James H. Cone, Kreuz und Lynchbaum. Mit einem Vorwort von Jürgen Moltmann. Aus dem Englischen von Ursula Sieg. Struvenhütten 2019, mutual blessing edition, 264 S., 24.- €, ISBN: 978-3-9817459-4-8.

 

„Christ is a nigger“ [1]

 

„Der Tod von Michael Brown in Ferguson am 9. August 2014 gab den Anstoß für die Übersetzung und Herausgabe dieses Buches“, schreibt Ursula Sieg im Vorwort (S. 13) [2]. Diese Rezension wurde geschrieben kurz nach dem Tod von George Floyd und den Schüssen auf Jacob Blake durch weiße Polizisten. Was werden die jüngsten „Fälle“ sein, wenn Sie diese Zeilen lesen? Ein ohnmächtiges „Hört das denn niemals auf?“ schleicht sich leicht in den Kopf bei der Lektüre des letzten Buches von James H. Cone. Er selbst erlebte die jüngsten Ereignisse nicht mehr: Cone, der 1969 mit „Black Theology and Black Power“ die afro-amerikanische Befreiungstheologie in den USA begründete, starb am 28. April 2018 im Alter von 79 Jahren.

 

Auf das Lynchen zurückkommen

In „The Cross and the Lynching Tree“ (so der Originaltitel von 2011) erinnert Cone schmerzhaft an das tief sitzende Trauma eines „Hört das denn niemals auf?“ der Schwarzen, welches in der weißen Bevölkerung weitgehend verdrängt und vergessen wurde: an die Epoche der massenhaften Lynchmorde, die sich vom Ende des amerikanischen Bürgerkrieges bis in die 1940er Jahre zog. Auch in Europa scheint mir wenig über diese Geschichte bekannt: Mir jedenfalls war nicht nur das Ausmaß unbekannt – schätzungsweise 5.000 Opfer (29 f.) - sondern vor allem die demonstrative Öffentlichkeit dieser Folter-Morde: Sie waren ein häufig in Zeitungen sogar angekündigtes Medienspektakel, bei dem mitunter „Frauen und Kinder damit beginnen durften, die Opfer zu quälen“, von dem Fotos gemacht und „Postkarten gedruckt“ wurden (38). Schwarze – meist wegen des (häufig unbegründeten) Vorwurfs der Annäherung an weiße Frauen – zu verstümmeln, zu erhängen, zu verbrennen, war fast 80 Jahre lang ein Bestandteil von Gesellschaft und Kultur (überwiegend, aber nicht ausschließlich) in den Südstaaten der USA.

Diese öffentlich akzeptierte und auch offiziell wenig bekämpfte Kultur rassistischer Gewalt war zudem Teil einer auf beiden Seiten, bei Tätern wie Opfern, christlich geprägten Kultur. Die weiße Suprematie gehörte zum christlichen Selbstverständnis der weißen Bevölkerung, „weiße Rassisten predigten jeden Sonntag ein entmenschlichendes, rassenspezifisches Evangelium im Namen des Kreuzes Jesu“ (21). Diese Ideologie ließ Weiße auch die sich so stark aufdrängende ikonische Parallelität von Kreuz und Lynchbaum, von Bildern der Opfer und den Darstellungen des Gekreuzigten in den Kirchen, übersehen, bei der Cones Buch ansetzt.

„Die auffällige Abwesenheit des Lynchbaums in Amerikas theologischen Diskursen und Predigten“ (67) erstaunt dabei genauso wie umgekehrt die starke kreuzestheologische Prägung afroamerikanischer Frömmigkeit, von der ausgehend Cone seine befreiungstheologische Kreuzestheologie entwickelt. Wie konnten sich die Opfer einer rassistischen christlichen Ideologie und Praxis nach und durch Generationen in Sklaverei und Unterdrückung mit dem weißen Jesus und mit der Heilsbedeutung seines Kreuzestodes identifizieren? Wäre es nicht viel naheliegender gewesen, dass die Opfer diesen weißen Christus ihren weißen Unterdrückern überließen, ihn mit ihnen als Symbol der Unterdrückung ablehnten – so wie es von Cone zitierte Protagonisten schwarzer Emanzipation wie Langston Hughes (184 ff.) durchaus getan haben? „Es war nicht leicht für Schwarze, eine Sprache zu finden, um öffentlich über das Christentum zu sprechen, weil an den Jesus, an den sie glaubten, - zumindest dem Namen nach – auch Weiße glaubten, die Schwarze lynchten. Tatsächlich waren es weiße Sklavenhalter, Vertreter der Rassentrennung und Lyncher, die den Inhalt des Evangeliums definierten.“ (191)

