theologie.geschichte - Zeitschrift für Theologie und Kulturgeschichte

Wilhelm Solms

„Sie sind zwar getauft, aber...“ Die Stellung der Kirchen zu den Sinti und Roma in Deutschland

(Anmerkung der Redaktion: Zum Thema des Beitrags findet vom 31. März bis 2. April 2006 auch eine Tagung statt, auf die wir Sie hiermit freundlich hinweisen möchten, )

Warum haben die beiden deutschen Kirchen bei der Deportation der deutschen Sinti und Roma geschwiegen und bei ihrer Aussonderung sogar mitgeholfen? Diese Frage kann von den Kirchenvertretern auf Dauer nicht verdrängt werden. Denn die deutschen Sinti und Roma, die in die Vernichtungslager geschickt wurden, waren nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern zugleich Christen, und zwar überwiegend, zu neunzig Prozent, Katholiken. Trotzdem wurde diese Frage in der Theologie, in anderen Wissenschaften und in der Öffentlichkeit bisher kaum gestellt, geschweige denn beantwortet.

Ich bin dankbar, wenn die folgenden Ausführungen stellenweise korrigiert und durch positive Beispiele ergänzt werden. Denn ich bin mir bewusst, dass ich als Literaturwissenschaftler diesem Thema kaum gewachsen bin. Doch nachdem ich seit anderthalb Jahren mehr als ein Dutzend Kirchenhistoriker vergeblich gebeten habe, dieses heiße Eisen endlich anzufassen, will ich es selbst versuchen. Ich habe zusammentragen, was von den Schriftstellern Reimar Gilsenbach und Michael Krausnick, dem Historiker Wolfgang Wippermann[1], dem evangelischen Pfarrer Andreas Hoffmann-Richter[2] und anderen publiziert wurde, und darüber nachgedacht.

Ich beginne mit der Zeit des Nationalsozialismus. Denn zunächst muss ich die Behauptung, dass die Kirchen eine Mitschuld trifft, beweisen. Dann behandle ich die Stellung der Kirchen zu den Sinti und Roma von der frühen Neuzeit bis 1933, weil hier die Antwort auf die an den Anfang gestellte Frage zu suchen ist. Zuletzt werfe ich einen Blick auf die Zeit nach 1945, um herauszufinden, warum sich die Kirchen so spät zu ihrer Mitschuld bekannt haben und warum die Kirchenhistoriker die Rolle der Kirchen bis heute beschönigen oder verschweigen.


Das Schweigen der Kirchen bei ihrer Deportation und Vernichtung

Was haben die Kirchen getan, als die Sinti und Roma im Mai 1940 aus den westlichen und nordwestlichen Grenzgebieten nach Polen in Arbeitslager und im März 1943 aus ganz Deutschland in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden?

Von den Repräsentanten der Evangelischen Kirche sind bisher keine Zeichen des Widerspruchs bekannt. Selbst die Vertreter der „bekennenden Kirche“ wie Pfarrer Dietrich Bonhoeffer, der sich wegen der Ermordung der Behinderten und der Juden dem militärischen Widerstand anschloss und deshalb hingerichtet wurde, haben sich zur Deportation der Sinti und Roma nicht geäußert. Für die anderen Widerstandskreise wie den Freiburger Kreis, den Kreisauer Kreis, die studentische Gruppe „Weiße Rose“ und den militärischen Kreis um Graf Stauffenberg gilt das Gleiche.[3]

In der katholischen Kirche haben weder der Vatikan noch die Deutsche Bischofskonferenz die Ausgrenzung, Deportation und Vernichtung der überwiegend katholischen Sinti und Roma öffentlich verurteilt. Zwei Bischöfe haben immerhin den Versuch gemacht, den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Bertram, zu einem öffentlichen Protest zu bewegen.

Am 6. März 1943, wenige Tage vor der Deportation, schrieb der Hildesheimer Bischof Machens dem Vorsitzenden den folgenden bedenkenswerten Brief: „In den letzten Tagen sind an vier Stellen meiner Diözese - es können mehr sein - katholische Zigeunerkinder aus Heimen und Pflegestellen abgeholt worden durch die Polizei. Man befürchtet sehr, dass ihr Leben in Gefahr ist. [...] Ich frage mich seit Tagen beklommenen Herzens, was kann geschehen, um unsere Glaubensbrüder zu schützen und zugleich vor unseren Gläubigen deutlich genug herauszustellen, dass wir weit von solchen Maßnahmen abrücken, die nicht nur Gottes- und Menschenrechte missachten, sondern das moralische Bewusstsein im Volke untergraben und Deutschlands Namen schänden. Aus Liebe zum Deutschtum und zur nationalen Würde müssen wir nicht nur zur Regierung in Ehrerbietung und Offenheit reden, sondern ebenso zu unseren Gläubigen. Die armen Opfer dürfen nicht den Vorwurf erheben können, dass nicht alles geschehen sei. Es darf in der deutschen Öffentlichkeit nicht der Eindruck entstehen, als wagten wir nicht laut das ‚Non licet tibi’ zu sprechen, oder als sei es das deutsche Volk selbst, das hinter den Maßnahmen gegen die Nichtarier stehe. Die Regierung selber muss es wissen, dass die Bischöfe genötigt sind, laut zu ihren Gläubigen zu sprechen, wenn die Maßnahmen fortgesetzt werden, weil sie diese Belehrung unserer Herde schuldig sind und von Gott zu Schützern der Bedrängten bestellt sind.“[4]

Bischof Machens gibt auf seine Frage, was geschehen kann, das heißt was die Kirche tun kann, eine klare Antwort, die vier Seiten berücksichtigt. Sie muss sich schützend vor „unsere Glaubensbrüder“, die bedrohten Sinti-Kinder, stellen, sie muss vor ihren „Gläubigen“ deutlich herausstellen, dass sie solche verbrecherischen Maßnahmen verurteilt, sie muss der Regierung offen sagen, dass sie diesen Verstoß gegen „Gottes- und Menschenrechte“ nicht duldet, und sie darf in der „deutschen Öffentlichkeit“ nicht den Eindruck entstehen lassen, dass sie es nicht wagte, offen zu protestieren. Er denkt aber nicht daran, dass die Bischöfe durch eine solche Reaktion sich selbst in Gefahr bringen könnten.

