Johannes Wallmann, Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt. Zum Umgang der evangelischen Kirche mit ihrer Geschichte, Leipzig 2019, Evangelische Verlagsanstalt, 311 S., 35,00.- €, ISBN: 978-3-374-06000-9


Der renommierte Kirchenhistoriker Johannes Wallmann hat im letzten Jahr ein neues Buch präsentiert, das sich laut Titel mit der Evangelischen Gemeinde innerhalb des Konzentrationslagers Theresienstadt auseinandersetzt. Der Titel ist dahingehend irreführend, dass lediglich der erste – aber mit Abstand ausführlichste – Beitrag des Buches sich jenen Christen unter den KZ-Gefangenen widmet, die nach nationalsozialistischer „Rassenlehre“ als Juden gegolten haben.

Die anderen fünf Beiträge sind Wiederabdrucke von Artikeln Wallmanns, welche dieser in der Zeit zwischen 1987 und 2017 veröffentlicht hat. Alle Beiträge, dies sei vorweggenommen, bestechen durch die bekannte direkte Art Wallmanns, orientieren sich zumeist an unmittelbar zuvor neu veröffentlichten Arbeiten, kommen meist ohne größere Umschweife schnell zum Thema und beinhalten nicht selten persönliche Anekdoten des Autors, was im positiven Sinn Einblicke in das Gefühlsleben und die Forschungsarbeit eines Wissenschaftlers ermöglicht.

Der erste Beitrag behandelt, wie erwähnt, die evangelische Gemeinde innerhalb des Konzentrationslagers Theresienstadt, zu der zwar bereits Forschungsarbeiten vorliegen. Wallmann legt aber klar und überzeugend dar, dass jene Arbeiten unter Wissenschaftlern und interessierten Laien so gut wie nicht bekannt sind. Zusätzlich kritisiert er, dass die EKD im Zuge des Reformationsjubiläums 2017 nicht jener sogenannten Judenchristen gedachte, die aufgrund der nationalsozialistischen Rassenideologie als Juden galten, was in den meisten Fällen KZ-Haft und Tod bedeutete. Wallmann möchte jenem Vergessen mit seinem Aufsatz entgegentreten, was wiederum den leicht irreführenden Buchtitel (verständlicherweise) erklärt. Als Hauptquellen für seine Darstellung dienen Wallmann die Tagebuchberichte des Pelzhändlers Philipp Manes, welcher dem Holocaust zum Opfer gefallen ist, sowie die nach dem Ende des Krieges verfassten Erinnerungen des Initiators, Hauptprotagonisten und Predigers der Evangelischen Gemeinde Theresienstadt, Dr. Arthur Goldschmidt. Anhand von ausgewählten Biographien prominenter Mitglieder der Gemeinde zeichnet Wallmann – so gut es die Überlieferungen zulassen – das Gemeindeleben nach. Dafür präsentiert er detailreich die biographischen Hintergründe einzelner Mitglieder, so beispielhaft jene von Katharina Wach. Diese war eine Enkelin Felix Mendelssohn-Bartholdys und die Mutter des bekannten Religionswissenschaftlers Joachim Wach. Während Joachim Wach die Emigration in die USA gelang und sein Bruder Hugo als Pfarrer im elsässischen Geudertsheim die NS-Zeit unbeschadet überstehen konnte, erlebten Mutter und Schwester den Schrecken der KZ-Haft. An dieser Stelle wäre es wünschenswert gewesen, hätte der Autor eine Erklärung geliefert, warum Mutter und Tochter nach Theresienstadt deportiert wurden, Hugo Wach hingegen nicht, obwohl er im Verständnis der Nationalsozialisten denselben ‚Mischlingsgrad‘ wie seine Schwester aufwies. Der Hinweis, dass die elsässische lutherische Kirche keinen ‚Arierparagraphen‘ besessen habe und deshalb mehrere Pfarrer jüdischer Herkunft dort ‚überwintern‘ konnten (S. 107), reicht an dieser Stelle nicht aus, um die Diskrepanz bezüglich der unterschiedlichen Schicksale von Mutter/Tochter und Sohn Hugo aufzulösen.

