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Diskussionspapier:

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Gregor Taxacher

Kollektivvergebung statt Kollektivschuld? Ein Zwischenruf



Die unlängst erschienene große Studie zur Rolle des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich (und danach!) [1] macht es erneut deutlich: Erinnerung an die NS-Zeit ist in Deutschland stets „Täter-sensibel“ – auch noch 65 Jahre danach. D.h.: Sie bedeutet immer noch eine besondere Herausforderung für bestimmte Personen – im aktuellen Beispiel für Richard von Weizsäcker wegen seines Vaters Ernst – oder Berufsstände – etwa die Diplomaten. Die Geschichte der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ ließe sich auch als Geschichte der Herausforderung solcher Gruppen schreiben: Früh ging es um die Juristen und die Mediziner, wesentlich später – angesichts der Wehrmachtsausstellung und der Goldhagen-Debatte – um die Soldaten, sehr spät auch um die Theologen. [2]

Dabei fällt stets ein gewisses Muster der Debatte auf: Es geht um gesellschaftliche Gruppen, die sich eine Art Entschuldungs-Erzählung aufgebaut haben, der zufolge ihr „Stand“ im NS-Staat zumindest weniger gleichgeschaltet und an den Verbrechen des Regimes weniger beteiligt war als andere. So hieß es lange von der Wehrmacht im Unterschied zur SS, von den katholischen Theologen im Unterschied zu den protestantischen „Deutschen Christen“ und eben von den Diplomaten des Auswärtigen Amtes im Unterschied etwa zur NS-Partei-Verwaltung der besetzten Gebiete. Diese „Erzählungen“ über die (eigene) Gruppe begründen sich selbst meist im Kampf gegen eine – jedenfalls so empfundene – verbreitete Kollektivschuldthese. Man will zeigen, dass es Ausnahmen gab oder sogar die Täterschaft eigentlich nur eine Ausnahme war. Dagegen zeigt dann die historische Aufklärung regelmäßig, dass es in der NS-Gesellschaft Reservate der Nicht-Täterschaft, der Nicht-Gleichschaltung eben nicht gab – was keineswegs mit der Kollektivschuldthese identisch ist.

Erinnerung, so zeigt sich, stellt stets die Schuldfrage. Historisch genaue Erinnerung stellt sie konkret. Diese Konkretion verhindert die einfache Antwort der Kollektivschuldthese, durchkreuzt aber auch immer wieder schmerzhaft kollektive Unschulds-Diskurse. Diese Brisanz hat die deutsche Erinnerungs-Arbeit m.E. bis heute nicht verloren, obwohl Täter und Opfer selbst immer weniger unter den Lebenden sind. Müsste sie sich durch den Generationenwechsel aber nicht ändern? Und in welche Richtung sollte diese Änderung gesellschaftlich und theologisch verantwortlich gehen?


Braucht Erinnerung Vergebung?

Diese Frage beantworten jüngst manche Autoren mit dem Stichwort der Vergebung. Anhand eines Artikels des Jenaer Philosophen Klaus-Michael Kodalle ist mir aufgefallen, dass es hier offensichtlich eine Kongruenz in der gesellschaftlichen und der theologischen Diskussion gibt. Sie scheint mir bedenkenswert und bedenklich zugleich.

Kodalle selbst spricht von einer „Herausforderung“ für die deutsche „Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert“. [3] Ausgehend von der Feststellung, dass die „Erinnerungspolitik … vor einem Umbruch“ stehe, weil „Opfer und Täter als lebende Zeugen … bald nicht mehr unter uns“ sind, fragt Kodalle nach den Bedingungen für eine gelingende Vermittlung der Erinnerung des Holocaust an die nachwachsenden Generationen. Seine Forderung lautet: „die Erinnerung muss entmoralisiert werden.“ Kodalle diagnostiziert eine „Verfilzung zwischen Erinnerung und Schuldvorwurf“, der nur durch eine differenzierte Darstellung der Zeit des Nationalsozialismus zu begegnen sei.

Merkwürdiger Weise unterläuft Kodalle bei seinen Ausführungen dann aber selbst eine „Verfilzung“ seiner Postulate zum Erinnern und zum Vergeben. Einerseits geht es ihm nämlich darum, konkrete Erkenntnis und Betroffenheit unter Jugendlichen durch Differenziertheit zu erzeugen. Täter dürften nicht zu Teufeln und Bestien, Widerstandskämpfer nicht zu Heiligen stilisiert und der Holocaust insgesamt nicht zu einer Art negativer Offenbarung sakralisiert werden. In diesem Zusammenhang steht auch das nachvollziehbare Argument Kodalles, ein Kollektivschuldvorwurf, zumal wenn er die Nachgeborenen mit einbeziehe, erzeuge nur Abwehr statt Interesse. Aber Kodalle verknüpft diesen Aspekt mit der Frage nach dem Verzeihen, das die Opfer den Tätern schenken – oder eben nicht. Anhand der „harten“ Haltung des französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch und des Vergebungs-Aktes der Auschwitz-Überlebenden Eva Mozes Kor diskutiert Kodalle die Bedeutung des Verzeihens für die Fähigkeit des Schuldeingeständnisses. Zwar betont Kodalle, dass ein Akt des Verzeihens nur konkret sein könne und den einzelnen Täter in die Pflicht nehme, dennoch kommt er zu einem merkwürdigen Fazit, nach dem die Vergebung durch die Opfer gewissermaßen als notwendige Vorleistung für die Gewissensregung der Täter erscheint - glaubt Kodalle doch, „dass Täter nur dann, wenn ihnen glaubhaft der Eindruck vermittelt wird, ihre Würde als menschliche Wesen sei nicht mehr grundsätzlich infrage gestellt, fähig werden, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen und sie nicht länger zu verdrängen“ [4].