Angenommen, die Deutsche Bischofskonferenz hätte dementsprechend gehandelt. Vielleicht hätte sie die Regierung zögern lassen und die in katholischen Heimen untergebrachten Sinti-Kinder gerettet, auf jeden Fall hätte sie die rassistischen Völkermorde der Regierung aufgedeckt und ihr eigenes Ansehen bei den Gläubigen und in der Öffentlichkeit bewahrt. Dass sich die Regierung nicht durch geheime bischöfliche Eingaben, wohl aber durch einen öffentlichen Protest beeindrucken ließ, hat die Wirkung der Predigten von Bischof Galen gegen die Euthanasie bewiesen. Kardinal Bertram schlug jedoch stattdessen ein gemeinsames Hirtenwort vor, welches, nachdem der Entwurf entschärft worden war, am 19. August 1943 beschlossen wurde. In dem Hirtenbrief, der in Hildesheim schließlich am 19. und 26. September 1943 von den Kanzeln verlesen wurde, ist der Anlass des Protestes, die Deportation der Hildesheimer Sinti-Kinder, nicht mehr erkennbar.[5] Am 5. April 1943 setzte sich der Freiburger Erzbischof Gröber in zwei Schreiben an den Kommissar der Fuldaer Bischofskonferenz, Bischof Wienken mit „Nachricht an Erzbischof von Breslau“ (Kardinal Bertram) dafür ein, dass die in Freiburg „wohlgelittene“ Familie Reinhardt von der Deportation ausgenommen wird. Der Kommissar der Bischofskonferenz antwortete, er habe den Vorgang „an zuständiger Stelle“ besprochen und sehe leider „keine Möglichkeit, dass dieser Vorfall als Einzelfall bearbeitet werden kann“.[6] Demnach registrierte er, dass es sich um einen Völkermord handelte, der keine Ausnahme zuließ, war aber nicht bereit oder befugt, dagegen zu protestieren.

Ich habe auch nach Hilfeleistungen und Rettungsaktionen einzelner Pfarrer gesucht und bisher nur drei Beispiele gefunden.[7] Der katholische Pfarrer Arnold Fortuin aus Illingen im Saarland, der 1965 der erste „Nationalseelsorger“ wurde, hat Sinti versteckt und ihnen über die Grenze nach Frankreich geholfen.[8] Der evangelische Pfarrer Hermann Witte aus Magdeburg hat sich im November 1938 beim Reichskriminalpolizeiamt in Berlin in mehreren Gesuchen für die Freilassung von Magdeburger Sinti eingesetzt, die im Zuge der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ verhaftet worden waren.[9] Ein belgischer Priester hat „falsche Schweizer Pässe für Hunderte von Sinti“ ausgestellt, um sie vor der Deportation zu retten. Er „zerstörte auch alle Register, um die Entdeckung der Roma, Sinti und Travellers zu verhindern.“[10] Vermutlich gab es noch andere. Ich kann nicht verstehen, warum solche Beispiele von der Kirche nicht gesammelt und publiziert werden.


Die Mithilfe von Kirchenvertretern bei der Aussonderung der Opfer

Die Bewegungen in der evangelischen Kirche, die sich zu den „Deutschen Christen“ zusammengeschlossen hatten, stimmten mit der Rassentheorie der Nationalsozialisten überein. Die „sächsisch Evangelisch-Lutherische Landessynode“ beschloss bereits im Dezember 1933, also noch vor den „Nürnberger Gesetzen“: „Die Volkskirche bekennt sich zu Blut und Rasse, weil das Volk eine Bluts- und Wesensgemeinschaft ist. Mitglied der Volkskirche kann nur sein, wer nach dem Rechte des Staates Volksgenosse ist [...] Weil die deutsche Volkskirche die Rasse als Schöpfung Gottes achtet, erkennt sie die Forderung, die Rasse rein und gesund zu erhalten, als Gottes Gebot.“ „Dieser Beschluss“, so Reimar Gilsenbach, „lieferte die religiöse Rechtfertigung für die Aussonderung der Sinti.“[11]

Die „Reichsstelle für Sippenforschung“ suchte vor allem „Zigeuner-Mischlinge“ auszusondern, wozu sie nicht nur „Halbzigeuner“, sondern auch „Viertel“- und sogar „Achtelzigeuner“ zählte. Wie aber konnte sie herausfinden, wer ein „Achtelzigeuner“ ist? Hier kamen ihr unglückseligerweise die evangelische und die katholische Kirche zu Hilfe. „Schon am 13. Februar 1934 veröffentlichte die „Bayerische Landeskirchenleitung“ als erste eine Bekanntmachung zur Sicherung und Auswertung aller Kirchenbücher für rassenkundliche Forschungen.“[12] Der Leiter der rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt, Dr. Robert Ritter, forderte im Rundbrief vom 31. Oktober 1936 alle deutschen Pfarrer auf, ihm Auszüge aus „alten oder neuen Familienregistern“ zu schicken, auf denen „Zigeunerfamilien“ verzeichnet sind. Für die Zeit vor 1875, der Einführung der Zivilehe, waren die Kirchenbücher oft die einzigen Dokumente, in denen Sinti-Familien registriert waren. Daraufhin haben die Pfarrer, sei es freiwillig, auf Wunsch der Landeskirche oder auf Druck der Polizei, die in den Kirchenbüchern verzeichneten Namen von Sinti preisgegeben. Möglicherweise haben einzelne Pfarrer keine Auskunft gegeben. Hätten sich einzelne Bischöfe widersetzt, so wäre dies irgendwo vermerkt worden.[13] Am konsequentesten wurden die Kirchenbücher der Landeshauptstadt Berlin ausgewertet. Der evangelische Archivrat Karl Themel wertete zusammen mit 150 Helfern alle Taufbücher der evangelischen Kirchengemeinden in Berlin von 1800 bis 1874 aus. Er ließ seine Helfer - und das waren in den meisten Gemeinden die Pfarrer - eine „Fremdstämmigen Taufkartei“ anlegen und wies sie an, eine Kopie dieser Kartei der „Reichsstelle“ abzugeben.[14]

Aufgrund dieser Karteikarten und von Unterlagen aus Bürgermeisterämtern, Archiven und Polizeiakten[15] konnten Ritters Mitarbeiter auch „Viertel“- und „Achtelzigeuner“ ausfindig machen und in den nächsten Jahren etwa 20.000 bis 24.000 „Rassen-Gutachten“ erstellen[16], die dann die Grundlage für die Deportation und weitgehende Vernichtung der Betroffenen bildeten.


