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Stefan Gerber, Pragmatismus und Kulturkritik. Politikbegründung und politische Kommunikation im Katholizismus der Weimarer Republik (1918-1925) (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte, NF, H. 26), Paderborn: Ferdinand Schöningh  2016, 418 Seiten, EUR: 54,00, ISBN: 978-3-506-78267-0

Bei diesem Buch von Stefan Gerber handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2013 an der Universität Jena (Hans-Werner Hahn) angenommen wurde.

Seine Fragestellung dreht sich um die „Innovations- und Anpassungsleistung, die dem Katholizismus aufgrund einer in Jahrzehnten etablierten besonderen ‚politischen Kultur‘ [zu Beginn der Weimarer Republik] möglich wurde“ (S.17). Es habe ein „weltanschauliches ‚Substrat‘ des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik“ gegeben, dem in „zerstreuten Aussagen unterschiedlichster Art“ (S. 31) nachgespürt werden müsse. Das wolle er in seiner Arbeit leisten.

Der Autor hat sein Werk als eine „ideen- und diskursgeschichtliche Untersuchung“ (S. 12) angelegt, die sich am Konzept einer „‘neue[n]‘ Ideengeschichte, die dem Sprachhandeln einen zentralen Platz in der Untersuchung politischer Prozesse“ (S. 13) orientiert, bedient. Die Quellen seiner Untersuchung sind größtenteils publizistischer Natur, er verwendet aber auch einige Archivmaterialien.

Im zweiten Kapitel seines Buches beschreibt er den „Pragmatismus als politische Kultur“ (S. 34- 128) des politischen Katholizismus. Darin erläutert er zunächst die Herkunft der nach der Novemberrevolution von der Zentrumspartei benutzten Formel, es sei nötig, sich auf den „Boden der Tatsachen“ zu stellen.  Er geht der Genese dieses Ausdrucks bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, der Transformation der Formulierung vom „Boden des Rechts“ zum „Boden der Tatsachen“ bis Mitte des 19. Jahrhunderts nach und beschreibt, wie Wilhelm Emmanuel von Ketteler sich in seiner Schrift „Deutschland nach dem Kriege von 1866“  dieser Formel bediente, um die deutschen Katholiken mit Bismarcks nationaler Einigungspolitik und der „Revolution von oben“ zu versöhnen.  Gerber schildert die Verwendung der „Boden-Formel“ in der Politikbegründung des politischen Katholizismus in der Weimarer Republik und die Argumentation innerkatholischer Gegner, die den Pragmatismus der Zentrumspolitik scharf kritisierten. Insbesondere geht er auf die Polemik des Straßberger Pfarrers Philipp Haeuser ein. Gerber führt auch breit aus, wie der Mainzer Bischof von Ketteler als Vorbild eines katholischen Pragmatismus in der Weimarer Republik diskutiert wurde.

Im dritten Kapitel, in dem er die Stellung des politischen Katholizismus zum Revolutionsereignis von 1918 beleuchtet, erklärt Gerber zunächst, dass er die Themen des sog. Verfassungsstreits im deutschen Katholizismus um Volkssouveränität und Gottesbezug der Weimarer Reichsverfassung „nicht noch einmal auf[rollen]“ wolle, gehe es ihm doch um die Bedeutung des Diskurses über die Revolution „als Gegenstand der politischen Kommunikation des Katholizismus“ (S. 130). Er zeichnet die Auseinandersetzung mit dem Thema „Revolution“ in der zeitgenössischen katholischen Moraltheologie nach, die eine strikt ablehnende Haltung einnahm, aber ebenso den Umsturz einer nach der Revolution rechtmäßig errichteten Ordnung zurückwies. Diese Trennung von Revolution und verfassungsmäßiger Grundlegung der Weimarer Republik ermöglichte in Übereinstimmung mit kirchlicher Lehre pragmatisches Handeln. Wie diese theologischen Lehren politisch popularisiert wurden, berichtet Gerber ebenso wie die Propagierung eines Providenzvertrauens auf die unergründlichen Wege Gottes in der Geschichte, die sich auch in der Akzeptanz der politischen Realität der Weimarer Republik zeigen könne. Er analysiert die Bedeutung von Chaos-Angst und Bolschewismus-Furcht für die Propagierung der pragmatischen Zentrumslinie, ebenso das Werben mit den verfassungs-, sozial- und frauenpolitischen Erfolgen der Zentrumspolitik. Er zeigt allerdings auch, dass die Propagierung der Erfolgsgeschichte der Zentrumspolitik  innerhalb des Katholizismus fundamental infrage gestellt wurde, z.B. von Michael Kardinal von Faulhaber 1922 auf dem Münchner Katholikentag. Positive Wertungen der Revolution schildert Gerber bei katholischen Schriftstellern (Friedrich Dessauer, Friedrich Schreyvogl, Anton Heinen, Theodor Brauer). Schließlich zeichnet Gerber nach, wie im Katholizismus nach 1918 über die Erfahrung des Kaiserreichs kommuniziert wurde. In diesem Diskurs wurde nicht nur Kritik an der Marginalisierung des katholischen Volksteils im protestantischen Kaiserreich geäußert, sondern auch sozialkonservative Militarismus- und Kapitalismuskritik.