Man reibt sich verwundert die Augen: Nicht nur, weil hier die bedrohte Menschenwürde der Täter plötzlich als Kernproblem des Diskurses erscheint, und nicht die tatsächlich zerstörte Würde der Opfer. Ich frage mich vor allem, wie Kodalle mit dem Vorsatz der Entflechtung von Erinnerung und Schuldvorwurf beginnen und am Ende beim Postulat der Verzeihung als Bedingung für die Erinnerung der Täter landen kann. Soll hier die Verfilzung zwischen Erinnerung und Schuldfrage aufgelöst und das „Moralisieren“ beendet werden, indem man im Zuge der Erinnerungsarbeit die Schuld selbst auflöst – und zwar als eine Arbeit der Opfer?


Theologie nach Auschwitz und Allversöhnung

Die merkwürdige Verknüpfung von Erinnerung und Vergebungs-Postulat, die man bei Kodalles „Herausforderung“ antrifft, findet sich seit einigen Jahren auch in der Diskussion um die Theologie nach Auschwitz: so etwa in einem Aufsatz von Jan-Heiner Tück, [5] der schon beim ersten Lesen einige Parallelen zu dem von Kodalle aufweist. Auch Tück setzt mit der Forderung nach einer nicht nivellierenden historischen Genauigkeit bei der Betrachtung von Tätern und Opfern an und wehrt sich gegen eine Dämonisierung der Täter [6] und auch er schärft seine These in Auseinandersetzung mit V. Jankélévitch [7]. Aber bei Tück sind diese Überlegungen in einen äußerst "steilen" theologischen Rahmen eingespannt: Es geht ihm um die Denkbarkeit des christlichen Heilsuniversalismus [8] auch angesichts der monströsen Taten von Auschwitz. Kann in einer Theologie nach Auschwitz noch endgültiges Heil für alle, die siegreiche Versöhnung der Welt in Christus erhofft werden?

Konfrontiert mit dieser theologisch brennenden und legitimen Frage verstrickt sich Tück in eine "Verfilzung", die auf theologischem Niveau der von Kodalles Überlegungen analog wirkt: Entwickelt sich bei Kodalle die Vergebung durch die Opfer zu einer Art Bedingung für die Erinnerung an die Täter, so wird bei Tück die Vergebungs-Bereitschaft der Opfer zum Prüfstein für eine christliche Eschatologie.

Wie kommt diese "Verfilzung" zustande? Ich kann die komplexen theologischen Überlegungen Tücks hier nicht insgesamt diskutieren. Das ist aber für meine Frage auch nicht nötig, denn das Problem bei Tück besteht in einer bestimmten Schlussfolgerung: Aus der respektablen Überlegung heraus, dass Vergebung von Opfern niemals erzwungen werden kann (auch dies ein Zwischenschritt bei Kodalle!) und dass theologisch gesehen auch Gottes Vergebung nicht über die Köpfe der Opfer hinweg gedacht werden kann [9], leitet Tück die Notwendigkeit der eschatologischen Vergebungsbereitschaft der Opfer als Vorbedingung für die letzte Rettung der Täter ab. Das führt nun zu einer ganz eigenartigen Umdrehung der traditionellen Rede vom Jüngsten Gericht: Als entscheidende letzte Heilsfrage geht es nun darum, "ob die Opfer die Haltung der vergebenden Liebe Jesu mit vollziehen" [10] oder ob sie "den Tätern das erlösende Wort der Vergebung verweigerten" [11]. Die eschatologische Hoffnung richtet sich nun darauf, "dass der Geist des auferweckten Gekreuzigten die Opfer befähigt, sich von der niemand ausschließen wollenden Liebe bestimmen zu lassen" [12]. Daran hängt nun alles: "Würden sich die Opfer dem Geist der Vergebung dauerhaft verschließen und ihren Peinigern niemals verzeihen können, liefe dies auf eine Perpetuierung unversöhnter Verhältnisse hinaus." [13]

