theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Ingolf U. Dalferth / Hans-Peter Großhans (Hrsg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen: Mohr Siebeck 2006, 420 Seiten, EUR 69,00, ISBN: 3-16-149026-6

Der Band geht zurück auf eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie im Sommer 2004. Ziel des Bandes ist es, angesichts „der Realität konkurrierender und konfligierender Religionen in der Gegenwart“ (Einleitung, VII) für den gegenwärtigen Umgang mit Religionen Kriterien zu entwickeln, „die zwischen besser und schlechter auch im Blick auf die Religionen zu unterscheiden ermöglichen“ (VII f.). Der Band ist in vier Teile gegliedert: „I. Religionskritik im Anschluss an Kant“ (1-94), „II. Genetische Religionskritik“ (95-217), „III. Theologische Religionskritik“ (219-318) und „IV. Religionskritik als Kulturkritik“ (319-402).

Im Blick auf das Verständnis von „Religionskritik“, das die Beiträge leitet, ist eine radikale von einer relativen Religionskritik zu unterscheiden. Während die radikale Religionskritik die Geltungsansprüche der Religionen insgesamt zurückweist, versucht die relative Religionskritik im Sinne der Einleitung zwischen besser und schlechter, zwischen berechtigten und unberechtigten Geltungsansprüchen zu unterscheiden. In dem Sammelband wird die radikale Religionskritik durch die Beiträge von Elisabeth Heinrich („Religionskritik im Spannungsfeld von logischer und genealogischer Argumentation“, 95-115), Brigitte Boothe („Die Religionskritik Freuds und die Überschreitung des Gegebenen“, 163-185) und Christoph Türcke („Religionskritik zweiten Grades“, 319-328) vertreten. Heinrich tritt für eine Religionskritik nach dem Vorbild David Humes ein, die logische und genealogische Argumentation verbindet. Boothe und Türcke verbindet, dass sie trotz der Anerkennung radikaler Religionskritik versuchen, der Religion als einem menschlichen Phänomen mit bleibender Bedeutung gerecht zu werden. Nach Boothe ist die Religion „als Kulturgut“ und „als wichtiges Psycho- und Sozialregulativ“ (174) nicht erledigt. Türcke rechnet mit einer „Gottbedürftigkeit des Menschen“ (324). Die Religionskritik müsse daher „reflexiv werden: zu einer Religionskritik zweiten Grades, die ermessen lernt, wie tief Religion im menschlichen Nervensystem verankert ist“ (ebd.).

Heiko Schulz („Der Traum des wahren Bewusstseins. Zur Aktualität der Religionskritik Ludwig Feuerbachs“, 117-144), Arne Grøn („Im Horizont des Unendlichen. Religionskritik nach Nietzsche“, 145-162) und Tilman Beyrich („‚Die Kugel ist tot.‘ Zu Sloterdijks Versuch, Religionskritik in Sphärologie zu übersetzen“, 377-402) thematisieren zwar radikal religionskritische Positionen, machen sie sich aber nicht zu Eigen. Schulz unterscheidet zwischen der grundlegenden Anthropologie und Religionstheorie Feuerbachs und den daraus abgeleiteten religionskritischen Folgerungen. Auf der Ebene der grundlegenden Anthropologie und Religionstheorie entdeckt er strukturelle Parallelen zwischen Feuerbach und Kierkegaard, der sich anders als Feuerbach nicht zu den religionskritischen Folgerungen veranlasst sieht. Argumentationslogisch bestehe ein „Patt zwischen christlicher und religionskritischer Deutung der menschlichen Lebenswirklichkeit“ (141). Grøn versucht nachzuweisen, dass Friedrich Nietzsche trotz seiner Religionskritik die Religion „als ein Grundverhalten zu den eigenen Lebensbedingungen“ (156) nicht hinter sich gelassen habe. Weil Nietzsches Religionskritik vor allem Christentumskritik sei, scheine „Religion jenseits des Christentums möglich“ (153) zu sein. Beyrich zeigt, dass Peter Sloterdijks Versuch, das Christentum vom Raumschema der Kugel her zu verstehen, eine Vereinfachung darstellt. Aber er nimmt als Frage auf, „welchen Beitrag ein Nachdenken über das Thema Mensch und Raum zu einem kritischen Umgang mit Religion heute leisten könnte“ (400).

Am Rand radikaler Religionskritik bewegt sich Jan Rohls Beitrag „Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff. Hegels These und die Theologie der Junghegelianer“ (17-51). Rohls kritisiert den Versuch der Junghegelianer Wilhelm Vatke, Eduard Zeller und Alois Emanuel Biedermann, den religionskritischen Konsequenzen der Hegelschen Philosophie dadurch zu entgehen, dass sie das Wesen der Religion im Bereich des Praktischen verorten. Diese Konzeption beruhe auf einer unzureichenden Kenntnis von der Entwicklung der Religionsphilosophie Hegels. In dem Beitrag bleibt offen, ob eine andere Konzeption, etwa eine, die den Rahmen der Hegelschen Philosophie hinter sich lässt, sich der radikalen Religionskritik erfolgreicher entgegensetzen könnte.