 

Die Christologie der Songs

Den Ursprung dieses Wunders einer genuin afroamerikanischen Christologie – in welcher nach den Worten des Theologen Howard Thurman „der Sklave die Erlösung der Religion“ unternahm, „die der Sklavenhalter in ihrer Mitte verlästert hatte“ (211) - sucht Cone in den Texten des Blues und der Gospel auf. (Er hat der Theologie dieser Musik 1972 sein Buch „The Spirituals and the Blues: An Interpretation“ gewidmet.) Ich gestehe, dass Cones Interpretation zahlreicher Songs mich über die Leichtigkeit nachdenklich werden ließ, mit der ich wie viele meiner Generation und meines Milieus diese Musik liebe und mir angeeignet habe. Im Blues schufen sich Sklav*innen und ihre Nachfahren eine eigene Sprache – Ausdruck und Protest: „Der Blues hat die Menschen vorbereitet, für Gerechtigkeit zu kämpfen, indem er ihnen eine kulturelle Identität gab“ (64). Der theologischen Grundierung auch dieser „weltlichen“ Musiksprache waren sich manche der Musiker durchaus bewusst – etwa, wenn Stanley Crouch Jesu Verlassenheitsschrei am Kreuz „die ‚vielleicht beste Blueszeile aller Zeiten‘“ nennt (198).

Im Gospel entwanden die Schwarzen ihren weißen Unterdrückern die Jesusgeschichte. Cone zeigt, wie direkt die Sprache der Spirituals die Sänger*innen nach Calvary (Golgotha) unter das Kreuz versetzt, an die Seite Jesu („‘I was there when they nailed him to the cross‘“; 55), und mit seinen Gefährt*innen, insbesondere mit Maria und Martha, mit dem das Kreuz tragenden Nordafrikaner Simeon von Kyrene, aber auch mit alttestamentlichen Gestalten wie dem Gotteskämpfer Jakob, identifiziert. Diese Frömmigkeit an der Seite des leidenden Jesus unterläuft die protestantische Soteriologie, welche vom Gedanken stellverstretender Sühne und damit der Erlösung der Sünder geprägt ist, durch das, was Jürgen Moltmann im Vorwort „Solidaritätschristologie“ nennt (8): Christus ist mit den Verfolgten, Leidenden und Ermordeten solidarisch – und so solidarisieren diese sich mit ihm, finden sich in ihm wieder. Die Frömmigkeit der schwarzen Kirchen der USA schöpft deshalb vor allem aus einer Kreuzestheologie: „das Kreuz spricht zu Unterdrückten in einer Weise, wie es Jesu Leben und Lehre und sogar die Auferstehung nicht tun.“ (61)

 

Zwei Fallstudien: Niebuhr und King

Bevor Cone diese Frömmigkeit auf die Perspektive einer befreiungstheologischen Soteriologie hin befragt, geht er auf zwei historische Kontrastbeispiele ein.

Zunächst widmet er sich dem einflussreichen sozial-liberalen politischen Theologen Reinhold Niebuhr: „Amerikas einflussreichster Theologe des 20. Jahrhunderts“ (69) und prominentester Vorgänger Cones als Professor am Union Theological Seminary in New York. Cone möchte das Schweigen Niebuhrs zu dem in dessen Zeit noch vielfach praktizierten Lynchen verstehen. Wie konnte einem kritischen Theologen, der zudem das Evangelium und die Passion Jesu politisch-moralisch deutete, die Parallelität von Kreuz und Lynchbaum entgehen? Cone weist darauf hin, dass sich Dietrich Bonhoeffer während seines Gastaufenthaltes 1931 am Seminary ausdrücklich mit dem Lynchen befasste (84 f.), ebenso darauf, dass es ein New Yorker Jude, Abel Meeropol, war, der 1937 das durch Billie Holiday berühmt gewordene Lied „Strange Fruit“ über das Lynchen schrieb (211 ff.). Niebuhr dagegen riet zur selben Zeit zu politischem Realismus und zur Geduld. Natürlich verurteilte er die Rassentrennung und kirchliche Rechtfertigungen für sie, doch er integrierte die Rassen- nach der Logik des Nebenwiderspruchs in die Klassenfrage. Er konnte vier Bücher über US-amerikanische Geschichte schreiben, ohne sich mit Rassismus auseinanderzusetzen (99), er konnte persönlich Zeuge von Lynchgalgen in Mississippi werden, ohne das Erlebte theologisch zu verarbeiten (90 f.).