Das - ich kann es nicht anders ausdrücken - Gespenstische dieser Formulierungen wird jeder ermessen, der die traditionelle eschatologische Redeweise in der Theologie einigermaßen kennt. Dort werden nämlich solche Formulierungen gebraucht, wenn es um die letzte Grenzfrage der endgültigen Verweigerung des Menschen gegenüber der Gnade Gottes geht, um die offen gehaltene Möglichkeit der Hölle also. Dies ist aber stets die Grenzfrage angesichts der Todsünde, des radikal Bösen des Menschen. Tück überträgt diese Redeweise jedoch auf die eschatologische Entscheidungssituation der Opfer von Auschwitz - bis hin zu einer Formulierung wie: "die Möglichkeit definitiver Verweigerung bleibt" [14], die man in jeder traditionellen Dogmatik im Kapitel über die Verdammung lesen kann, die bei Tück aber die Vergebungs-Verweigerung durch die Opfer der Geschichte meint. Denn ihnen wird sozusagen die Verantwortung für die Hölle ihrer Peiniger aufgeladen. [15] Dass ich Tück hier nicht falsch interpretiere, versichert er selbst im Vorwort zu dem zitierten Sammelband, wo er das Fazit seines Beitrags so zusammenfasst: „Ob sich … die Hoffnung auf eine eschatologische Versöhnung zwischen Opfern und Tätern vertreten lässt, hängt an der Frage, ob die Opfer am Ende die messianische Haltung Jesu übernehmen und in ihren Tätern vergebungsbedürftige Nächste sehen können.“ [16]

Tück ist nicht der einzige Theologe, bei dem sich diese eschatologische Rede vom letzten Problem der Opfer-Versöhnung findet. Auch Magnus Striet sorgt sich im selben Sammelband: "Niemand weiß ... zu sagen, ob die Gedemütigten und Ermordeten sich von Gott versöhnen lassen werden" [17] Die Formulierung irritiert so sehr, weil sie die paulinische Rede von der Welt, die Gott in Christus mit sich versöhnt hat (2. Kor 5,19), in einer Weise variiert, als sei dabei die letzte verbleibende Restunsicherheit die Versöhnungsbereitschaft der Opfer der schrecklichsten Menschheitsverbrechen.


Wahrheit und Versöhnung – Das Beispiel Südafrika

Wie kommt es zu dieser auffälligen Parallelität von philosophischen und theologischen Überlegungen (die offensichtlich nicht voneinander abhängig sind), von Überlegungen, die sich einmal auf die gegenwärtige Erinnerungskultur und ein anderes Mal auf das Jüngste Gericht beziehen? Die Nähe säkularer und religiöser Antworten ist wohl schon durch den ins Spiel gebrachten Begriff der Versöhnung oder Vergebung angelegt. Wo Versöhnung als Kategorie der politischen Vergangenheitsbewältigung eingeführt wird, bringt sie stets einen religiös-eschatologischen Unterton in die gesellschaftliche Auseinandersetzung ein. "Versöhnung ... konstatiert eher einen paradiesischen Endzustand, als dass ein Prozess des Umgangs mit Schuld beschrieben würde." [18]

Um durch diesen aufgeladenen Begriffsgehalt nicht in eine weitere Verfilzung zu geraten, dürfte es angebracht sein, die gesellschaftliche und die theologische Verwendung des Begriffs zunächst getrennt voneinander zu analysieren. Aus einer zunächst also politischen Sicht sind die religiösen Implikationen des Versöhnungs-Begriff erst einmal mit Vorsicht zu betrachten, d.h. kritisch: Ihn unreflektiert und tendenziell absolutistisch in die politische Debatte einzubringen, bringt die Gefahr mit sich, die gesellschaftliche Aufarbeitung von Schuld zu überspringen. Die Versöhnungsforderung wird dann zum Legitimationsmittel, konkrete Schuldbenennungen zu unterbinden. "Weil der Begriff 'Versöhnung' so viel verspricht ... zumal in der christlichen Tradition, ist die Gefahr des propagandistischen Missbrauchs groß." [19] Ralf Wüstenberg, der diese Warnung ausspricht, hat den Zusammenhang von politischer Aufarbeitung von Schuld und der Möglichkeit von Versöhnung zwischen Tätern und Opfern anhand der Wahrheitskommissionen (genauer eben: Kommissionen für Wahrheit und Versöhnung) in Südafrika nach dem Ende des Apartheidregimes untersucht. Er ist durchaus kein Gegner einer Praxis der Versöhnung. Aber er analysiert, unter welchen Bedingungen Versöhnung wahrhaftig stattfinden kann und wann ihre Propagierung zu einer unwahrhaftigen Ideologie wird.

"Versöhnung scheint möglich bei einer sich abzeichnenden Veränderung des Täters", konstatiert Wüstenberg aufgrund der Erfahrungen in Südafrika: "Bedingung der Möglichkeit von Versöhnung ist offenbar die Begegnung mit den Opfern" [20] - eine Begegnung, in der deren Opfer-Verhältnis zu den Tätern wirklich aufgebrochen wird, indem sich die Täter nämlich ihren Taten stellen und sie in öffentlicher Befragung durch die Opfer eingestehen und sich mit ihnen konfrontieren müssen. Nur unter dieser Voraussetzung können Opfer auch Vergebung aussprechen. "Opfer können Tätern nur vergeben, wenn diese ehrlich sind und ihre Taten aufrichtig bedauern." [21] Das schließt für den Täter "das Erschrecken über seine Unmenschlichkeit im Angesicht der Opfer" ein. [22] Die Praxis der Wahrheitskommissionen, welche auf diese Veränderung der Täter ausgerichtet ist, beinhaltet "auch die öffentliche Scham, die aus der minutiösen Schilderung der Taten folgt" und darin auch "eine Form der Strafe" darstellt. [23]