Die Deportation von Sinti-Kindern aus katholischen Heimen

Die Kinder von Sinti, die die Nazis in Konzentrationslager gesperrt hatten, wurden als angeblich schwer erziehbare oder elternlose „Zigeunerkinder“ in katholischen Kinderheimen untergebracht. In Württemberg wurden seit 1938 insgesamt 39 schulpflichtige Sinti-Kinder in die Heilige St. Josephspflege in Mulfingen eingewiesen, wo sie von Barmherzigen Schwestern beaufsichtigt wurden. Sie blieben dort bis zum 9. Mai 1944, wurden also über ein Jahr von den Deportationen aller in Deutschland lebenden „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ nach Auschwitz verschont. Der Grund war folgender. Sie dienten Eva Justin, der Mitarbeiterin von Dr. Robert Ritter, dem Leiter der „rassenhygienischen Forschungsstelle“, als Demonstrationsobjekte für ihre These, dass auch „artfremd“ erzogene, und das heißt hier: nicht in ihrer Familie, sondern in einem katholischen Heim erzogene „Zigeunerkinder“ unerziehbar seien. Zwei Monate nach Abschluss ihrer Dissertation wurden die Kinder bis auf eines nach Auschwitz „nachgeliefert“, wo 35 von ihnen vernichtet wurden.[17]

Der Ortspfarrer, der den Abtransport vorbereitete, wusste, dass die Kinder nicht zurückkommen. Denn er richtete an den Caritasverband die Bitte, das Heim neu zu belegen, die dieser dem Bischöflichen Ordinariat in Rottenburg weitergab.[18] Die Geschichte der Kinder von Mulfingen wurde erst lange nach dem Krieg bekannt, aber nicht durch das Bistum, sondern durch die Berichte der Überlebenden. Es gab auch andere katholische Heime, aus denen Sinti-Kinder deportiert wurden, wie in Hildesheim (s.o.), Pirmasens, im hessischen Hünfeld und in Ehingen. Wann endlich beauftragen die Bischöfe einen katholischen Kirchenhistoriker, „die Kloster-, Heim-, Caritas- und Diözesanarchive zu öffnen“?[19]

Wenn man die verschiedenen Gruppen der „Deutschen Christen“ beiseite lässt, steht man vor dem Rätsel: Warum haben die katholische Kirche und die bekennende Kirche, die beide die Rassenlehre verurteilt haben, zu der rassistisch begründeten Vernichtung der Sinti und Roma geschwiegen, während es gegen die Vernichtung der katholischen Juden und vor allem der Behinderten kirchliche Proteste und Rettungsaktionen gab? Die Antwort auf diese Frage lässt sich nur in der Vorgeschichte finden. Es gab lange vor dem rassistischen Antiziganismus einen ethnischen und einen sozialen sowie einen kirchlichen, theologischen und religiösen Antiziganismus.[20] Diese wirkten im Dritten Reich immer noch fort und sind bis heute nicht überwunden.


Die Bezeichnung der eingewanderten Glaubensflüchtlinge als Heiden

Das Volk der Roma ist in mehreren Gruppen von Indien nach Europa gezogen, weshalb über seinen Weg bis heute unterschiedliche Theorien vertreten werden. Die Sinti, eine Untergruppe der Roma, haben höchstwahrscheinlich etwa hundert Jahre in Griechenland gelebt und dort den christlichen Glauben angenommen. Als die osmanischen Türken das byzantinische Reich eroberten, sind sie teils auf dem Seeweg über Italien, teils auf dem Landweg über die Balkanländern und Ungarn nach Deutschland gekommen.

Als die Sinti in Deutschland ankamen, sagten sie der Chronik des Cornerus von 1417 zufolge, sie befänden sich auf einer Bußfahrt, weil sie nach ihrer Bekehrung wieder in das Heidentum zurückgefallen seien. Nach der Chronik des Andreas von 1424 habe man erzählt, sie seien ausgewandert „zur Erinnerung an die Flucht des Herrn nach Ägypten“.[21] Demzufolge erinnerten sie sich an die „Flucht des Herrn“ - ein früher Beleg für ihre Kenntnis der Evangelien -, weil sie ebenfalls auf der Flucht waren: auf der Flucht vor den islamischen Osmanen nach Mitteleuropa.Vielleicht haben die Sinti die Geschichte von der Bußfahrt zu ihrem Schutz erfunden. Es ist aber durchaus möglich, dass einige von ihnen im Balkan von den Osmanen überrannt worden sind und erneut den islamischen Glauben angenommen haben. Die meisten sind aber wohl als „Glaubensflüchtlinge“ nach Europa gekommen.[22]

Die Einwanderer hatten den beiden Chroniken zufolge Geleitbriefe des in Ungarn residierenden Königs Sigismund bei sich, in denen er befahl, dass sie „überall freundlich aufgenommen werden sollten“. In einem Brief aus dem Jahr 1444 werden auch Geleitbriefe der Päpste Martin V. und Eugen IV. sowie des Erzbischofs von Mainz erwähnt. Trotzdem wurden sie, vermutlich wegen ihres fremdartigen Aussehens, im Volk „Heiden“ genannt und in späteren Chroniken als „religionslos“[23] bezeichnet. Warum? Mehrere Chroniken belegen, dass die als „schwarz“ beschriebene Hautfarbe mit Unglauben oder Heidentum verbunden wurde. So heißt es bei Krantz (1520): Sie sind „hässlich durch ihre schwarze Hautfarbe“ und sie „üben keine Religion aus“. Peucer (1593) ist überzeugt, dass die „Zigeuner“, die auch „Ägypter“ (engl. gypsies) und „Pharaonen“ genannt wurden, aus Ägypten stammen, „wo Hellseherei und Zauberei allgemein üblich sind“.[24]