Die zweite Abhandlung des Buches beschäftigt sich mit der Rezeption von Luthers Judenschriften in der Zeitspanne zwischen Reformation und dem Ende des 19. Jahrhunderts. Im Problemaufriss wird unzweideutig dargelegt, dass zu diesem Thema bis dato jegliche Forschung fehle. Vielmehr gebe es unter Wissenschaftlern lediglich die ohne empirisch fundierte Angaben unterfütterten Thesen, dass es eine dauerhafte Kontinuität von judenfeindlichen Einstellungen im Luthertum gegeben habe, beginnend mit jenen ‚Judenschriften‘ des Reformators. Dies habe zu einer Empfänglichkeit für den modernen Antisemitismus geführt. Die weniger verbreitete gegenteilige These geht wiederum von keiner derartigen Kontinuität aus. Wallmann kann hier klar darlegen, dass die ‚Judenschriften‘ Luthers spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert überhaupt keine Rezeption mehr erfahren haben, sondern dass judenfeindliche Autoren gänzlich andere Hauptquellen für deren Argumentation nutzten. Luther als Autorität für Intoleranz gegenüber Juden verschwindet somit relativ schnell. Die ‚Wiederentdeckung‘ Luthers zur Herleitung von Judenhass im 19. Jahrhundert fand, so Wallmann, außerhalb der evangelischen Theologie statt, vor allem durch antisemitische Agitatoren wie Theodor Fritsch. Auch wenn dieser Artikel bereits 1987 in englischer Fassung erschienen ist, so wäre bei einem Wiederabdruck zumindest der Verweis auf neuere Literatur angebracht. Gerade im Zuge des Reformationsjubiläums sind eine Vielzahl von Schriften erschienen, die Wallmanns Thesen stark relativieren und gänzlich neue Perspektiven eröffnet haben.

Aufsatz drei geht dem Verhältnis von Pietismus gegenüber dem Judentum nach: bereits Philipp Jacob Spener zeigte eine große Toleranz gegenüber dem Judentum, was charakteristisch für den gesamten Pietismus werden sollte, wodurch sich u.a. auch die skeptische Haltung von pietistischen Vertretern gegenüber der evangelischen Judenmission erklären lässt. Anknüpfend an Wallmanns Ausführungen ließe sich fragen, ob bzw. inwieweit sich jene pietistische Toleranz auf die preußische Haltung gegenüber Juden ausgewirkt hat.

Der angeblich von Luther eingeführte ‚Judensonntag‘ ist Bestandteil des vierten Aufsatzes: Der heutzutage als „Israel-Sonntag“ bezeichnete 10. Sonntag nach Trinitatis, der früher die Bezeichnung „Judensonntag“ trug, sei nach der gängigen Interpretation seit der Reformationszeit von antijudaistischen Vorstellungen geprägt gewesen, was wiederum auf Luther zurückzuführen sei. Wallmann bezieht sich in seinem diesbezüglichen Beitrag vor allem auf die 2004 veröffentlichte Monographie von Irene Mildenberger, [1] die aufzeigen konnte, dass Luthers Deutungen in seiner Predigt zu jenem 10. Sonntag nach Trinitatis gänzlich frei von judenfeindlichen Aussagen waren. Durch die Arbeit von Mildenberger sieht sich Wallmann in seiner Generalthese bestätigt, dass die evangelischen Kirchen jahrhundertelang dem judenfreundlichen Luther der frühreformatorischen Phase folgten, was sich auch anhand des ‚Judensonntags‘ zeigen lasse. Deshalb plädiert der Autor eindringlich – wie andere Forscher auch – für die Unterscheidung zwischen dem frühen und dem späten Luther, allen voran in Bezug der Beurteilung des Judentums; ein Plädoyer, dem man zustimmen kann.