Mehrere Beiträge sind eher vernunft- als religionskritisch, nämlich die von Malte E. Krüger („Schellings theologischer Absolutismus als Religionskritik“, 53-81), Jure Zovko („Friedrich Schlegels ironische Verdachtshermeneutik“, 83-94), Douglas Hedley („Religion: Illusion or Legitimate Longing“, 187-217), Reiner Wimmer („Das Absolute im Diesseits. Zu den Bedingungen und Grenzen unseres religiösen Sprechens und Lebens“, 301-318) und Tom Kleffmann („Religion als menschliche Deutung. Über Sinn und Grenze eines aktuellen religionsphilosophischen Ansatzes“, 285-300). Krüger, Zovko, Hedley und Wimmer wenden sich gegen ein objektivierendes metaphysisches Reden von Gott. Krüger, Zovko und Wimmer setzen in unterschiedlicher Weise den Gedanken der Offenbarung dagegen. Hedley unterscheidet im Blick auf das Religionsverständnis das Aufklärungsmodell und das romantische Modell. Dem ersten ordnet er eine allegorische Deutung von Mythen und Symbolen zu, die davon ausgeht, dass deren Wahrheitsgehalt auch auf andere, nicht-symbolische und nicht-mythische Weise ausgesagt werden könne und müsse; für das romantische Modell, das Hedley vor allem bei Coleridge und Schelling findet, sei dagegen die tautegorische Deutung charakteristisch, nach der „a symbol is self contained and resists translation into anything other than itself“ (190). Kleffmann kritisiert in seinem Beitrag das Verständnis der Religion als Sinndeutung im Horizont des Unbedingten. Diesem Religionsverständnis setzt er einen fundamentalontologischen Offenbarungsbegriff entgegen, nämlich die Annahme einer „alle Wirklichkeit umfassenden Kommunikation von Gott und Mensch“ (299).

Im Resultat läuft auch Folkart Wittekinds Aufsatz „Religionskritik als Kritik der Religionswissenschaft. Karl Barths methodisches Programm der Theologie“ (219-242) auf eine Kritik verobjektivierenden Redens von Gott hinaus. Wittekind analysiert Barths Vortrag „Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke“ aus dem Jahr 1920 und versucht damit einen Beitrag zur Frage nach der Entwicklung von Barths Theologieverständnis zu leisten. Er rekonstruiert Barths Gedanken als Selbstbewusstseins- und Erkenntnistheorie. Am Ende resümiert er den Ertrag seiner Ausführungen für die Religionskritik: „Und die der Theologie immanente Religionskritik steht für den notwendigen Abweis jeden Versuchs, Kultur von einem übergeordneten, sich für objektiv haltenden wissenschaftlichen Distanzpunkt aus zu beschreiben.“ (242) Doch diese Aussage stellt eher eine Kritik der Theologie, Religionsphilosophie und Kulturtheorie dar als eine Kritik der Religion. Der Titel des Aufsatzes weist darauf hin, dass das Wittekind bewusst ist.

Einen direkten Beitrag zur Ausgangsfrage nach Kriterien, die es erlauben, im Blick auf Religionen zwischen besser und schlechter zu unterscheiden, bieten vor allem die Aufsätze von Christiane Tietz („Unzeitgemäße Aktualität. Religionskritik in Zeiten der ‚Wiederkehr der Religion‘“, 243-258) und Christian Danz („Religionsbegriff und Religionskritik in der Theologie der Religionen“, 259-284). Tietz entwickelt eine Kriteriologie im Anschluss an Dietrich Bonhoeffers Religionskritik. Eine Religion sei dann zu kritisieren, wenn sie „sich auf Kosten der Welt“ vollziehe, „zu einer Flucht aus dieser Welt“ verleite, die „Autonomie und Mündigkeit des Menschen rückgängig machen“ wolle und „ihr Gottesverständnis allein aus dem“ ableite, „was Menschen von einem Gott erwarten“ (257). Nach Danz sind Religionen danach zu beurteilen, „ob sie zum Aufbau eines sich selbst durchsichtigen Bewusstseins endlicher Freiheit beitragen“ (283). Weil endliche Freiheit zu ihrer Konstitution der Andersheit bedürfe, schließe dieses Kriterium „Differenzwahrung und Anerkennung von Andersheit“ (ebd.) ein. Auch Krüger erarbeitet in seinem Beitrag Kriterien: Zu kritisieren sei eine Religion, 1. wenn sie „Gott nicht als absolute Freiheit“ auffasse, 2. wenn sie „die freie Eigenständigkeit der Welt in Abrede“ stelle und 3. wenn sie verkenne, dass „ihre Rede von Gott ... untrennbar mit der existenziellen Praxis verbunden“ (80) sei. Mit Eberhard Jüngel lehnt Krüger „die Behauptung der weltlichen Notwendigkeit Gottes“ (78) ab.

