zukunft Europas abhinge, sei für sie ein Elitenprojekt gewesen. „Elite“ und „Pöbel“ / „Plebs“ habe sie häufig voneinander geschieden. Pöbelhafte Typen habe sie aber ebenso bei den revolutionären Räten wie beim Adel ausgemacht, es sei ihr um „Manieren“ gegangen. Ihre Argumentation sei nicht immer plausibel gewesen. So sei sie von völkerpsychologischen Zügen von Nationen ausgegangen, insbesondere einer Art erotischer Spannung und Wesensergänzung zwischen Deutschland und Frankreich. Als Pazifistin habe sie im Ersten Weltkrieg Soldaten als Mörder bezeichnet, habe den Versailler Friedensvertrag als Saat zu neuem Krieg und den Aufstieg der Nationalsozialisten als Kriegsgefahr angesehen. Sie habe nicht geschwiegen.

In der Schlussrunde („Fishbowl“) wurde hervorgehoben, dass es gut gewesen sei, auch die kritischen Stimmen zu Kolb eingeschlossen zu haben. Es wurde allerdings bedauert, dass das literarische Werk Kolbs zu sehr in den Hintergrund getreten sei, dabei sei die Erzählerin Kolb noch zu entdecken. Eine allgemein interessierende Frage blieb, wie sich Kolb eigentlich hatte finanzieren können. Mäzeninnen wie die Luxemburger Mayrischs oder die New Yorker Thomson förderten sie; Honorarzahlungen vom Verlag oder Preisgelder aus der Schriftstellerei bekam sie; manche Beträge, wie der PEN-Beitrag, wurden durch andere übernommen (Erich Kästner zahlte); ab den 1960er Jahren wurde die Wohnung in München durch den Wittelsbacher Ausgleichsfonds finanziert. Die TeilnehmerInnen der Tagung wünschten sich, dass Kolbs Leben und Werk auch SchülerInnen und StudentInnen erschlossen werden solle. Johano Strasser warnte jedoch davor, die Jugend pädagogisch zu vereinnahmen.


Tagungsprogramm:

Evangelische Akademie Tutzing, Freitag 8. bis Sonntag 10. Dezember 2017.
Annette Kolb - ihre literarische und politische Bedeutung 50 Jahre nach ihrem Tod.
Dr. Ulrike Haerendel (Studienleiterin für Soziales, Familie, Geschlechterfragen und Geschichte an der Evangelischen Akademie Tutzing) Begrüßung
Dr. Hiltrud Häntzschel (Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin und Autorin, München): „Helfen Sie uns zu einer Gesamtausgabe Ihrer Bücher“ (Ernst Robert Curtius an Annette Kolb). Über politischen Mut, die Plage des Schreibens und eine neue Werkausgabe.


I Vom Werden einer Schriftstellerin

Dr. Peter Czoik (Projektkoordinator und leitender Redakteur beim Literaturportal Bayern der Bayerischen Staatsbibliothek München): „Kurze Aufsätze“, „Sieben Studien“ und ein „Torso“. Das frühe Werk
Dr. Ulrike Haerendel (Historikerin): Aufbrüche und Emanzipation von Frauen in München um 1900
Dr. Dirk Heißerer (Literaturwissenschaftler, Dozent und Autor, München): „Edelziege“ und „Schafsgesicht“. Annette Kolb im literarischen München zwischen Franz Blei und Thomas Mann


II Die politische Künstlerin

Dr. Walter Hettche (Akadem. Oberrat am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München): „Ja, sag’n S‘, Herr Bibliothekar, was woll’n S‘ denn mit all dem Papier?“ Vom Umgang mit Annette Kolbs Briefen
Prof. em. Dr. Günter Häntzschel (emer. Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München): Grenzüberschreitungen und Begrenzungen Annette Kolbs
Germaine Goetzinger (Literaturwissenschaftlerin, Dozentin und Autorin, bis 2012 Leiterin des Nationalen Literaturzentrums in Mersch, Luxemburg): „Auf nach Luxemburg! Mit offenen Armen von der Luxemburger Freundin aufgenommen.“ Annette Kolbs Beziehungen zur Industriellenfamilie Mayrisch und zum Colpacher Kreis
Filmangebot: „Die Schaukel“ (Film von Percy Adlon, 1983)


III Zuhause in der Welt

Prof. Dr. Sigrid Bauschinger (em. Professorin für Deutsche Literatur an der University of Massachusetts in Amherst, USA): Exil, Umkehr, Rückkehr. Wandlungen bei Annette Kolb
Prof. Dr. Johano Strasser (Politologe, Autor, ehem. Präsident PEN Deutschland, Berg am Starnberger See): „Mein Leben hindurch sprach ich in den Wind – und hatte doch manchmal recht.“ Die Schriftstellerin und die Politik der Zeit
Fishbowl: Was bleibt?

Zur Autorin:
Dr. Antonia Leugers, geb. 1956, ist Wiss. Mitarbeiterin an der Universität Erfurt.

Anmerkungen:
[1] Annette Kolb Werke. Band 1: Europas unsterbliche Blamage 1899-1921, Band 2: Eine trügerische Ruhe 1921-1933, Band 3: Inmitten der unheimlichsten Geschichte 1933-1945, Band 4: Memento 1945-1967, herausgegeben von Hiltrud und Günter Häntzschel, Göttingen 2017.



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