Die südafrikanischen Wahrheitskommissionen haben diese Bedingung geradezu zum Programm der politischen Vergangenheitsbewältigung gemacht. Die Veränderung des Täters in Konfrontation mit seinen Taten und mit den Opfern wurde zur Bedingung für seine Freiheit von Strafverfolgung: "Amnestie gegen Wahrheit". [24] Dabei darf aber nicht der Eindruck entstehen, als sei die Vergebung durch die Opfer Voraussetzung der Amnestie, als würde "durch ... Amnestiegesetzgebung den Opfern die Vergebung verordnet." [25] Die Bereitschaft zur Wahrheit und zum Bedauern (theologisch: zu Bekenntnis und Reue) ist Voraussetzung der Amnestie - die Vergebung durch die Opfer und so u.U. auch die Versöhnung zwischen Opfern und Tätern ist dadurch vielleicht möglich, ist für die gesellschaftliche Befriedung zu erhoffen, aber keine notwendige Bedingung und kein praktikables Ziel. Die etwa von Kodalle geforderte Entflechtung von Wahrheitsfrage und Schuldfrage bedeutet also zunächst gerade, die konkrete Erkenntnis von Taten und Tätern und damit auch von historischer Schuld zu lösen von der Frage, ob Opfer diese Taten und diesen Tätern verzeihen können oder nicht. Es ist der Täter allein, der durch sein Verhalten die Amnestie erwirken kann. Dagegen kann "weder einem Opfer Vergebungsbereitschaft aufgezwungen werden, noch kann dessen Vergebung einen Täter vor der Strafverfolgung schützen" [26] Wüstenberg nennt dies einen "teuren Versöhnungsbegriff", einen "auf Veränderung bedachten Versöhnungsbegriff" - im Gegensatz dazu steht ein "strategisch-illegitimer Versöhnungsbegriff." [27] Wo die Bedingungen für eine echte Veränderung des Täter-Opfer-Verhältnisses nicht gegeben sind, kommt es "zu einer verfehlten Romantisierung der Versöhnungsbemühungen". [28]


Billige Gnade und Unschuldsdiskurs

Durch die Begrifflichkeit einer „teuren“ gegenüber einer billigen Versöhnungspraxis sind wir aber wieder im theologischen Diskurs angelangt – stammt doch die Formel von der „billigen Gnade“ aus der Kritik Dietrich Bonhoeffers am bürgerlichen Protestantismus. Er hat diese Kritik schon vor dem Krieg und der Shoah formuliert. Wirklich durchgedrungen ist er damit jedoch nicht – und das gilt nicht nur für protestantische Kirchen. Denn der Missbrauch schlecht interpretierter Gnadenlehre für eine Art fataler „Verkürzung“ der Vergangenheitsbewältigung ist leider ein Merkmal kirchlichen Umgangs mit der Schuldfrage in der Nachkriegszeit. Und hier können wir nun nicht mehr umhin, die Verfilzung politisch-gesellschaftlicher und theologischer Argumentationslinien und ihre Folgen direkt zu betrachten.

Wie K. von Kellenbach gezeigt hat [29], neigte die kirchliche Seelsorge dazu, im Namen der Lehre von der zuvorkommenden Gnade den Tätern auch bei völliger Uneinsichtigkeit und mangelnder Reue Vergebung zuzusprechen, während sie umgekehrt die Forderung von Opfern nach Aufklärung und Strafe häufig als unchristliche Unversöhnlichkeit geißelte. Kellenbach zeigt dies von der Gefängnisseelsorge an NS-Tätern bis hin zum Fall des Münchener Weihbischofs Matthias Defregger, der in Italien an einer Geiselerschießung beteiligt war. Als Überlebende 1969 auf einen Prozess drängten, wurde ihnen von Defreggers Vorgesetztem, Kardinal Döpfner, Selbstgerechtigkeit und mangelnde christliche Vergebungsbereitschaft vorgehalten. [30]

Im neuen theologischen Diskurs um die eschatologische Versöhnung ist es nun wieder die streng zuvorkommende, nicht verdiente Gnade , die aus der bis ans Kreuz gelebten Feindesliebe Jesu entspringt, welche das Täter-Opfer-Verhältnis überwinden soll. [31] Es ist dieser theologische Schachzug, gegen den m.E. deutlich protestiert werden muss, weil er die Radikalität christlicher Gnadenlehre den Tätern zuspricht, den Opfern jedoch als indirekte Forderung aufbürdet. Zunächst spreche ich diesen Protest im Blick auf die gesellschaftliche Funktion solcher theologischen Aussagen aus, die auch in einer eschatologischen Argumentation nicht ausgeblendet werden darf [32]. Theologische Überlegungen über eine eschatologische Versöhnung zwischen Opfern und Tätern leiden an einer dogmatischen Abstraktheit, die so tut, als könne man rein grundsätzlich Letzt-Fragen des Jenseits abhandeln, ohne die Funktion dieses Diskurses für irdische Verdrängungsmechanismen zu reflektieren, die immer noch anhalten. Wer als entscheidende Frage des Endgerichts die Vergebungsbereitschaft der Opfer diskutiert, der impliziert damit einen bestimmten Zusammenhang von Gnaden- und Feindesliebe-Predigt mit dem Erinnerungs- und Versöhnungsdiskurs auch schon in der Gegenwart.