Die Verurteilung der Sinti als Spione der Türken auf den Reichstagen

Die Duldung der „Zigeuner“ endete schlagartig, als die Reichsfürsten und Reichsbischöfe auf dem Freiburger Reichstag von 1498 folgenden Beschluss fassten: „nachdem man Anzeige hat, dass dieselben Erfahrer, Ausspäher und Verkundschafter der Christenland seyen, dass man dieselben hierfür in die Land zu ziehen nit gestatten [...] soll.“[25] Die anonyme, im distanzierenden Konjunktiv wiedergegebene „Anzeige“ war sicher nicht der Grund für dieses Urteil. Es ist eher wahrscheinlich, dass die auf dem Reichstag versammelten weltlichen und geistlichen Regenten mit diesem Gerücht die Angst vor den Türken schüren wollten, weil sie einen Feldzug gegen sie vorbereiteten und hierfür eine unpopuläre „Türkensteuer“ erhoben.[26]

Auf dem Augsburger Reichstag von 1500 wurden die „Zigeuner“, die trotz des Freiburger Beschlusses ein Land betreten, für vogelfrei erklärt.[27] Auf den späteren Reichstagen und in Landesordnungen wurde dieser Beschluss bestätigt. Und in den seither verfassten Chroniken und Geschichtsbüchern wurde mehrfach die konsequente Exekution dieses Beschlusses angemahnt.


Martin Luther über die „Zigeuner“

Mit der Reformation hat sich die Einstellung gegenüber den „Zigeunern“ nicht verbessert, sondern weiter verschärft. Martin Luther wandte sich nicht explizit gegen die „Zigeuner“, aber er benutzte sie wiederholt für Vergleiche, wenn er in seinen Schriften fahrende Bettler, Theologen, den Papst oder die Juden attackierte. Luther war einer der ersten Vertreter, wenn nicht der Urheber des protestantischen Arbeitsethos, das bis heute verbreitet ist.[28] In seinem Vorwort zu dem Buch „Von der falschen Bettelbüberey“ von 1528, einer Neuausgabe des damals weit bekannten „liber vagatorum“, verurteilte er die Fahrenden, die betteln, statt zu arbeiten, pauschal als Spitzbuben, die lügen und betrügen. Die negative Einstellung der Protestanten gegenüber fremden Bettlern dürfte ein Grund gewesen sein, weshalb damals viele Sinti-Familien aus dem protestantischen Norden in den katholischen Süden, vor allem nach Baden zogen.

In seiner Schrift „Von Ehesachen“ (1530) warf Luther den Fahrenden vor, sie „verfahren mit der Ehe wie die Tatern oder Zigeuner, die ständig Hochzeit und Taufe halten, wo sie hinkommen“. Dieser Vorwurf kehrt sowohl in den „Zigeuner“-Traktaten des 17. Jahrhunderts als auch in vielen Werken der schönen Literatur sowie in alten und neuen Lexika-Artikeln wieder. In dem Buch „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 rief Luther dazu auf, die Synagogen und Wohnhäuser der Juden zu zerstören, weil sie dort ihre Kinder in jüdischer Religion unterrichten, und sie einzusperren „wie die Zigeuner, auff das sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserm Lande [...] Sondern im Elend und gefangen“. Dass die „Zigeuner“ im Elend und in Gefangenschaft leben, wird von ihm nicht begründet oder gerechtfertigt; denn es ist für ihn wie für seine Leser selbstverständlich.


Märchen über die Rolle der „Zigeuner“ in der Geschichte der Juden

In Folge der auf den Reichstagen beschlossenen Ausgrenzung und Vertreibung wurden sowohl in Schriften von Gelehrten wie in mündlich tradierten Volkslegenden und -märchen Geschichten verbreitet, die sich zur „religiösen Rechtfertigung“ der Vertreibung eigneten. Die so genannten „Zigeuner“, die frühestens 1000 Jahre nach Christi Geburt in den Nahen Osten gekommen sind, seien erstens Nachkommen von Kain.[29] Sie seien zweitens die Leibwächter des Königs Pharao gewesen[30] und am Ufer zurückgeblieben, als Pharao den Juden in das sich öffnende Rote Meer nachsetzte. Drittens hätten sie der Heiligen Familie bei ihrer Flucht nach Ägypten das Nachtquartier verweigert und viertens hätten sie die Kreuznägel Christi geschmiedet.[31] Die Moral dieser vier Geschichten ist stets dieselbe. Gott hätte sie zur Strafe in alle Welt zerstreut und zu ewiger Wanderschaft verdammt hätte. Wer die „Zigeuner“ vertreibt, so die Nutzanwendung dieser Moral, verrichtet das Werk Gottes.


Die Dämonisierung der „Zigeuner“ nach dem Konzil von Trient

Die Sinti konnten sich aber auch in katholischen Gegenden nicht sicher fühlen. Auf dem Konzil von Trient (1545-1563) suchte die katholische Kirche den rechten Glauben gegenüber dem Protestantismus und anderen Glaubenslehren eindeutig abzugrenzen. Dabei gerieten die Sinti, die an ihren tradierten Riten festhielten, unter Häresieverdacht. Die tridentinischen Dekrete wurden anschließend auf Diözesansynoden in Vorschriften umgesetzt. Die Synoden erforschten die religiöse Herkunft der Zigeuner, wobei herkömmliche Tätigkeiten wie Wahrsagerei, Heilkunst und Zauberei in den Verdacht der Hexerei gerieten, und erklärten sie zu Schismatikern, zu Anhängern der islamischen Religion oder zu Häretikern und Verbreitern von Aberglauben. Der hl. Karl Borromäus, Erzbischof von Mailand, bestimmte auf der Mailänder Synode von 1565 als einzige Alternative zur Ausweisung der Zigeuner ihre zwangsweise Eingliederung in die „für Christenmenschen geziemende Lebensführung“.[32] Auf den Synoden zu Neapel (1576) und Salerno (1596) wurde jedoch entschieden, dass die Zigeuner, da sie Heiden und Ketzer seien, im Land nicht geduldet werden dürfen.[33]

Es gab aber auch Fürsprecher. Der hl. Philipp Neri hörte sich in Rom die Klagen der „Zigeunerfrauen“ an, deren Männer zwangsweise als Ruderer der päpstlichen Flotte rekrutiert worden waren, sprach dann bei Papst Pius V. vor und blieb trotz des päpstlichen Tadels bei seinem Protest. Der hl. Josef von Calasenza wurde im Jahr 1600 mit der Evangelisierung der „Zigeuner“ beauftragt. Kurz darauf wurde in Rom eine „Zigeunerkongregation“ gegründet, die im 17. Jahrhundert für die durchreisenden „Zigeuner“ tätig war.[34]

Nördlich der Alpen haben evangelische und katholische Theologen wie Caspar Peucer, der Schwiegersohn Melanchthons, und der Jesuit Delrio die Zigeuner der Zauberei oder schwarzen Magie beschuldigt.[35] Deshalb haben D. Gerhardus und andere Theologen gefordert, „dass man sie für keine Christen achten und halten, viel weniger sie unter den Christen dulden soll und leiden soll“, wie in dem „nützlichen Tractätlein“ (1664) und in den Traktaten über die „Zigeuner“ von Jacob Thomasius (1652) und Ahasver Fritsch (1664) mit Zustimmung zitiert wird. Von den Hexenverfolgungen blieben die Sinti, vermutlich wegen des Vorurteils, dass sie Heiden seien, bewahrt. Verfolgt wurden Christen, die angeblich der Versuchung durch den Teufel erlegen waren.


