Ambivalenzen eines Heldensymbols – Martin Niemöller neu gelesen

Martin Niemöller wird häufig als mutiger Pfarrer wahrgenommen, der sich dem Nationalsozialismus widersetzte, und später zum Friedenskämpfer wurde. Die Forschung jedoch fördert eine vielschichtigere Figur zutage, als es die Erinnerungskultur bislang zuließ. Der Sammelband „Martin Niemöller – Brüche und Neuanfänge. Beiträge zu seiner Biographie und internationalen Rezeption“, herausgegeben von Lukas Bormann und Michael Heymel, nähert sich genau dieser Ambivalenz und vereint zwanzig verschiedene Perspektiven in der Auseinandersetzung mit der Person Niemöllers und dem Erbe der Bekennenden Kirche. Laut Rezensent Hendrik Niether sei der Band keine Abrechnung, keine Glorifizierung, sondern eine pluralistische Annäherung. Der Band biete einen dichten Forschungsüberblick mit zwanzig verschiedenen Stimmen aus dem internationalen Raum, der vor allem offenlege, wie umstritten die Person Niemöllers nach wie vor sei.

Dabei begegnet Niemöller als ein Mensch mit Brüchen, Ambivalenzen und Lernprozessen, die keineswegs immer stringent verlaufen sind. Niether lobt die Vielperspektivität der Beiträge, die sich nicht nur aus internationalen, sondern auch generationenübergreifenden Blickwinkeln Niemöllers Leben und Wirken widmen. Besonders prägend sei, wie offen der Band den Kontroversen rund um die Person Niemöllers den nötigen Raum gebe. So stehe etwa Benjamin Ziemanns These, Niemöller sei trotz späterer Läuterung ein „habitualisierter Antisemit“ geblieben, dem Beitrag von Michael Heymel gegenüber, der betont, Niemöllers Entwicklung nach 1945 müsse als bewusster Lernprozess verstanden werden. Dass der Band diese Kontroversen nicht auflöse, sondern austrage, sei, so Niether, seine große Stärke.

Besonders interessant sei auch die kulturwissenschaftliche Deutung Niemöllers als „postheroische“ Figur, bei der gerade die Widersprüche gegenwärtig relevant werden. Vielleicht könne gerade in dieser Ambivalenz eine neue Form des Gedenkens entstehen, die nicht auf Helden, sondern auf Verantwortung und Lernfähigkeit setzt.

So biete der Band nicht nur eine beeindruckende Bestandsaufnahme der aktuellen Forschung, sondern lade dazu ein, Niemöllers Vermächtnis neu zu befragen. Vor allem jenseits einfacher Heldenerzählungen und in all seiner Ambivalenz und Relevanz für die Gegenwart.

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