Die letzten beiden Beiträge in Wallmanns Buch entsprechen leider nicht jenem wissenschaftlich-argumentativen Niveau der vorherigen Artikel, was bei den Themen ärgerlich ist. Beitrag sechs trägt den Titel Luthertum und Zionismus in der Zeit der Weimarer Republik, jedoch gibt Wallmann nach 27 Seiten plötzlich dem Leser zu verstehen, dass er jenes Thema (in den noch verbleibenden 24 Seiten) nicht weiter behandeln werde. Als Leser stellt man sich unweigerlich die Frage, warum der Titel dann keine entsprechende Anpassung erfahren hat. Im ersten Teil referiert Wallmann ausführlich den Inhalt eines Vortrages des bekannten Holocaust-Forschers Uriel Tal aus dem Jahr 1983. Wallmann geht sehr ausführlich auf Tal ein, weil er der Meinung war, der Inhalt des Vortrages sei nicht bekannt, da er nie zur Veröffentlichung gelangt ist. Auf Seite 282 gibt der Autor dem Leser plötzlich bekannt, Tals Vortrag sei doch bereits zweimal veröffentlicht worden, was die Frage aufwirft, warum dann eine derart ausführliche Wiedergabe? Im zweiten Teil beschäftigt sich Wallmann mit der Beziehung zwischen Nationalsozialisten und Zionisten, in deren Zusammenhang er unter anderem die Besprechungen zwischen Georg Strasser und zionistischen Vertretern zur Erläuterung der ‚Judenfrage‘ nennt. Auch die vertragliche Vereinbarung zwischen NS-Staat und Zionistenvereinigung im August 1933 kommt zur Sprache. Wie man aus derartigen Gesprächen und einer vertraglichen Vereinbarung eine Verwandtschaft zwischen Nationalsozialismus und Zionismus konstruieren kann (S. 295), erschließt sich dem Rezensenten in keiner Weise. Es gab ebenso Gespräche und eine Art Staatsvertrag zwischen dem ‚Dritten Reich‘ und dem Vatikan, doch lässt sich daraus noch lange keine Verwandtschaft zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus herleiten.

Noch mehr Verwunderung, wenn nicht gar Kopfschütteln, hinterlässt Artikel Nummer fünf, in welchem sich Wallmann zunächst gegen eine These von Peter von der Osten-Sacken positioniert. Osten-Sacken behauptete, das von evangelischen Landeskirchen 1939 initiierte und finanzierte antisemitische Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (‚Entjudungsinstitut‘) sei ein Vermächtnis von Martin Luther und dessen ‚Judenschriften‘ gewesen. Selbstredend ist die These Osten-Sackens nicht haltbar, bildeten doch Luthers „Judenschriften“ innerhalb des Instituts keinerlei Argumentationsgrundlage. Dennoch, dies muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden, unterlaufen Wallmann in seiner Argumentation eine Vielzahl von interpretatorischen wie auch sachlichen Fehlern. Dies ist vor allem auf ein Nichtbeachten nationaler sowie internationaler Forschungsarbeiten zur Kirchengeschichte und zum Holocaust zurückzuführen. So wiederholt er, um die Intention des Instituts darzulegen, einfach die von Protagonisten des „Entjudungsinstituts“ nach 1945 vorgetragene Selbstrechtfertigung, man habe doch nur mit den eigenen antisemitischen Arbeiten das Christentum im „Dritten Reich“ retten wollen. So stellt sich bereits an dieser Stelle die Frage, warum denn Grundmann und Co. nach 1945 ihren Antisemitismus einfach weiterverbreiteten. [2] Eine solche Fehldeutung der Intention des Instituts liegt schlicht an den Umständen, dass erstens dem Verfasser das theologische Weltbild der Thüringer Deutschen Christen mit der religiösen Deutung Hitlers als ‚gottgesandter Führer‘ gänzlich unbekannt ist, und zweitens, dass zusätzlich keinerlei neuere Forschungen zur NS-Geschichte herangezogen wurden. So sieht der Autor beispielhaft Martin Bormann, Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich, Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg als eine Einheit zur „Liquidierung“ der Kirche. Jene Legende von der Liquidierung der Kirchen durch NS-Vertreter ist schon seit Jahrzehnten durch die Forschung als bloße Ausrede von Kirchenvertretern nach 1945 zur Rechtfertigung der ideologischen Kollaboration der Kirchen mit dem NS-Staat erkannt worden. Zudem gab es auch niemals einen solchen Einheitsblock von NS-Führungsvertretern. Allein die Tagebücher Rosenbergs zeigen in aller Deutlichkeit dessen frühzeitige politische Kaltstellung sowie die Verachtung gegenüber Goebbels, die jede Zusammenarbeit verhindert hat. [3] Neben solchen Ungenauigkeiten prägen Wallmanns Artikel zusätzlich eine Vielzahl von falschen Behauptungen: Nicht Reichskirchenminister Hanns Kerrl hat Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts zu einer Privatmeinung außerhalb der offiziellen Parteiideologie erklärt, wie Wallmann behauptet (S. 233), sondern es war Hitler im Jahr 1931. [4] Auch ist Kerrl niemals von seinem Ministeramt zurückgetreten (S. 239), sondern er verstarb am 14. Dezember 1941 im Amt. [5]. Auch führte nicht ein Vortrag von Walter Grundmann an der Universität Wien zur Verbindung des Instituts zu der deutschsprachigen Landeskirche in Rumänien (S. 242), sondern deutsch-christliche Verbindungen wurden schon in den 1930er Jahren aufgenommen und seit der Institutsgründung im Mai 1939 gab es enge Kontakte nach Siebenbürgen. Als ebenso falsch muss Wallmanns Behauptung zurückgewiesen werden, lediglich in der Lübecker Landeskirche seien die Forschungen des Instituts rezipiert worden. In der Mecklenburgischen Landeskirche herrschte eine große Affinität gegenüber den „Entjudungsmaßnahmen“ und gar in der „intakten“ Hannoverischen Landeskirche hieß man die „Entjudung“ des Christentums gut. Die nicht selten positiven Rezensionen in Fachzeitschriften zu den Veröffentlichungen des Instituts benennt Wallmann gar nicht. Daran anknüpfend muss kritisch gefragt werden, woher der Autor die – ohne Quellenbelege – geäußerte Erkenntnis hat, evangelische Pfarrer hätten die Institutsforschungen überwiegend abgelehnt (S. 249).