Missionsversuche nach der Aufklärung

Die Aufklärung interessierte sich aufgrund ihrer hohen Schätzung von Wissen und Bildung mehr für die Emanzipation der gebildeten Juden als für die der ungeschulten „Zigeuner“.[36] Die Verordnungen von Maria Theresia (1761) und Joseph II. (1782) zur Assimilierung der „Zigeuner“, die auch „christliche Erziehung“, regelmäßigen Kirchenbesuch und „Beweise von christlicher Gesinnung“ vorsahen[37], erwiesen sich als undurchführbar. Die ihren Eltern weggenommenen Roma-Kinder flüchteten aus den Erziehungsanstalten zurück zu ihren Familien, die mit ihnen das Weite suchten. Der Aufklärer Heinrich Grellmann plädierte für die Erziehung von „Zigeunern“ mit dem Ziel, dass sie nach zwei oder drei Generationen „aufgehört“ haben, „Zigeuner zu seyn“, und „zu brauchbaren Bürgern umgeschaffen sind“.[38] Ein Erziehungskonzept, das den Nutzen für Staat und Gesellschaft verfolgt, ohne die Bedürfnisse der Zöglinge zu berücksichtigen, kann aber nur scheitern.

Die oft genannten Missionsversuche in Deutschland sind kaum der Rede wert. Der katholischen Kirche schien es lange Zeit zu genügen, dass die Zigeuner sich taufen ließen. In dem im katholischen Eichsfeld gelegenen preußischen Dorf Friedrichslohra, in dem mehrere katholische Sinti-Familien in ärmlichsten Verhältnissen lebten, gründete ein evangelischer Missionsverein im Jahr 1830 eine Erziehungsanstalt, nahm den Erwachsenen, die er in Arbeitshäuser steckte, ihre Kinder weg und suchte diese für die evangelische Konfession zu missionieren. Nachdem der katholische Ortspfarrer protestiert hatte und mehrere Kinder geflohen waren, wurde die Anstalt 1837 wieder aufgelöst.[39]

Größere Bedeutung hatte die lutherische „Zigeunermission“ in Berlin, die von 1910 bis 1936 tätig war, Gottesdienste und Bibelstunden veranstaltete und die Zeitschrift „Stadtmission“ herausgab. Sie betrachtete die katholisch getauften Sinti als „Heiden“, die „arbeitsscheu und unsittlich“ seien, und den Marienkult als Aberglauben. Auch dieser Missionsversuch scheiterte, weil er auf der Seite der Sinti ihr Zusammenleben gefährdete und auf der Seite der Regierung der schon vor 1933 verfolgten Politik der Vertreibung bzw. der Festsetzung in „Zigeunerlagern“ im Wege stand.[40]

Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass sowohl katholische als auch evangelische Geistliche in den sogenannten „Zigeunerlagern“, so in Frankfurt und in Berlin-Marzahn, Seelsorge durchführten. Otto Rosenberg erzählt in seinem Lebensbericht „Das Brennglas“, dass zu Weihnachten ein Bischof gekommen sei, dass er die Erstkommunion empfangen habe und später zum Ministranten ausgebildet wurde.


Die Ausgrenzung der Sinti aus den nationalen Volkskirchen des 19. Jahrhunderts

Obwohl nach 1820 die Verfolgung der Sinti nachließ, hielt der religiöse Antiziganismus das ganze 19. Jahrhundert hindurch an. Die Ursache dürfte der Nationalismus gewesen sein, der sich damals ausbreitete und auch die beiden Kirchen erfasste. Der „konservative Nationalismus“, der in der deutschen Romantik wurzelte, unterscheidet sich grundlegend vom „liberalen Nationalismus“ in England und Frankreich, der aus der bürgerlichen Revolution hervorging. Während man dort die „Nation“ mit dem neu entstandenen demokratischen Staat gleichsetzte, der die Rechte des Einzelnen achtet und sich auf allgemeine Menschenrechte verpflichtet, betrachtete man die „Nation“ in Deutschland als eine naturgegebene Größe, die „von einem Volk mit einer eigenen Sprache und Kultur gebildet“ wird und mit der sich die Individuen „identifizieren müssen, um sich zu verwirklichen“.[41] Damit ist zugleich gesagt, dass Individuen, die nicht zum deutschen Volk gehören wie die Sinti, sich in Deutschland, das auch ihre Heimat ist, nicht verwirklichen können.

Schleiermacher, der von evangelischen Theologen der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“[42] genannt wurde, übernahm von Herder die Vorstellung, dass die Menschen von Gott in unterschiedliche Nationen aufgeteilt worden seien. „In seinem Gefolge stößt man im deutschen Protestantismus des 19. Jahrhunderts auf einen ausgeprägten Nationalismus [...]. Gelegentlich begegnet man sogar der Vorstellung vom deutschen Volk als Gottes auserwählter Nation“.[43] Aus diesem „theologischen Nationalismus“ entwickelten sich Anfang des 20. Jahrhunderts die verschiedenen kirchlichen und antikirchlichen „Deutschreligiösen Bewegungen“, die nicht unwesentlich zum Aufstieg der Nationalsozialisten beitrugen.[44]

