Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie, Köln / Weimar /Wien: Böhlau Verlag 2017, 661 S., 39,00 €, ISBN 978-3-412-50209-6
Eine wissenschaftliche Biographie Leonid Breschnews, des langjährigen Generalsekretärs der KPdSU und von 1977 bis zu seinem Tod 1982 auch Präsidenten der Sowjetunion, gab es bislang noch nicht. Susanne Schattenberg, Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen, hat sich dieser Forschungslücke angenommen und in langjähriger Recherche in den einschlägigen Archiven Russlands, der Ukraine, Moldawiens, Kasachstans, Deutschlands und Frankreichs den Lebensweg und das Wirken dieser Schlüsselfigur der sowjetischen Geschichte in der Post-Stalin-Ära rekonstruiert. Die Unzugänglichkeit zentraler Bestände des Russischen Staatsarchivs für Zeitgeschichte, des russischen Staatssicherheitsarchivs und des Archivs des Außenamtes der Russischen Föderation konnte sie durch den Zugriff auf ehemals regionale Archive und die überaus zahlreichen Zeugnisse ehemaliger Weggefährten Breschnews zumindest teilweise kompensieren. Dank sorgfältiger Analyse all dieser Quellen ist ihr nicht nur ein neues Bild Breschnews gelungen, das auch nach der Erschließung jener Bestände gültig bleiben wird, die bislang noch nicht eingesehen werden können. Sie bietet auch zahlreiche weiterführende Aufschlüsse zur Funktionsweise und zur Entwicklung des sowjetischen Herrschafts- und Gesellschaftssystems sowie zur Regierungsweise und zu den Machtkämpfen an der Spitze des Sowjetstaates.
Leonid Breschnew war der älteste Sohn eines Angehörigen der russischen Arbeiterintelligenz, der an der Wende zum 20. Jahrhundert zur Arbeit im Eisenhütten- und Schienenwerk von Kamenskoje am Dnjepr gekommen war. Er hatte folglich keine klassische „proletarische“ Biographie aufzuweisen, sondern gehörte, wie Susanne Schattenberg überzeugend nachweist, zur nachwachsenden Bildungselite der jungen Sowjetunion, der infolge der revolutionären Umbrüche und mehr noch der mörderischen Säuberungswellen unter Stalin rasch immer größere Verantwortung zuwuchs. Mit 26 Jahren, noch während des Studiums an einer Fakultät für Wärmekraft, wurde er Direktor einer Arbeiterfakultät, mit 30 begann er eine Karriere in der Stadt- und Gebietsverwaltung seiner ukrainischen Heimat. Im Krieg leitete er die Politverwaltung unterschiedlicher Armeeeinheiten, danach bewährte er sich als Erster Sekretär schwieriger Gebiete, von 1950 an als Erster Sekretär der Republik Moldawien. Die entscheidende Antriebskraft für diesen Aufstieg war nicht Karrierestreben und schon gar nicht revolutionärer Eifer, sondern schlicht der Erfolg: Breschnew war ein fundamentaler Pragmatiker, ein Kümmerer und ein Organisator. Mit einer Kombination von gesundem Menschenverstand, Gerechtigkeitssinn und Findigkeit gelang es ihm besser als vielen anderen Parteifunktionären, die Menschen seines jeweiligen Verantwortungsbereichs zur Erfüllung der eigentlich unerfüllbaren Planvorgaben aus Moskau anzuhalten; und das wiederum qualifizierte ihn aus Moskauer und zuletzt auch Stalins Sicht für immer höhere Aufgaben. Der starke Druck, der von Stalins beständiger Suche nach Volksverrätern ausging, führte dazu, dass er sich auch persönlich bis zum Äußersten verausgabte und seine Gesundheit ruinierte. Mit 45 Jahren erlitt er einen Herzinfarkt.
Nachdem der Druck durch Stalins Tod weggefallen war, blieb die Sorge um die Überwindung der ärgsten materiellen Not und das Erlangen eines – wenn auch bescheidenen – Wohlstands Breschnews Hauptanliegen. Das gilt sowohl für die Jahre unter Chruschtschow, in denen er zunächst als Erster Sekretär der Republik Kasachstan und dann als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets agierte, als auch für seine Jahre als Generalsekretär. Die Quellen zeigen ihn hier unermüdlich im Einsatz – und befangen in dem Irrglauben, dass mit besserem Willen, größerem Verständnis und stärkerem Einsatz der Kader allein bessere Ergebnisse zu erzielen seien. Dass die Planwirtschaft mit einem Systemfehler behaftet war, hat er offensichtlich bis zum Schluss nicht erkannt, auch wenn seine Nichte Ljubow Breschnewa behauptet, er habe in den späten 1970er Jahren im Hinblick auf die Errichtung des Kommunismus keine Illusionen mehr gehabt. Die Berufung Gorbatschows zum ZK-Sekretär für Landwirtschaftsfragen im November 1978 und dessen rasche Beförderung im Politbüro entspricht voll und ganz Breschnews Kaderphilosophie: Er brauchte fähige Mitarbeiter, und die waren nicht leicht zu finden.