Deshalb habe ich die Sorge, dass die neue Sorge um die Versöhnungsbereitschaft der Opfer im Endeffekt einen Versuch darstellt, die früheren bundesrepublikanischen Unschuldsdiskurse auf einem endgültigen höheren Niveau wieder herzustellen. Was Kodalle und Tück (beispielhaft für ähnliche Tendenzen) gemeinsam haben, ist die "Verfilzung" der Frage, wie wir heute erinnernd und hoffend mit Auschwitz konfrontiert sind, mit dem Vergebungspostulat. Anders ausgedrückt: Im Kampf gegen die angeblich gesellschaftlich prägende Tendenz zur Kollektivschuldthese bzw. theologisch zu einem Bruch mit dem christlichen Heilsoptimismus nehmen sie ihre Zuflucht zu einer der Kollektivschuld-These entgegengesetzten Hoffnung auf All-Versöhnung, die nun aber ebenso konsequent wie paradox den Opfern aufgebürdet wird. Es liegt nun an den Opfern, den Bann zu brechen.

Wie eingangs skizziert, hat die historische Arbeit Schritt für Schritt die Reservate angeblicher Unschuld zerstört. Sie hat damit keineswegs eine Kollektivschuld erwiesen, sondern ein Ausmaß an Verstrickung offen gelegt, das es erzwingt, in allen gesellschaftlichen Bereichen - eben auch in Kirche und Theologie - die Schuld konkret aufzuarbeiten. Dabei geht es heute und in Zukunft nicht um die Verurteilung oder gar (im eschatologischen Sinne) Verdammung der Täter. Geschichtsschreibung ist kein moralisches und Theologie kein Weltgericht. Es geht vielmehr darum, die Imprägnierung von Politik, Gesellschaft und Kirche durch die Schuldverstrickung so konkret und tief zu erfassen, dass sich die gebliebenen Strukturen, die Erbschaften dieser Schuld abarbeiten lassen. Dazu gehört in der Theologie der sublime Antijudaismus, dazu gehört gerade auch der Missbrauch der Gnadentheologie zur billigen Exkulpierung, dazu gehört die Immunisierung der Kirche gegenüber Schuldanerkenntnis durch ekklesiologische Überhöhung - und einiges mehr.

Der hier problematisierte Diskurs um die Versöhnungsbereitschaft der Opfer wirkt auf mich, als wolle man Versöhnung wie eine große, alles einschließende Klammer um die schmerzhafte konkrete Erinnerung legen, weil man sie nur dann ertragen kann. Wie sonst lässt sich die ebenso schlicht unlogische wie auch tendenziell zynische Umkehrung erklären, in der in diesen Überlegungen die Opfer plötzlich das Problem sind und nicht die Täter. Es ist, als hätten die Opfer die Verantwortung dafür, dass wir Nachgeborenen der Täter mit unserem Erbe leben können, gemäß dem bekannten Diktum von Zwi Rex, dass die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen würden. Tritt einem nicht als letztes dunkles Geheimnis in fast jedem Bericht über Kontinuitäten vor und nach 1945 - zuletzt eben wieder in der Untersuchung zum Auswärtigen Amt - die scheinbar unerschütterliche Schuldblindheit von Tätern entgegen, und nicht das Problem unversöhnlicher Opfer? [33]

Gesellschaftspolitische Überlegungen müssen allerdings davon ausgehen, dass der Adressat der Erinnerungsarbeit eine nachwachsende Generation im Land der Täter ist, die weder beschuldigt werden kann noch der vergeben werden muss, die vielmehr wissen soll. Auch und gerade diese Generation sollte nicht mit Schlussstrichen und einer alles zudeckenden Versöhnungsbotschaft abgespeist werden, sondern mit konkreter Erkenntnis, die schmerzhaft ist, die aber den Bann von Kollektivschuldempfindungen und Unschuldsdiskursen bricht.