Die katholische Kirche sollte eigentlich durch ihren Anspruch der Universalität - „katholisch“ bedeutet allumfassend - gegen den Nationalismus gefeit sein. Im 19. Jahrhundert setzten sich aber auch in der katholischen Kirche nicht nur in Deutschland nationalistische Tendenzen durch wie die sezessionistische Bewegung des „Deutschkatholizismus“ und die während des „Kulturkampfs“ erhobene Forderung nach einem „deutschen Kulturkatholizismus“.[45] Solche Bewegungen waren vermutlich eine Reaktion auf den Machtverlust des Kirchenstaats und seine Abwehrhaltung gegenüber demokratischen Reformen. So verurteilte Gregor XVI. 1832 die Menschenrechte[46], die auch die Rechte ethnischer Minderheiten einschließen.[47]

In einer nationalen Volkskirche war für die Sinti und erst recht für die seit etwa 1870 eingewanderten Roma kein Platz. Auch wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen und kirchlich getauft waren, so blieben sie doch in den Augen des Staats, der Kirchen und der Gesellschaft ein „fremdes Volk“. Die „Menschenrechte“, auf die sie sich hätten berufen können, wurden von der katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet.[48]

Daraus ergibt sich als Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Die beiden deutschen Kirchen fühlten sich für die Sinti und Roma nicht zuständig, weil sie sie als ein fremdes Volk ansahen und verdächtigten, Heiden oder Anhänger eines Geheimkults zu sein. Diese Vermutung wird durch einen Blick in kirchliche und andere Lexika, in denen der Wissensstand der jeweiligen Zeit zusammengefasst ist, bestätigt. So liest man in „Religion in Geschichte und Gegenwart“ von 1931: „Äußerlich nehmen sie den Glauben des Wirtsvolks an, innerlich bleiben sie ihm fremd.“ Und in Meyers Konversationslexikon von 1930: „Eine eigene Religion haben sie nicht, sondern schließen sich mit Leichtigkeit äußerlich jedem Bekenntnis ihrer Umgebung an.“ Und, was noch erstaunlicher ist, in den Ausgaben dieser beiden Lexika von 1962 bzw. 1979 werden diese Aussagen nahezu wörtlich wiederholt.


Das Schweigen der Kirchen über den Völkermord an den Sinti und Roma und ihre Mitschuld nach dem Krieg

Nach dem Krieg haben die beiden Kirchen mehr als dreißig Jahre lang den Völkermord an den Sinti und Roma nicht anerkannt und sich nicht zu ihrer Mitschuld bekannt. Im Schuldbekenntnis der katholischen Bischöfe vom 23. August 1945 und in der Stuttgarter Schulderklärung des Rats der Evangelischen Kirche vom 18./19. Oktober 1945 sind die Sinti und Roma mit keinem Wort erwähnt.[49] In den „Zeitzeugenberichten“ von Überlebenden wird auch nicht erwähnt, dass die Kirchen den Heimkehrern beigestanden hätten. Als die Überlebenden zurückkehrten, wurden sie nicht in die Pfarrgemeinden ihrer Heimatorte integriert. Und daran hat sich lange[50], in den meisten Gemeinden bis heute, nichts geändert.

Der Dialog zwischen der evangelisch-lutherischen Kirche und den deutschen Sinti und Roma begann auf dem evangelischen Kirchentag in Nürnberg 1979, allerdings nicht auf Einladung der Kirche, sondern indem Romani Rose, der Vorsitzende des 1983 gebildeten Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, einen Redebeitrag durchsetzte. 1980 folgte die gemeinsame Kundgebung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen, auf der die evangelische Kirche ihre Mitschuld zugab.[51] Danach traten die Sinti und Roma auf mehreren evangelischen Kirchentagen auf. Die Denkschrift der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, über „Sinti und Roma“ ist nach meiner Ansicht ein gelungener Versuch, das Versagen der evangelischen Kirche im Dritten Reich aufzuarbeiten und Perspektiven für eine künftige partnerschaftliche Kooperation zu zeigen. Seither wurde die Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche auf Landeskirchen-, Kirchenkreis- und Gemeindeebene fortgesetzt.[52]

Die katholische Kirche zögerte noch länger, sich zum Thema Völkermord zu äußern. Als zwölf Sinti 1980 durch einen Hungerstreik im ehemaligen KZ Dachau die Weltöffentlichkeit auf den Völkermord und die fortgesetzten Schikanen der bayrischen „Landfahrerzentrale“ aufmerksam machten, wurden sie von den dortigen Karmelitinnen unterstützt, während sich die Bistumsleitung zurückhielt.[53] Ein Jahr später, im April 1981, kam es zu dem während des Hungerstreiks geforderten Gespräch der Sinti-Vertreter mit dem damaligen Münchner Erzbischof Joseph Ratzinger, dem heutigen Papst Benedikt VI.[54] „Noch am 8. Mai 1985 zelebrierten Kardinal Joseph Höffner und der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Lohse im Kölner Dom einen gemeinsamen Gottesdienst zum Gedenken an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft, ohne die Sinti und Roma zu erwähnen. Am 13. März 1988 kam es dann zum ersten Gedenkgottesdienst zum NS-Völkermord an Sinti und Roma im Dom zu Speyer.“[55] Papst Johannes Paul II. schrieb am 7. April 1993 den in Auschwitz versammelten Sinti und Roma: „Ich erinnere in besonderer Weise an den tragischen Tod der Brüder und Schwestern unter den Zigeunern, die im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau gefangen waren.“[56] In einer Botschaft zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz vom 27. Januar 2005 erinnerte er erneut daran, dass auch die Roma „in Hitlers Plan ebenso für die totale Vernichtung vorgesehen“ waren.[57]

Warum tut sich die katholische Kirche so schwer, sich zu ihrer Mitschuld an der Aussonderung und Deportation der Sinti und Roma zu bekennen? Eine Antwort könnte sein, dass ihre Rolle noch gar nicht in vollem Umfang öffentlich bekannt ist. Wer weiß schon, dass sie auch die Vernichtung der Roma in der Slowakei und in Kroatien, die während des Zweiten Weltkriegs mit Deutschland verbündete nationalsozialistische Staaten waren, zunächst gedeckt hat.[58] Hoffentlich fühlen sich katholische Kirchenhistoriker durch Beiträge wie diesen herausgefordert, dieses dunkle Kapitel der Kirchengeschichte endlich aufzuklären.

Eine andere mögliche Antwort wäre: Vielleicht glauben manche Kirchenvertreter noch immer, dass die Sinti und Roma keine Christen seien.[59] Dabei könnte die Kirche gerade unter Menschen, die unschuldig verfolgt werden, tief gläubige Christen finden, weil ihnen der Glaube an den Gekreuzigten hilft, ihr Los zu ertragen.