Im Hinblick auf die Außenpolitik bestätigt Schattenberg, was bislang schon zu sehen war: Breschnew ging es in erster Linie um Friedenssicherung, und das hieß in seinem Verständnis Wahrung des sowjetischen Herrschaftsbereichs in Europa, Entwicklung der Zusammenarbeit mit den Westmächten und Rüstungsbegrenzung auf der Grundlage des militärischen Gleichgewichts. Expansionistische Ambitionen sind bei ihm nicht zu erkennen. Er hatte wohl vage Hoffnungen, dass sich Länder der Dritten Welt nach der Befreiung vom Kolonialismus dem Sozialismus zuwenden würden; aber gezielte Strategien waren damit nicht verbunden – auch nicht beim Einmarsch in Afghanistan, den das Trio Gromyko – Andropow – Ustinow in einem Moment physischer und psychischer Erschöpfung des Generalsekretärs durchsetzte. Deutlicher als in bisherigen Arbeiten zur Entspannungspolitik wird herausgearbeitet, dass Breschnew bei seiner Politik der Friedenssicherung nahezu ausschließlich auf persönliche Kontakte und den Aufbau von Vertrauensverhältnissen zu den Führern des Westens setzte, das hieß zunächst auf Brandt, Pompidou und Nixon. Die guten Beziehungen zu diesen Führern musste er gegen den Widerstand der Ideologen im Politbüro und den eigentlich für Außenpolitik zuständigen Regierungsmitgliedern (Kossygin und Gromyko) durchsetzen. Umso verheerender waren die Rückschläge, die der Rücktritt Brandts, der Tod Pompidous und der Abgang Nixons für ihn bedeuteten.
Dass sich die sowjetische Entspannungspolitik von diesen Rückschlägen vor dem Amtsantritt von Gorbatschow nie mehr so ganz erholt hat, führt Schattenberg – auch dies überzeugend – darauf zurück, dass Breschnew vom Herbst 1974 an seine Tablettensucht nicht mehr in den Griff bekam. Sie war die entscheidende Ursache für die Ausfälle und die Gebrechlichkeit, die nun rasch offenkundig wurden und die ihn daran hinderten, zu Schmidt, Giscard d’Estaing und Carter das gleiche Vertrauensverhältnis aufzubauen, das er bei ihren Vorgängern genossen hatte. Ohne konstante Erneuerung des Vertrauens schlich sich rasch neues Misstrauen in das Ost-West-Verhältnis ein, das dann bei den geringsten Anlässen eskalieren konnte. Breschnews persönlichem Verfall haften umso mehr tragische Aspekte an, als er zu einem Zeitpunkt einsetzte, zu dem er seine Widersacher im Politbüro weitgehend ausgeschaltet bzw. unter Kontrolle gebracht hatte. Gromyko hatte sich mit sicherem Gespür für die Entwicklung der Machtverhältnisse im Frühjahr 1973 auf seine Seite geschlagen.
Schattenberg arbeitet in diesem Zusammenhang auch heraus, dass Breschnew die Kunst der kollektiven Führung beherrschte: die Einbindung rivalisierender Clanchefs in gemeinsame Entscheidungen verbunden mit der strategischen Platzierung der eigenen Vertrauten und einem bewusst demütigen Auftreten als Sprecher des Kollektivs. Mit dem Aufstieg zur unumstrittenen „Nr. 1“ der Sowjetführung war geradezu unvermeidlich die Entwicklung des Personenkults verbunden. Er war „sowohl ein Akt der Selbstunterwerfung des Gefeierten als auch ein Akt seiner Ermächtigung, diese Unterwerfung von Politbüro und ZK zu verlangen. Der Personenkult brachte also zusätzliche Stabilität in die Führungsspitze“ – und ließ das Herrschaftsszenario „endgültig erstarren“ (S. 578). So erklären sich sowohl die Stagnation der späten Breschnew-Ära als auch die zunehmende Unzufriedenheit mit einem Herrschaftssystem, das doch auf umfassende Fürsorge hin angelegt war.
Die außenpolitischen Entscheidungssituationen der Breschnew-Ära werden nicht immer mit der Präzision nachgezeichnet, die angesichts der jetzt verfügbaren Quellen möglich wäre. Das schmälert aber nicht die gewaltige Forschungsleistung, die Susanne Schattenberg erbracht hat. Ihre Breschnew-Biographie stellt einen Meilenstein in der Erforschung der Geschichte der Sowjetunion dar. Ihr ist weite Verbreitung zu wünschen, nicht nur im deutschsprachigen Raum sondern auch darüber hinaus, nicht zuletzt in der Russischen Föderation.
Zum Rezensenten:
Prof. Dr. Dr. h.c. Wilfried Loth, geb. 1948, ist Professor für
Neuere Geschichte an der Universität Essen.
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