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Ursula Prokop, Zum jüdischen Erbe in der Wiener Architektur. Der Beitrag jüdischer ArchitektInnen am Wiener Baugeschehen 1868–1938, Wien 2016, 274 S., 35.- €, ISBN: 978–3–205–20265–3


Ursula Prokop legt mit ihrer Studie eine „kulturhistorische Überschau“ für das Wirken der in Wien tätigen Architekten jüdischer Herkunft vor. An dieser Stelle versteht sie ihren Band als Ergänzung der bisherigen Forschung, die bisher vor allem die Rolle jüdischer Mäzene und Bauherren für die Kultur des Wiener fin de siècle untersuchte, nicht jedoch die Leistungen jüdischer ArchitektInnen. Ferner versteht sie das vorliegende Buch als eine Weiterführung des Lexikons In Wien gebaut von Helmuth Weihsmann von 2005 und insbesondere der Datenbank Architektenlexikon, Wien 1770–1945, die im Rahmen eines Forschungsprojektes am Architekturzentrum Wien (AzW) mit Hilfe der Förderung durch den Wissenschaftsfonds FWF von 2003 bis 2013 realisiert wurde und an der sie federführend mitgearbeitet hat. Zentral ist dabei für die Kulturhistorikerin die über die bisherige Emigrationsforschung hinausgehende Verknüpfung der rekonstruierten Lebenswege mit den realisierten und projektierten Bauten der „jüdischen Österreicher“.

Um das umfassende und kleinteilige Recherchekonvolut in die Form eines Buches überzuleiten, strukturiert Prokop ihre Mikro-Untersuchungen zum einen chronologisch und zum anderen nach Gruppierungen, Bautypen, Schulen und Positionierungen im kulturellen Geschehen der Donaumetropole. Diese kulturhistorische Perspektive verlässt die Autorin allerdings im Rahmen der letzten Kapitel, wenn einer deutlich biographischen Darstellungsweise nach „Opfern“ und „‘Emigranten‘ mit Erfolgsgeschichte“ während der Geschehnisse um den sogenannten „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland nachgegangen wird.

Als kulturelle Geburtsstunde wird der sogenannte „Ausgleich“ von Österreich-Ungarn von 1867 an den Anfang der Untersuchung gestellt. Er gewährleistete eine rechtliche Gleichstellung der Juden in der Doppelmonarchie, die sich insbesondere über die freie Berufswahl und das Niederlassungsrecht für Juden auszeichnete. Den Auftakt der Analysen macht daher auch Wilhelm Fraenkel (1844–1916), der 1868 als einer der ersten Juden die Baumeisterkonzession erwerben konnte. Ein weiteres Argument für seine Darstellung als relevante ‚Geburtsfigur‘ für diese kulturhistorische Studie ist der Umstand, dass Fraenkel als Architekt des Hotels Sacher ein kulturelles Epizentrum Wiens gestaltete.

Mit Karl König, der als Professor an der Technischen Hochschule von circa 1866 bis 1913 zur zentralen Lehrerfigur der folgenden jüdischen Architektengenerationen wurde, zeichnet die Verfasserin ein vielschichtiges Porträt eines in Wien geborenen, assimilierten und konfessionslosen Juden. Als zentral für seine Positionierung im Wiener Kulturleben wird daher auch seine „traditionsverbundene Haltung“ zur Habsburgermonarchie hervorgehoben, die sich insbesondere aus den Motivationen der Ringstraßengesellschaft erklären. Die Palais Todesco, Ephrussi und Epstein werden daher auch als berühmte, steingewordene Belege eines selbstbewussten Assimilationswunsches der ersten jüdischen Generation des Liberalismus stellvertretend von Prokop angeführt.

Im Kontrast zu König wird der Architekt Otto Wagner als Professor an der Akademie der bildenden Künste im Sinne eines progressiven, modernen Gegenparts gezeichnet. Überzeugend formuliert Prokop die Frontstellung zweier Schulen. Dieses von ihr als „Antagonismus“ bezeichnete Phänomen kann die Verfasserin mit konkreten Zahlenverhältnissen belegen. Während eine Großzahl jüdischer Architekten bei König bis zur Promotion nachgewiesen ist, findet sich in Wagners Meisterschule mit Ernst Lichtblau (1883–1963) wohl lediglich ein einziger jüdischer Schüler. Im Rahmen des Kapitels zu den Schülern Königs ist jedoch auffällig, wie oft die Architekten der König-Schule sich durch die Formensprache Otto Wagners inspirieren ließen und wiederholt aktuelle Tendenzen der Wiener Moderne aufgriffen. Hier seien nur zwei der von Prokop erwähnten ‚Grenzgänger‘ beispielhaft angeführt: An Oskar Marmoreks (1863–1909) Rüdiger-Hof sind etwa die Reminiszenzen an das architektonische Vokabular der Wagner-Schule von der blockhaften Ausbildung des Baukörpers bis hin zur graphischen Durchgestaltung der Fassade überdeutlich abzulesen. Weiterhin wird die Orientierung an den Entwicklungen der Wiener Moderne besonders augenscheinlich beim Werk Arnold Karplus‘ (1877–1943), der bis zum Ersten Weltkrieg vielmehr traditionsverbunden arbeitete und spätestens mit seiner Villa Krasny von 1928 eine radikale Kehrtwende zu einer avantgardistischen Architekturhaltung á la Adolf Loos vollzog. Die Gruppierung der jüdischen Schüler Karl Königs über Bauaufgaben überzeugt. Im Hinblick auf eine kulturwissenschaftliche Perspektive wäre dennoch als eigener Erzählstrang ein Ausloten der Rollen Königs und Wagners für diese Architektengeneration erhellend gewesen.