„Der Holocaust wird da, wo ich herkomme, weitgehend ignoriert. Versucht man mit Zeitzeugen darüber ins Gespräch zu kommen, blockieren sie und wehren ab. Als ob man fragen würde: Warst du schuld am Tod von sechs Millionen Juden?“ So erzählt heute noch ein 19-Jähriger [34]. Die Studie, in der er zitiert wird, zeigt, dass die Reflexion auf konkrete Schuld und den Umgang mit ihr offensichtlich auch in der nachwachsenden Generation nicht unzeitgemäß ist. Danach halten 80 Prozent der 14- bis 19-Jährigen Erinnern und Gedenken für sinnvoll, „59 Prozent empfinden Scham angesichts der deutschen Verbrechen.“ [35] Nach den Ergebnissen der Studie „berührt die Frage nach der Schuld offenbar noch immer den deutschen Identitätskern.“ [36]


Gericht als reale Veränderung

Schließlich möchte ich mich als Theologe aber auch nicht um eine Positionierung in der durch das Versöhnungsthema aufgebrochenen eschatologischen Frage drücken. Die Problematik der hier kritisierten These besteht aus meiner Sicht in einer einseitigen Reflexion der Theologie des Gerichts – oder umfassender gesagt: der christlichen Erwartung der Wiederkunft Christi. Dass der christliche Messianismus auf die Wiederkunft des Gekreuzigten hofft, dessen Zeugnis von Feindesliebe und Reich-Gottes-Hoffnung auch angesichts des Todes das wahre Antlitz Gottes offenbar gemacht hat [37], bestreite ich nicht. Allerdings ist diese Feindesliebe gerade im Gericht nicht primär die Kraft, die Opfer zur Vergebungsbereitschaft bewegt, sondern die glühende Kohlen auf das Haupt der Täter sammelt (Röm 12,20). Sie ist also tatsächlich „zuvorkommende Gnade“, Angebot der Vergebung – die eschatologisch offene Frage ist, ob sich jene Täter davon demaskieren und zur Vergebungsbitte bewegen lassen, die auf Erden kein Zeichen auch nur eines schlechten Gewissens erkennen ließen.

Was die Opfer angeht, so ist deren Hoffnung auf das Gericht eine Hoffnung auf Gerechtigkeit. [38] Sie ist das in der christlichen Eschatologie der Bibel beider Testamente gegenüber zu Unrecht an den Rand gedrängte oder moralisch individualisierte Thema. Mit Wiederkunft und Gericht ist uns die Einlösung der ersten beiden zentralen Bitten des Gebetes Jesu verheißen: Dass Gottes Reich anbricht, bedeutet, dass sich sein Wille endlich auf Erden so durchsetzt wie im Himmel. In diesem Sinne ist das Jüngste Gericht tatsächlich eine „Wahrheitskommission“, die – im Unterschied zu deren irdischen unvollkommenen Varianten – die Macht auch zur echten Entschädigung und Wiedergutmachung hat. [39]

Das mag nun geradezu religiös naiv klingen. Aber wenn wir theologisch noch eschatologische Töne anzuschlagen uns trauen, dann müssen es die jener revolutionären Verheißung sein, die auf eine gerechte Umkehrung der irdischen Verhältnisse weisen – neutestamentlich etwa im Lukasevangelium vom Lied der Maria (Lk 1,46-56) bis hin zu den Seligpreisungen und Umsturzdrohungen Jesu (Lk 6, 20-26 – übrigens gleich vor dem Gebot der Feindesliebe!). Diese auf Gerechtigkeit zielende Verheißung stellt, wenn sie sich erfüllt, jene Verhältnisse her, in denen auch Versöhnung aller möglich ist, die sich zu ihr rufen lassen – Versöhnung, die nur in solchen Verhältnissen offenbarer Gerechtigkeit nicht mehr einseitig sein wird, nicht mehr betrogen und verhöhnt. Wir treiben Eschatologie, weil „Gott noch Antworten schuldet“ [40].

Angesichts der irdischen Weise von „Vergangenheitsbewältigung“ – und das mag nicht nur für die Shoah und nicht nur für Deutschland gelten – könnte die Theologie gerade lernen, was es heißt, das Gericht nicht zu fürchten, sondern herbei zu sehnen als die uns bitter notwendige Selbstverifikation Gottes. Wer die Beziehungen zwischen Tätern und Opfern konkret reflektiert, wie sie auch nach 1945 überwiegend weiter bestanden haben, der wird von den Eschata vor allem das Gericht erhoffen, das zurecht rückt, Gerechtigkeit schafft, wie es die hiesigen Gerichte nicht vermochten. Eine Versöhnung ohne diese Revolution Gottes kann ich mir nicht vorstellen.

Eine Eschatologie der letzten All-Versöhntheit erscheint wie eine Projektion des Wunsches, die Wunde von Auschwitz gerade in der christlichen Identität endlich geschlossen zu haben. Sie lässt sich aber nicht schließen – vor allem kann sie uns keine Vergebung durch die Opfer schließen. Man möge deshalb die Apokatastasis, das „Tikkun olam“ wirklich den Eschata Gottes überlassen. Unser Tikkun besteht darin, die Risse zu bewohnen, die seit der Shoah das Christentum durchziehen und in ihnen die uns mögliche Aufräumarbeit und die uns mögliche Versöhnung zu leisten.