Insgesamt bleibt ein zwiespältiger Eindruck nach der Lektüre von Wallmanns Aufsatzsammlung zurück. Neben vielen neuen Erkenntnissen, gerade in Bezug zur Bedeutung von Martin Luthers ‚Judenschriften‘ auf die Entwicklung des Antisemitismus, sorgen gerade die letzten beiden Beiträge doch für Verwunderung: Durch das Nichtbeachten von nationaler wie internationaler Forschungsliteratur über die NS-Zeit, durch das bloße Wiederholen längst widerlegter Aussagen älterer theologisch geprägter Kirchengeschichtsliteratur, durch reine Apologetik um der Apologetik willen, manövriert sich die Kirchengeschichte langfristig in die wissenschaftliche Bedeutungslosigkeit.

[1] Irene Mildenberger, Israelsonntag. Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Untersuchungen zu seiner homiletischen und liturgischen Gestaltung in evangelischer Tradition, Berlin 2004.

[2] Vgl. beispielhaft Torsten Lattki, »Das Bundesvolk kommt um im Gericht«. Der wenig verhüllte theologische Antijudaismus Walter Grundmanns in der DDR, in: Hans-Joachim Döring/Michael Haspel (Hg.), Lothar Kreyssig und Walter Grundmann. Zwei kirchenpolitische Protagonisten des 20. Jahrhunderts in Mitteldeutschland, Weimar 2014, S. 78–92; Dirk Schuster, Die Lehre vom »arischen« Christentum. Das wissenschaftliche Selbstverständnis im Eisenacher »Entjudungsinstitut«, Göttingen 2017.

[3] Jürgen Matthäus/Frank Bajohr (Hg.), Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, Frankfurt/M. 2015.

[4] Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2007, S. 171.

[5] Vgl. Hansjörg Buss, Das Reichskirchenministerium unter Hanns Kerrl und Hermann Muhs, in: Manfred Gailus (Hg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirche 1933-1945, Göttingen 2015, S. 140–170.



Zum Rezensenten:

Dr. Dirk Schuster, akademischer Mitarbeiter, Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft, Universität Potsdam.

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