Der Dialog zwischen Patrick Horn und Dewi Z. Phillips „Religion and Cultural Completeness“ (351-375) lässt sich als Debatte über ein von Phillips formuliertes Kriterium verstehen. Nach Phillips ist ein religiöser Diskurs in dem Sinne vollständig, dass er seine eigene Grammatik hat und nicht allgemeinen Kriterien der Verstehbarkeit unterworfen werden darf. Er sei aber nicht vollständig in dem Sinn, dass er ein umfassendes Verständnis des menschlichen Lebens bietet, das es erlaubt, andere Lebenskonzeptionen zu kritisieren. Phillips wirft einer solchen Kritik vor, sie lasse anderen Konzeptionen keine „conceptual justice“ (z.B. 361) widerfahren. Horn hält dagegen an dem Recht zur Kritik fest. Zwar ist m.E. Horn grundsätzlich zuzustimmen, aber die Verteidigung seiner Auffassung überzeugt nicht, weil sie die Forderung nach „conceptual justice“ nicht ernst genug nimmt und sich mit einem problematischen Beispiel verbindet, nämlich der These, dass aus christlicher Sicht jede Liebe ohne Gottesliebe notwendig „selfish“ (z.B. 366) sei.

Ein Problem, das der Durchführung von Religionskritik vorausliegt, greift Matthias Petzoldt („Überhaupt religiös? Zur Frage nach der Vorfindlichkeit von Religion“, 329-349) auf. Er bemüht sich um eine differenzierte, nämlich semantische, semiotische und pragmatische Aspekte berücksichtigende Klärung des Religionsbegriffs. Die Klärung soll ermöglichen, vorfindliche Religionen als Religionen zu identifizieren und von Pseudo- und Kryptoreligionen abzugrenzen. Sie soll aber auch vorfindliche Religionslosigkeit identifizierbar machen.

Fazit: Mit dem Band liegt ein Überblick über wichtige Ansätze philosophischer und theologischer Religionskritik vor. Die Beiträge verbindet die Skepsis gegenüber direkten Aussagen über Gott. Abgesehen von dieser Übereinstimmung repräsentieren die Aufsätze recht unterschiedliche, teils gegensätzlich Ansätze, deren Leistungsfähigkeit in der weiteren Diskussion zu überprüfen ist.

Auffällig ist, dass die Aufsätze über den Bereich von Christentum und Judentum hinaus kaum auf konkrete Religionen oder religionswissenschaftliche Forschungen Bezug nehmen. Wenn auf konkrete Religionen Bezug genommen wird, geschieht das meistens im Spiegel der Theorien der behandelten Autoren (z.B. Humes Sicht der Religionsgeschichte, 100-104; Nietzsches Interpretation von Dionysos und Apollo, 157 f. 291-294; Schellings Schrift über die Göttinnen von Samothrake, 194-196). Direktere Bezugnahmen finden sich jeodch bei Wimmer (Zen-Buddhismus, 304; Islam, 310), Türcke (frühe Hinweise auf Opferkulte, 318) und Petzoldt (Scientology und Jugendweihe, 338 f.). Boothe verweist knapp auf einige Klassiker der Religionswissenschaft (Tylor, Frazer, James, Malinowski, 163. 171), Türcke rezipiert die neurophysiologische Religionsforschung (326) und einige Beiträge greifen religionssoziologische Untersuchungen und Theorien auf (bes. Petzoldt). Da nur spärlich auf konkrete Religionen und religionswissenschaftliche Forschungen Bezug genommen wird, bleibt in dem Aufsatzband der religiöse Pluralismus, der doch den Hintergrund der leitenden Fragestellung bildet, blass. Die Ausführungen bewegen sich auf einer allgemeinen Ebene oder orientieren sich am Paradigma von Christentum und Judentum. Die Allgemeinheit ist teilweise dadurch gerechtfertigt, dass es sich um einen religionsphilosophischen und nicht religionswissenschaftlichen Sammelband handelt. Dennoch ist unbefriedigend, wenn auf allgemeiner Ebene Kriterien zur Beurteilung von Religionen entwickelt werden, ohne dass zumindest exemplarisch gezeigt wird, dass sie sich auf konkrete Ausprägungen von Religion anwenden lassen und zu welchen Ergebnissen das führt oder führen könnte. An dieser Stelle muss die „Diskussion um die Beurteilungskriterien religiöser Praxis und Überzeugungen“ (X), zu deren Intensivierung der Sammelband einen anregenden Beitrag leistet, über ihn hinausgehen.


Rezensent:
Michael Hüttenhoff

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