[1] Conze/Frei/Heyes/Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010.
[2] Vgl. etwa den Disput zwischen Norbert Reck und Elisabeth Gössmann über Michael Schmaus, nachzulesen in: N. Reck, „Wer nicht dabei gewesen ist, kann es nicht beurteilen“. Diskurse über Nationalsozialismus, Holocaust und Schuld in der Perspektive verschiedener theologischer Generationen. MThZ 56, 2005, 342-354. Einschlägig auch die Studie von L. Scherzberg, Kirchenreform mit Hilfe des Nationalsozialismus. Karl Adam als kontextueller Theologe. Darmstadt 2001. Für die weitere Diskussion zur Theologie im Nationalsozialismus die Sammelbände: L. Scherzberg (Hg.) Theologie und Vergangenheitsbewältigung, Paderborn 2005 und Krondorfer/Kellenbach/Reck, Mit Blick auf die Täter, Gütersloh 2006.
[3] So im Untertitel seines Aufsatzes in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut an der Universität Duisburg-Essen, Heft 2/2010, 1-8.
[4] A.a.O. 7
[5] Jan-Heiner Tück, Inkarnierte Feindesliebe. Der Messias Israels und die Hoffnung auf Versöhnung, in: Streitfall Christologie. Vergewisserungen nach der Shoah, Freiburg 2005, 216-258.
[6] Ebd. 224-229
[7] Ebd. 230-236
[8] Ebd. 217
[9] So ebd. 235
[10] Ebd. 242
[11] Ebd. 243
[12] Ebd. 253
[13] Ebd. 254
[14] Ebd. 254
[15] Wie wenig Tück selbst diese fatale Umkehrung der üblichen eschatologischen Redeweise zu bemerken scheint, sieht man an einem Zitat aus einer Eschatologie von Medard Kehl, das Tück in einer Fußnote anführt: "Bei den Opfern scheint mir die Möglichkeit einer endgültigen Unversöhnlichkeit weniger plausibel zu sein", schreibt Kehl - zitiert bei Tück 254. Von Kehl ist dies natürlich im Vergleich zu den Tätern gemeint, will sagen: Die Opfer in ihrer Leidensgemeinschaft mit Christus sieht er der Annahme der Gnade Gottes per se näher als die Täter des radikal Bösen, die hier erst über einen gewaltigen Schatten springen müssen. Tück zitiert Kehl jedoch, um sein letztes Problem der Versöhnungsbereitschaft der Opfer einer Lösung entgegen zu führen. Das für Kehl deutlich schwerer wiegende Problem der letzten Versöhnungs-Verweigerung der Täter bleibt bei ihm völlig blass. Zwar spricht Tück mehrfach davon, dass auf Seiten der Täter Erkenntnis und Reue zu fordern sind, aber diese scheint Gott im Gericht schon irgendwie herbeiführen zu können. (Vgl. ebd. S. 256: "Als Täter von Christus, dem Retter, unbedingt angenommen, können sie mit Christus, dem Richter, das Gericht über sich und ihre Untaten anerkennen, den Reueschmerz tragen und um Vergebung bitten.")
[16] Ebd. 11.
[17] M. Striet, Christologie nach der Shoah?, ebd. 211.
[18] Ralf K. Wüstenberg, Aufarbeitung oder Versöhnung? Vergangenheitspolitik in Deutschland und Südafrika (Internationale Probleme und Perspektiven Bd. 18). Schriftenreihe der Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 2008, S. 7.
[19] Ebd.
[20] Ebd. 44 f.
[21] Ebd. 62. Diesen Grundsatz hat sich übrigens auch die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung des Unrechts im SED-Staat DDR zu eigen gemacht: "Erst wenn die Wahrheit offengelegt und Schuld von den Tätern eingestanden ist, kann auch die Versöhnung zur Sprache kommen." (Zitiert nach ebd. 98)
[22] Ebd. 64. Dieses Erschrecken auf Seiten der Täter ermöglicht es erst, ihn zu "verstehen", d.h. nicht ihn zu entschuldigen, sondern in ihm wieder den Menschen zu erkennen, der stets mehr ist als die Summe seiner Taten.
[23] Ebd. 68.
[24] Ebd. 59.
[25] Ebd. 62.
[26] Ebd. 63. Wüstenberg weist daraufhin, dass in der südafrikanischen Diskussion die "Aufforderung zum Vergeben" an die Opfer mitunter "aus religiöser Ecke kam", von anderen aber gerade als "unchristlich" empfunden wurde. (Ebd.)
[27] Ebd. 66. Dabei erkennt Wüstenberg in der südafrikanischen Amnestie-Praxis durchaus auch Elemente solch eines illegitimen Gebrauchs des Begriffs Versöhnung. Amnestie tritt in Südafrika deshalb an die Stelle von Strafprozessen und der Täter-Opfer-Ausgleich wird deshalb aktiv gefördert, weil die Stabilität der südafrikanischen Gesellschaft nach der Apartheid die Integration der alten Eliten, auch die des Militärs und der Polizei, erfordert. Es gab den Druck zu einem "Neuanfang um jeden Preis" und dieser führte auch zu einem "strategischen Missbrauch des Versöhnungsbegriffs" (ebd. 129). Das erinnert an manches, was sich in Deutschland nach 1945 ereignete - ein Vergleich, den Wüstenberg nicht zieht, weil er Südafrika mit dem Geschehen nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 vergleicht, einem Fall von Vergangenheitsbewältigung, in dem es keine junge, noch instabile Demokratie gab.