Cone analysiert die Haltung Niebuhrs mit großem Respekt, bis hin zu seinem eigenen Kontakt zu ihm (109 ff.); um so eindringlicher fällt sein Urteil über die erschütternde Wahrnehmungsbarriere des weißen bürgerlichen Intellektuellen gegenüber dem aus, was heute mit dem Slogan „Black Lives Matter“ markiert wird: „Was in seiner Sprache über Golgotha fehlte, war der Kontext, der die gegenwärtigen Kreuzträger in Amerika erkennbar gemacht hätte.“ (115)

In Spiegelung dazu und ebenso im biografischen Kontext untersucht Cone die Kreuzestheologie Martin Luther Kings. Die Initialzündung zur Bürgerrechtsbewegung, Rosa Parks Protest gegen die Rassentrennung im Bus, ereignete sich wenige Monate nach dem aufsehenerregenden Lynchmord an dem 14-jährigen Emmet Louis Till. King findet zu seiner Berufung als Prophet dieser Bewegung, indem er Todesängste nach einer Morddrohung gegen ihn überwindet. King studierte Niebuhr, er orientierte sich zur Deutung der Passion Jesu an der Hegelschen Dialektik (124 f.), aber er verstand diesen theoretischen Hintergrund als Auftrag für einen nicht aufzuschiebenden Kampf – bis hin zur Deutung des eigenen mögliches Todes als „Preis, den ich zahlen muss, um meine weißen Brüder und Schwestern vom andauernden spirituellen Tod zu befreien“ (zitiert 141). King verbindet also die schwarze Christologie der Solidarität mit einer existenziell übernommenen Soteriologie der Stellvertretung!

 

Afroamerikanische Soteriologie

Während der atemberaubenden Lektüre der Studien Cones zur Geschichte des Lynchens und seiner Reflexion in Blues und Gospel, in afroamerikanischer Literatur, bei Niebuhr und King begleitete mich stets die gewissermaßen aufgeschobene Theologenfrage, ob und wie angesichts dieser Zeugnisse eine Relecture christlicher Kreuzestheologie noch möglich wäre. Denn: „Es ist eine Sache, über das Kreuz als theologisches Konzept nachzudenken oder als magischer Talisman, eine andere aber, Golgotha mit dem Lynchbaum in der Erfahrung Amerikas zu verbinden.“ (175)

Cone findet zu seiner Antwort interessanterweise über die Reflexion der Erfahrung von Frauen. Er nähert sich dabei ausdrücklich der womanistischen Theologin Delores Williams an, die seinerzeit den Androzentrismus von Cones früherer Befreiungstheologie kritisiert hatte. [3] Nach ihrer Analyse wurden schwarze Frauen oft in eine „Stellvertretungsrolle“ für ihre Männer gedrängt (195), welche der sexualisierte Rassismus in eine ambivalente, verunsicherte und überkompensierende Männerrolle zwängte. [4] So sind es früh (nämlich lange vor der ebenfalls mit einer Frau beginnenden Bürgerrechtsbewegung!) schwarze Frauen wie C.H. Brown, A.J. Cooper, M.C. Terell u.a. (221), welche den Kampf gegen das Lynchen anführen und reflektieren. Die 1862 noch in Sklaverei geborene Ida B. Wells dekonstruierte dabei auch die strukturelle Unchristlichkeit des weißen rassistischen Christentums, welches zur Anfechtung ihres eigenen Glaubens wurde – jedoch ohne dass sie diesen verlor.

