Otto Dibelius neu gelesen: Zwischen kirchlicher Autorität und nationalkonservativer Engführung

Wer historische Persönlichkeiten als „vielschichtig“ oder „ambivalent“ beschreibt, bewegt sich oft auf schmalem Grat: Zwischen differenzierter Analyse und apologetischer Entlastung liegt nur ein schmaler Spielraum. Die Betonung der Mehrdimensionalität darf nicht dazu führen, klare problematische Positionen zu relativieren oder historische Schuld weichzuzeichnen.

Der von Lukas Bormann und Manfred Gailus herausgegebene Sammelband Otto Dibelius. Neue Studien zu einer protestantischen Jahrhundertfigur bietet laut Rezensent Erik Zimmermann eine differenzierte Perspektive auf eine der umstrittensten Gestalten des deutschen Protestantismus. Der Band, der aus einer internationalen Tagung hervorgeht und sich 16 Beiträgen aus Theologie, Geschichts-, Kultur- und Religionswissenschaft zusammensetzt, verfolge das Ziel, ein neues, kritisches Dibelius-Bild zu entwerfen. Zimmermann begrüßt diesen Ansatz. Die Beiträge seien gut recherchiert, ausgewogen und liefern, so seine Einschätzung, ein differenziertes und zugleich ernüchterndes Bild der kirchlichen Leitfigur. Dabei werde der bisher dominierenden, positiven Rezeption Dibelius‘ ein differenzierteres Porträt entgegengesetzt, das auch seine autoritären, nationalkonservativen und antisemitischen Seiten beleuchte – etwa seine Zustimmung zur Machtergreifung Hitlers, seine Unterstützung des Judenboykotts 1933 oder seine Demokratiefeindlichkeit gegenüber der Weimarer Republik.

Dibelius, so wird deutlich, war vieles zugleich: geistlich engagiert und politisch konservativ, antikommunistisch, antijudaistisch - ein Mann der Vergangenheit. Rezensent Erik Zimmermann schätzt an dem Band gerade die Breite der Stimmen und die wissenschaftlich sorgfältige Kontextualisierung. Auch wenn sich seine persönliche Distanz zur „protestantischen Jahrhundertfigur“ vertieft habe, lobt er das Werk als wichtigen Beitrag zur kritischen Aufarbeitung evangelischer Zeitgeschichte insbesondere vor dem Hintergrund unterschiedlicher Positionen innerhalb der wissenschaftlichen Forschung. https://theologie-geschichte.de/ojs2/index.php/tg/article/view/1370/1734