Gutachten zum Diskussionspapier Felix Teuchert, Integration und Religion. Theologische und historische Überlegungen zur Integration der Ostvertriebenen in die evangelische Kirche
2. Prof. Dr. Dr. Rainer Hering
Ausgehend von den aktuellen weltweiten Migrationsbewegungen, die gerade in den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland zu einer intensiven gesellschaftlichen und politischen Diskussion geführt haben, verweist Felix Teuchert in seinem informativen Beitrag zu Recht auf die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erfolgte Integration von Ostvertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft. Gerade in Schleswig-Holstein hat dieser quantitativ erhebliche Zustrom zu einer massiven Veränderung der Zusammensetzung der Bevölkerung geführt. Dieser langjährige Prozess verlief nicht geradlinig. Teuchert verweist darauf, „dass die vom nationalsozialistischen Regime propagierte krasse Abwertung Osteuropas und seiner Bewohner nach 1945 auf die ostdeutschen Flüchtlinge und Vertriebene übertragen wurde; die Ostvertriebenen rückten an die Stelle der überwiegend aus Osteuropa stammenden Zwangsarbeiter.“ Die hier deutlich werdenden anti-slawischen Traditionen reichen jedoch vor das Jahr 1933 zurück und sind bereits im Deutschen Kaiserreich von 1871 zu finden, wo sie gerade von nationalistischen Verbänden, wie dem Deutschen Ostmarkenverein oder dem Alldeutschen Verband, die eine breite Basis im (protestantischen) Bürgertum hatten, und insbesondere über Akademiker als Multiplikatoren von politischen und gesellschaftlichen Meinungen weit in die deutsche Gesellschaft hineingetragen wurden. So wurden sie auch zu einem ideologischen Element der völkischen Bewegung, gelangten in das nationalsozialistische Ideologiekonglomerat und blieben langfristig wirkungsmächtig. [1]
Teuchert konzentriert sich in dem auf seiner Münchner Dissertation basierenden Aufsatz auf die Integration im deutschen Protestantismus, die aufgrund unterschiedlicher kirchlicher, vor allem liturgischer, Traditionen alles andere als problemlos ablief. An die Stelle christlicher Nächstenliebe und freudiger Aufnahme traten massive Machtkonflikte, da die aufnehmenden Gemeinden und Landeskirchen „auf einer Assimilation der bekenntnisverschiedenen Vertriebenen die das Bekenntnis und die Sitte der aufnehmenden Landeskirchen anzunehmen hatten“, beharrten. Dabei kam es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. [2]
Zusammenfassend hält Teuchert fest, dass die bundesdeutschen Landeskirchen die Frage der Integration der Vertriebenen in erster Linie kirchenrechtlich sahen und eine konfessionelle und kulturelle Assimilation verlangten – lediglich karitative Aufgaben sollten den ostdeutschen Kirchenleitungen verbleiben. Dagegen fragte der Ostkirchenausschuss der EKD nach Wesen und Aufgabe der Kirche und stellte fest, „dass die Ostkirchen als Bekenntnis, als Kirche unter dem Kreuz und ausgestattet mit einem lebendigen Erfahrungs-, Glaubens- und Kulturschatz weiter existierten“. Lediglich das bruderrätlich bestimmte ostpreußische Hilfskomitee unter der Leitung Hans-Joachim Iwands plädierte für die Assimilation der Vertriebenen. Teuchert sieht in dem theologischen Gutachten des Ostkirchenausschusses einen Vermittlungsversuch, der an der jeweiligen landeskirchlichen Ordnung festhielt, jedoch den Vertriebenen eine „kulturell-religiöse Selbstständigkeit zubilligte“.
Die Kirchengemeinden wurden zum Ort, an dem „der Umgang mit konfessioneller und kultureller Differenz in einem mühsamen Aushandlungsprozess erlernt wurde“. Langfristig wurden in einem „Vermischungs- und gegenseitigen Anpassungsprozess“ Elemente der Kultur der Vertriebenen übernommen, so dass es – wenig überraschend, aber wichtig festzuhalten – zu Veränderungen auf beiden Seiten kam. Teuchert resümiert: „In den Integrationskonflikten vor Ort war das Bekenntnisproblem ein zusätzlicher, letztlich kontingenter und damit austauschbarer Aspekt. Vielfach dürften auch Interessenkonflikte ausschlaggebend gewesen sein. Differenzen wurden demnach inszeniert, um die eigene Dominanz zu zementieren und gesellschaftliche Positionen und Interessen in der Kirchengemeinde zu verteidigen.“ Er weist mit Recht darauf hin, dass man in der Gesellschaftsgeschichte die ambivalente Bedeutung von Religion als konfliktverschärfend oder konfliktentschärfend genauer wahrnehmen sollte. Langfristig sieht er jedoch eine abnehmende Bedeutung von Religion.
Teucherts Fazit lautet: „Die historische Erfahrung lehrt, dass unabhängig von kulturellen Differenzen, die je unterschiedlich diskursiv konstruiert wurden, ein Integrationswille da existiert, wo Aussicht auf Verbesserung der Lebenschancen besteht und Partizipationsmöglichkeiten angeboten werden.“
Eine Anmerkung zum Schluss: Der Titel des Beitrages sollte präziser gefasst werden – es geht um die Integration in die evangelischen Kirchen (Plural), da es die eine evangelische Kirche nicht gibt.
Zum Autor:
Prof. Dr. Dr. Rainer Hering studierte Evangelische Theologie,
Geschichts- und Erziehungswissenschaft. Er wurde zum Dr. phil und zum
Dr. theol. promoviert und habilitierte sich für Neuere Geschichte
und Archivwissenschaft an der Universität Hamburg, wo er als apl.
Professor lehrt. Er ist zudem Honorarprofessor an der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seit 2006 leitet er das
Landesarchiv Schleswig-Holstein.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Adam Galos,
Felix-Heinrich Gentzen, Witold Jakóbczyk,
Die Hakatisten. Der Deutsche Ostmarkenverein (1894–1934). Ein Beitrag
zur Geschichte der Ostpolitik des deutschen Imperialismus, Berlin (DDR)
1966 (Schriftenreihe der Kommission der Historiker der DDR und
Volkspolens); Uwe Puschner/Walter Schmitz/ Justus H. Ulbricht (Hg.),
Handbuch zur "Völkischen Bewegung" 1871-1918, München/New
Providence/London/Paris 1996; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung
im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt
2001; Jens Oldenburg, Der Deutsche Ostmarkenverein 1894–1934, Berlin
2002; Rainer Hering, Konstruierte Nation. Der Alldeutsche Verband
1890-1939, Hamburg 2003 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und
Zeitgeschichte 40); Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland.
Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008.
[2] Michaela
Bräuninger, Kirche in der Sinnkrise? Die
Kirchengemeinde St. Jürgen in Heide nach den beiden Weltkriegen,
in: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 3
(2018) (im Druck).
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