Das Aushalten dieser „Stellvertretung“ in der eigenen Community und gegenüber dem Selbstwiderspruch rassistischen Christentums scheint mir der Angelpunkt von Cones Soteriologie: Sie kritisiert mit den womanistischen Theologinnen die traditionelle Sühnetheologie stellvertretenden Leidens (233 f.) und will doch „das Kreuz für den christlichen Glauben als zentral ansehen“ (235). Diese zentrale Bedeutung ist zunächst tatsächlich die der Solidarität – aber in der theologisch anspruchsvollsten Version einer Identifizierung Gottes mit den Leidenden, ja einer Identifikation Gottes in ihnen:

„Weil Gott bei Jesus am Kreuz anwesend war und sich weigerte dem Satan und dem Tod das letzte Wort über seine Bedeutung zu überlassen, war Gott auch anwesend bei jedem Lynchmord in den Vereinigten Staaten von Amerika. Gott sah, was Weiße unschuldigen und hilflosen Schwarzen antaten, und erklärte ihr Leid zu Gottes eigenem. Gott transformierte die gelynchten schwarzen Körper in den gekreuzigten Leib Christi. Jedes Mal, wenn ein weißer Mob einen Schwarzen lynchte, lynchten sie Jesus. Der Lynchbaum ist Amerikas Kreuz. Wenn amerikanischen Christ_innen klar wird, dass sie Jesus nur in den gekreuzigten Körpern in unserer Mitte finden, werden sie dem wahren Skandal des Kreuzes begegnen.“ (245)

Dies ist eine wahrlich „steile“ Soteriologie einer schwarzen Befreiungstheologie. Cone führt in ihr seine Herkunft aus der afroamerikanischen Calvary-Frömmigkeit mit seiner theologischen Beeinflussung durch Karl Barth zusammen – so entsteht eine herausfordernde politische Christologie. Sie führt ihn zu Sätzen, wie sie europäischen akademischen Theolog*innen kaum in die Tasten fließen würden: „Gottes liebende Solidarität kann Hässlichkeit – ebenso Jesus am Kreuz wie das schwarze Lynchopfer – verwandeln in Schönheit, in Gottes befreiende Gegenwart.“ (249) Ich gebe zu, dass ich über einen solchen Satz noch nicht hinwegblicke. Ich empfehle gerade deshalb Cones Buch unbedingt der Diskussion in unserer kontinentalen Theologie, die (so mein vielleicht ungerechter Eindruck) nach der notwendigen Dekonstruktion soteriologischer Konzepte vom Opfer bis zur Satisfaktion oft nur noch Abstraktes oder Banales zu sagen hat.

 

[1] „Christ is a nigger, / Beaten and black“: Beginn des Gedichtes „Christ in Alabama“ von Langston Hughes, zitiert bei Cone, Kreuz 185.
[2] Sieg begründet in diesem Vorwort auch ihre Übersetzung von Worten wie „Nigger“ und „Negro“, deren Gebrauch bei Cone sich deutlich von der aktuellen Sprachdiskussion unterscheidet. Dies und auch die (Nicht-)Übersetzung bleiben irritierend – aber dies scheint mir eine produktive Irritation, weil sie den Blick auf die wirklichen Verhältnisse lenkt.
[3] Dolores Williams, Sisters in the Wilderness: The Challenge of Womanist God Talk. Maryknoll, New York 1993, S. 269. (Williams war übrigens eine Doktorandin von Cone.)
[4] Was Cone (via Williams) über das „Zusammenspiel“ weißer Rassisten mit ihrer „Theorie“ über schwarze Männer als ständige sexuelle Bedrohung ihrer weißen Frauen (ein Grundmotiv der Lynchaktionen) einerseits und die Auswirkungen auf die Selbstbilder schwarzer Männlichkeit (angesichts deren Unfähigkeit, ihre Frauen und Kinder zu beschützen) andererseits analysiert, ließe sich m.E. tiefer deuten durch das Konzept des „Kyriarchalismus“, wie es Elisabeth Schüssler Fiorenza entwickelt hat. Vgl. Elisabeth Schüssler Fiorenza, Kyriarchat/Herrschaft und die ekklesia der Frauen, in: dies., Grenzen überschreiten. Der theoretische Anspruch feministischer Theologie, Münster 2004, S. 69-88.

 

Zum Rezensenten:

Dr. Gregor Taxacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Katholische Theologie an der TU Dortmund.

Refbacks

  • Im Moment gibt es keine Refbacks




Tübingen Open Journals - Datenschutz