[1] Wippermann hat in Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997, und in Vorträgen wohl als erster den „religiösen Antiziganismus“ benannt und mit Beispielen aus der frühen Neuzeit belegt.
[2] Hoffmann-Richter hat auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Arnoldshain im Februar 2004 über „Theologische Aspekte des Antiziganismus“ referiert und mir sein Manuskript zur Verfügung gestellt.
[3] Vgl. Christine-Ruth Müller, Dietrich Bonhoeffers Kampf gegen die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung der Juden, München 1990.
[4] Zitiert bei Ludwig Volk (Hg.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-1945, Bd. VI, Mainz 1989, S. 39f. (Nr. 823).
[5] Hirtenwort des deutschen Episkopats vom 19. August 1943, Anm. 40, S. 201 (Nr. 872/II) und Gemeinsamer Hirtenbrief der deutschen Bischöfe über die zehn Gebote als Lebensgesetz der Völker, in: Bistumsarchiv Hildesheim, Gen. II, Nr. 70. Die Dokumentation der versuchten Protestaktion des Hildesheimer Bischofs Machens verdanke ich Hans-Dieter Schmid, Historisches Seminar der Universität Hannover.
[6] Die Kenntnis dieses Vorgangs verdanke ich den Archivstudien von Martin Ruch, Kultur Agentur Offenburg.
[7] In den insgesamt 59 von Daniel Strauß und von Adam Strauß herausgegebenen Zeitzeugenberichten („... weggekommen.“ Berichte und Zeugnisse von Sinti, die die NS-Verfolgung überlebt haben, Heidelberg 2000 und Flucht. Internierung. Deportation. Vernichtung. Hessische Sinti und Roma berichten über ihre Verfolgung während des Nationalsozialismus, bearb. v. Josef Behringer, Darmstadt 2005) wird immer wieder von Menschen erzählt, die den Sinti geholfen haben, von Ärzten, Bürgermeistern, Soldaten, Polizisten und Arbeiterinnen. Ein Pfarrer ist nicht dabei.
[8] Dirk Brieskorn, „Vous, dans l’église, n‘êtes pas aux marges, mais, sous certains aspects, vous êtes au centre, vous êtes au coeur.“ Zur Geschichte der „Katholischen Zigeunerseelsorge“ in Deutschland. In: Waclaw Dlugoborski (Hg.), Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau 1943-44. Vor dem Hintergrund ihrer Verfolgung unter der Naziherrschaft, Staatliches Museum Auschwitz 1998, S. 396-412, hier S. 404.
[9] Mitteilung von Stefan Reuter, Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg. Vgl. auch Guenter Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, Deutsche Ausgabe: München, Berlin 2001, S. 67.
[10] Mitteilung von Toon Machels, der aus der Arbeit von van den Abeel (Staf, Woonwagenwerk in Vlaanderen, KU Leuven 1995) zitiert.
[11] Reimar Gilsenbach, Oh Django, sing deinen Zorn. Sinti und Roma unter den Deutschen, Berlin 1993, S. 296.
[12] Ebd., S. 296f.
[13] Wolfgang Wippermann teilte mir mit, er habe „die Akten des Evangelischen Zentralarchivs und des Reichskirchenministeriums (jetzt im Bundesarchiv) durchgesehen und dabei nichts gefunden“. Auf dem 75. Deutschen Archivtag im September 2005 in Stuttgart berichtete Dr. Peter Pfister, Direktor des Archivs des Erzbistums München und Freising, dass die katholische Kirche in Bayern sich zunächst verweigert und dort, „wo Kooperation unausweichlich war“, bestimmte Angaben unterschlagen habe. (vgl. das Thesenpapier von Pfister, Selbstbehauptung, Kooperation und Verweigerung. Ariernachweise und katholische Pfarrarchive in
Bayern
) Pfister schrieb mir in einem Brief vom 9. Januar 2006, dass er es für gut möglich hält, dass die in der Freisinger Bischofskonferenz zusammengeschlossenen Diözesen bei den Sinti und Roma ähnlich vorgegangen sind. Im zentralen Archiv für die Bayerische Bischofskonferenz und in den Registern der jüngsten Publikationen gibt es jedoch keinen Hinweis auf „Zigeuner“, weshalb dies nur durch eine intensive Recherche geklärt werden kann.
[14] Gilsenbach, Djanjo, S. 297f.
[15] Vgl. Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996, S. 144.
[16] Udo Engbring-Romang, Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, Frankfurt a. M. 2001, S. 241.
[17] Michael Krausnick, „Auf Wiedersehen im Himmel“. Die Sinti-Kinder von der St. Josephspflege, in: ders., Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma, Gerlingen 1995. S. 95-124, hier S. 95f.
[18] Ebd., S. 105f.
[19] Ebd., S. 117.
[20] Dies lässt sich durch die Bedeutungen und die Synonyme des Worts „Zigeuner“ belegen. Mit „Zigeuner“ wurden sowohl das eingewanderte „fremde Volk“ als auch „Fahrende“ bezeichnet. Sie wurden im 15. Jahrhundert ihrer vermuteten Herkunft aus Nordafrika entsprechend auch „Ägyptier“, „Pharaonen“, „Sarazenen“ und „Tater“ (Tataren) sowie „Heiden“ genannt. „Vaganten“ oder „Fahrende“ wurden mit „Vagabunden“ oder „Landstreichern“ gleichgesetzt.
[21] Reimer Gronemeyer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen. Quellen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, Gießen 1987, S. 15 u. 20.
[22] Hoffmann-Richter, vgl. Anm. 2.
[23] So in den von Gronemeyer, Zigeuner, publizierten Chroniken von Krantz, Münster und Guler.
[24] Caspar Peucer, 1593, in: ebd., S. 77.
[25] Ebd., S. 88.
[26] Wippermann, Zigeuner, S. 54.
[27] „Dann wo sie darnach betretten vnd jemands mit der That gegen jhnen zu handeln fürnemmen würdt / der sol daran nicht gefrevelt / noch unrecht gethan haben“, Gronemeyer, Zigeuner, S. 88.