Im vierten Kapitel geht Gerber schließlich auf „Pragmatismus als katholische Weltanschauung“ ein. Er erläutert die Bedeutung des Diskurses über eine „katholische Weltanschauung“ in der Zeit vor 1914 zur Abwehr integralistischer Angriffe auf das Zentrum und die christlichen Gewerkschaften. Für die Weimarer Republik geht er breit auf die Werke von Romano Guardini, Peter Lippert und Karl Adam über Fragen einer katholischen Weltanschauung und das Wesen des Katholizismus ein. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Ganzheitsdenken und Wirklichkeitsorientierung dieser theologisch-philosophischen Entwürfe den Pragmatismus der Zentrumspolitik unterstützt hätten. Schließlich weist er in diesem Kapitel auch darauf hin, dass ab 1925 in der Zentrumspartei die Argumentationsfigur vom „Boden der Tatsachen“ als Politikbegründung von der Propagierung des Zentrums als „schöpferische Mitte“ des Weimarer Parteienspektrums abgelöst wurde.

Gerber hat eine erhebliche Anzahl von zeitgenössischen Schriften aus dem Bereich des Katholizismus ausgewertet und daraus ausgiebig zitiert. Es ist schade, dass der Band kein Personenregister enthält. Das hätte die Rezeption des in ihm ausgebreiteten Materials erheblich erleichtert.

Kritik ist daran zu üben, dass Gerber die Fragestellung seines Buches nicht systematisch entwickelt, sondern quasi in zwei Nebensätzen (S. 17 und 31) erwähnt. Im Abschnitt „Forschungsstand“ in der Einleitung gibt er lediglich einen groben Überblick über Forschungen zum Katholizismus in der Weimarer Republik. Über das, was zu seiner speziellen Fragestellung („Innovations- und Anpassungsleistung des Katholizismus nach 1918“ und „politische Kultur“ des Katholizismus) in der bisherigen Forschungsliteratur zu finden ist, gibt dieser Abschnitt keine Auskunft. Wäre Gerber den Fragen nach dem „Pragmatismus“ der Zentrumspolitik und der „politischen Kultur“ des Katholizismus in der bisherigen Forschungsliteratur systematisch nachgegangen, wäre er unweigerlich auf die Frage nach der Bedeutung der Kulturkampferfahrung für eine politische Kultur des Katholizismus gestoßen. So lässt er dieses wichtige Thema außen vor. Er hätte sich dann auch mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob es im Bereich des Katholizismus schon vor 1914, besonders aber nach 1918, eine oder mehrere „politische Kulturen“ gegeben hat und ob Personen wie Romano Guardini oder Karl Adam überhaupt als Repräsentanten einer pragmatischen Zentrumspolitik in Anspruch genommen werden können, lag ihnen doch nichts ferner als dies. Ebenso bleiben zentrale Begriffe der Untersuchung unscharf, etwa der Revolutionsbegriff. Bei der Darstellung positiver Wertungen der „Revolution“ rekurriert Gerber auch auf die Schriften des österreichischen integralistischen Schriftstellers und späteren NS-Aktivisten Friedrich Schreyvogl, der Mitte der  1920er Jahre von einer „katholischen Revolution“ träumte, und auf Schriften Anton Heinens und Theodor Brauers, die 1932 und 1933 vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Revolutionsrhetorik ihre positiven Wertungen artikulierten. Dabei verschwimmt in der Darstellung, ob die Rede von der „Revolution“ sich auf die Novemberrevolution, das Projekt einer „konservativen Revolution“ oder die nationalsozialistische „Revolution“ bezieht.  

Schließlich ist zu vermerken, dass dieser 26. Band der von der Görres-Gesellschaft herausgegebenen Schriftenreihe offenbar nur unzulänglich lektoriert wurde. Dies hat zu einer Vielzahl ärgerlicher formaler Fehler geführt, welche die Lektüre erheblich beeinträchtigen.[1]

Gerber hat in seiner Einleitung zu Recht herausgestrichen, dass eine „‘neue‘ Ideengeschichte“ – im Anschluss an Günther Lottes – „konkret historisch verortet“ (S. 13) werden müsse. Dies hat er allerdings in Anlage und Ausführung seiner Studie nicht geleistet.


Zum Rezensenten:
Dr. August H. Leugers-Scherzberg, geb. 1958, Historiker und katholischer Theologe, Herausgeber von theologie.geschichte, z.Zt. Lehrstuhlvertreter im Fach Kirchen- und Theologiegeschichte an der Universität des Saarlandes.

[1] Es werden Silben über Seitenumbrüche hinweg, in vier aufeinanderfolgenden Zeilen, falsch oder wie es der Duden nicht empfiehlt, getrennt. Es fehlen Worte, sind falsch oder doppelt eingefügt. Leerzeichen oder Anführungszeichen fehlen oder sind falsch gesetzt. Worte werden falsch geschrieben oder unkorrekt dekliniert.

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