Dies ist ebenso für den späteren Verlauf der Studie im Falle der prominenten Architekten Josef Hoffmann und Adolf Loos zu konstatieren. Loos wird im Rahmen der einzelnen Architektenbiographien als Lehrer aufgeführt. Seine Bauschule verdichtet sich für den Leser damit zu einem progressiven Ort der Moderne, der sich frei von Konfessionsfragen positionierte. Insbesondere der Abschnitt zur Zusammenarbeit von Ernst Epstein (1881–1938) und Adolf Loos ist eine wertvolle Ergänzung der Forschung. Epsteins Paulanerhof von circa 1910, der somit zeitgleich zu seiner Mitarbeit an Loos‘ berühmten Haus am Michaelerplatz erbaut wurde, zeigt eine Version der dort demonstrierten zwischen Säulen gestellten bay-windows. Die Fenster bilden gar eine von der Fassade zurückspringende Negativ-Variante der Loos‘schen Fensterformen, die selbst vermutlich eine Reaktion auf Max Fabianis Fenster des Artaria-Hauses (Kohlmarkt 9) gewesen sind. Prokop betont hier eine bisher in der Forschung völlig vernachlässigte architektonische ‚Spolie‘ für das skandalumwobene Haus am Michaelerplatz. Der Architekt und Kulturakteur Josef Hoffmann wird dagegen in Hinsicht auf seine Positionierung zum kulturellen Beitrag seiner jüdischen Kollegen fallweise ambivalent gezeichnet. Jedoch kann sich dies der Leser lediglich über eine punktuelle Lesart des Buches unter Zuhilfenahme des Namenverzeichnisses erarbeiten. Eine zusammenfassende Darstellung in Hinblick auf eine kulturhistorische Darstellung des kulturellen Umfeldes, in dessen Rahmen sich die jüdischen Architekten positionieren mussten, wäre wünschenswert gewesen.

Besonders hervorzuheben ist das Kapitel „Frauen als Pioniere auf dem Gebiet der Architektur“. An dieser Stelle leistet Prokop trotz einer durch Namens- und Berufswechsel erschwerten Recherchearbeit zumindest einen Anriss einiger Positionen von Architektinnen im Wiener Kulturleben. Ella Briggs (1880–1977), die als Architektin des Roten Wien in Erscheinung tritt, und Friedl Dicker (1898–1944), die zusammen mit Franz Singer (1899–1954) den avantgardistischen Bau des Tennis-Club Heller in Hietzing verwirklichen konnte, sind hier gerade als praktizierende Architektinnen prononciert. Weiterhin werden mit Jacqueline Groag (1903–1986) und Regina Renate Wiener (1871–1941) zwei Architektinnen aufgegriffen, die letztlich als Kunstgewerblerinnen beziehungsweise ausschließlich als Innenarchitektinnen beruflich Fuß fassten.

Der gesamte Band ist von einer Sensibilität für die Begrifflichkeiten gekennzeichnet. Stets werden dem Leser die Entscheidungen der Autorin über ein abwägendes Pro und Contra reflektiert vor Augen geführt. Daraus resultieren jedoch gelegentlich Redundanzen. Insbesondere das Narrativ der Lebensumstände verliert darüber mitunter seine individuelle Relevanz und erinnert daher vielmehr an die schematisierte Textform von Lexikoneinträgen. Streckenweise stellt sich der Eindruck einer Aneinanderreihung von Biographien ein, der sich auch nicht über die kurzen Analysen der Bauten, die dann und wann sogar nur als Aufzählungen zu bezeichnen sind, zerstreut. Grundsätzlich liegt gerade hierin sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Publikation. Die enorm breitangelegte Studie überzeugt über die Begabung der Autorin zur Darstellung eines äußerst vielschichtigen und komplexen Kulturnetzes ohne verkürzende Verallgemeinerungen. Dies wird eloquent im Falle der „zweiten Wiener Moderne“ und vor allem an den Entwicklungen rund um die Wiener Werkbundsiedlung aufgezeigt. Abschließend ist festzustellen, dass jedem, der sich einen detaillierten Überblick über die weit verzweigten Architektenkreise des Stadtgefüges Wien von der Ringstraßenära bis über die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs hinaus verschaffen möchte, dieser Band als substanzieller Beitrag nahegelegt sei.

Zur Rezensentin:
Dr. Lil Helle Thomas, geb. 1981, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am kunsthistorischen Institut der Universität des Saarlandes.

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