[28] Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik, Bd. I, Göttingen 1975.
[29] Diese These von Polydor wurde von Besold (1629) und Wagenseil (1697) zwar für „absurd“ erklärt, aber dennoch weitergegeben. Vgl. Gronemeyer, Zigeuner, S. 103 und Johann Christoph Wagenseil, De sacri Rom. Imperii Libera Civitate Noribergensi Commentatio. Accedit de Germaniae Phonascorum von der von der Meister-Singer, origine, praestantia, utilitate, et institutis sermone vernaculo liber, Altdorfi Noricum 1697, S. 437.
[30] In dem Beitrag „Antiziganistische Zigeunermärchen“, in: Leander Petzold, Oliver Haid (Hg.), Beiträge zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Volkserzählung. Berichte und Referate des zwölften und dreizehnten Symposions zur Volkserzählung. Brunnenburg/Südtirol 1998-1999, München u.a. 2005, S. 409-434) habe ich fünf Varianten dieses Märchens vorgestellt.
[31] Vgl. Ines Köhler-Zülch, Die Heilige Familie in Ägypten, die verweigerte Herberge und andere Geschichten von ‚Zigeunern‘ - Selbstäußerung oder Außenbilder?, in: Daniel Strauß (Hg.), Die Sinti/Roma-Erzählkunst im Kontext Europäischer Märchenkultur, Heidelberg 1992, S. 35-84 und: Die Geschichte der Kreuznägel: Version und Gegenversion? Überlegungen zu Roma-Varianten, in: Michael Chesnutt (Hg.), Telling Reality. Folklore Studies in Memory of Bengt Holbek, Kopenhagen/Turku 1993.
[32] Für die Zeit nach dem Konzil von Trient folge ich der Darstellung von Bruno Nicolini, Die katholische Kirche und die Zigeuner, in: Mirella Karpati (Hg.), Sinti und Roma gestern und heute, Rom 1994, S. 118-138, hier: S. 124ff.
[33] Reimar Gilsenbach, Weltchronik der Zigeuner, Frankfurt a. M. u.a. 1994, S.189
[34] Nicolini, Katholische Kirche, S. 127ff.
[35] Zitiert bei Gronemeyer, Zigeuner, S. 76f. u. 79.
[36] Ebenso Hoffmann-Richter, vgl. Anm. 2.
[37] Zitiert bei Rüdiger Vossen, Zigeuner, Roma, Sinti, Gitanos, Gypsies zwischen Verfolgung und Romantisierung, Frankfurt a. M. 1983, S. 54.
[38] Heinrich Moritz Grellmann, Historischer Versuch über die Zigeuner [...], Göttingen 1783, S. 140.
[39] Vgl. Barbara Danckwortt, Friedrich II. von Preußen und die Sinti von Friedrichslohra, In: Udo Engbring-Romang, Wilhelm Solms (Hg.), „Diebstahl im Blick“? Zur Kriminalisierung der „Zigeuner, Seeheim 2005, (Beiträge zur Antiziganismusforschung, Bd. 3), S. 116-140. In der Literatur des Realismus, so bei Adalbert Stifter, Marie von Ebner-Eschenbach und in der damals beginnenden Kinderliteratur, z. B. bei Ottilie Wildermuth, ist die Missionierung des Zigeunerkinds ein zentrales Thema.
[40] Zimmermann, Rassenutopie, S. 61f.
[41] Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 24, 1994, S. 22.
[42] TRE, Bd. 18, S. 268
[43] TRE, Bd. 24, S. 27.
[44] Im Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, 1995, Sp. 168-170 werden unter diesem Begriff die „Deutschgläubige Bewegung“, die „Deutschkirchliche Bewegung“ und die „Deutschen Christen“ beschrieben.
[45] Art. „Nationalismus“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 4. Aufl. 1999, Bd. 6, Sp. 72.
[46] Rundschreiben „Mirari vos“ vom 15. August 1832, zit. in: Alfred Läpple, Kirchengeschichte. Impulse zur Kurskorrektur, München 1982, S. 91.
[47] Nach dem Ersten Vatikanum und der Abspaltung der „Altkatholiken“ war die deutsche katholische Kirche wieder stärker an den Papst gebunden, distanzierte sich aber nicht von der „Sakralisierung der Nation als Schöpfungssordnung“, vgl. Art. Nationalismus, in: RGG, 4. Aufl. 1999, Bd. 6.
[48] Hoffmann-Richter, vgl. Anm. 2.
[49] Ebd.
[50] Dies wird durch die Umfrage des „Zigeunerseelsorgers“ Achim Muth von 1984 bestätigt.
[51] PUBLIK FORUM. Zeitschrift für kritische Christen vom 20. Februar 1981.
[52] Sinti und Roma. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 1991, S. 21f.
[53] Dies erzählte mir die Dachauer Karmelitin Schwester Maria Theresia Smith, die heutige Oberin des Karmels in Berlin-Plötzensee.
[54] Zitiert bei Ingrid Braach, Zum Konflikt zwischen der „Katholischen Zigeunerseelsorge“ und den Roma-Selbstorganisationen, in: Sinti in der Bundesrepublik. Beiträge zur sozialen Lage einer verfolgten Minderheit, Bremen 1981, S. 108-133, hier S. 110.
[55] Hoffmann-Richter, vgl. Anm. 2.
[56] Zitiert bei Nicolini, Katholische Kirche, S. 135.
[57] Dieser Brief wurde mir von Stefan Reuter mitgeteilt, vgl. Anm. 9.
[58] Dieser Vorwurf wird auch gegen den damaligen Militärvikar der Ustascha Alojzije Stepinac erhoben, der jedoch später gegen die Rassenpolitik des „Unabhängigen Staats Kroatien“ protestierte, 1953 zum Kardinal von Zagreb erhoben und vor kurzem selig gesprochen wurde.
[59] Diese Einstellung ist gerade auch in wohlmeinenden Beiträgen zu spüren. So spricht Ottmar Fuchs von den „Andersgläubigen und Fremden“ oder von dem „Fremden [...], der nicht zur eigenen Religion gehört“. Ottmar Fuchs, „Geht zu allen Völkern“! Das Leben der Zigeuner - eine Herausforderung für die Kirchen, in: Alois Schifferle (Hg.), Pfarrei in der Postmoderne? Gemeindebildung in nachchristlicher Zeit, Freiburg i. Br. 1997, S. 379-396, hier: S. 390, 386 u. 389.

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