[28] Ebd. 129.
[29] Vgl. ihre drei Aufsätze: Theologische Rede von Schuld und Vergebung als Täterschutz, in: Kellenbach/Krondorfer/Reck (Hrg.), Von Gott reden im Land der Täter. Darmstadt 2001, 46-67; dann: Christliche Vergebungsdiskurse im Kontext von NS-Verbrechen, in: L. Scherzberg (Hg.) Theologie und Vergangenheitsbewältigung, Paderborn 2005, 179-195; schließlich: Schuld und Vergebung. Zur deutschen Praxis christlicher Versöhnung, in: Krondorfer/Kellenbach/Reck, Mit Blick auf die Täter. Gütersloh 2006, 227-312.
[30] Vgl. Kellenbach, Christliche Vergebungsdiskurse 190 f. Es mutet angesichts dieser Tradition schon merkwürdig an, wenn Tück George Steiners Formulierung, "Jesus ... revidiert elementare Instinkte, vor allem die der Rache, in seinem eigenen jüdischen Wesen" zustimmend zitiert, ohne eine Bemerkung zu der fatalen Funktion dieses Klischees im christlichen Antijudaismus für nötig zu halten. (So Tück, a.a.O. 242.)
[31] Für Tück vgl. dazu a.a.O. S. 237-242. Magnus Striet verbindet diesen Ansatz mit der dogmatischen Überlegung, dass im Leiden des Gottessohnes, also einer Person der Trinität, die letzte Theodizee, also die Aufhebung des Leidens in Gott selbst hinein, gegeben ist. Darin stellt er sich im Streit zwischen Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar um den Neuchalkedonismus (die Frage nach der Bedeutung der Zwei-Naturen-Lehre für die Theologie des Kreuzes) auf von Balthasars Seite. (Vgl. ebd. 200-209). Auf diese Diskussion kann ich hier nicht näher eingehen.
[32] Schon seit K. Rahners Überlegungen über „Theologische Prinzipien der Hermeneutik eschatologischer Aussagen“ (Schriften zur Theologie IV, S. 401-428; Einsiedeln 1960) dürfte deutlich sein, dass sich theologische Spekulation über das „Jenseits“ nicht in einem von der Gegenwart getrennten Raum von End-Offenbarungen, von christlichem Wissen über die Zukunft bewegt, sondern auf die absolute Zukunft angewandte Lehre dessen ist, wie sich Gott uns gezeigt hat und gegenwärtig zeigt. Das heißt hermeneutisch aber auch im Rückkehrschluss: Eschatologische Aussagen sind keine Zukunfts-Visionen, die sich lösen lassen von ihrer pragmatischen Funktion für die Gegenwart, ihrem Charakter als Gegenwartskritik und ethischem Appell. Das ist schon und gerade biblisch so und sollte von einer Dogmatik nicht verdrängt werden.
[33] Unvergesslich ist mir das Radiostück "Bei uns zu Hause in Auschwitz" von Bruno Schirra, wo der den Lagerarzt Hans Münch in seiner bürgerlichen bayerischen Idylle aufsuchende ehemalige Häftling Imre Gönczy noch in der Konfrontation wieder in seine Opferrolle zurückgedrängt wird, während der Täter sich vor jeder Anfechtung zu schützen weiß. Man mute sich dieses Stück zu und frage sich dabei, was hier "Versöhnungsbereitschaft" bewirken, was sie überhaupt bedeuten soll. (Vgl. http://www.themen-tv.de/de_G3/605-Das-Feature-Bei-uns-zu-Hause-in-Auschwitz-Der-Jude-und-der-Landarz.htm# und den Bericht http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-8001833.html)
[34] Zitiert in: ZEIT Magazin „War Ur-Opa ein Nazi?“, Nr. 45 (4.11.2010) S.19.
[35] Ebd. S. 14
[36] Ebd. 15
[37] Zu den darin angesprochenen Überlegungen vgl. für Tück a.a.O. 247-252, ähnlich bei Striet ebd. 196-200.
[38] Vom Gericht als der „Gerechtigkeit schaffenden Macht Gottes“ spricht eindrücklich das Würzburger Synodendokument „Unsere Hoffnung“ (Unsere Hoffnung 4). Vgl. dazu im Kontext der Diskussion um Versöhnung jetzt: Lucia Scherzberg, Vergebung ohne Reue? Christliches Sündenverständnis angesichts der NS-Verbrechen, in: Bibel heute 185 (2011) H. 1, 26-28
[39] J.-H. Tück hat diesen Aspekt ebd. 251 f. deutlich angesprochen.
[40] So M. Striet ebd. 215. Er fährt dann aber fort: „und weil das erlösende Wort der Gemordeten noch fehlt.“ Der Satz zeigt damit deutlich die beiden Seiten, worin ich mit den hier diskutierten Theologen übereinstimme und worin nicht.

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