Petzel

Petzel, Paul/Reck, Norbert (Hgg.), Von Abba bis Zorn Gottes. Irrtümer aufklären – das Judentum verstehen. Im Auftrag des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Ostfildern 2017, Patmos Verlag, 207 S., 10,- €; ISBN: 978-3-8436-0887-9

Als Neutestamentlerin begegnet mir auf Schritt und Tritt ein anscheinend kaum auszurottender latenter Antijudaismus in der Interpretation der Bibel. Da sind zum einen meine Studierenden, die vielfach mit diesem latenten Antijudaismus in Schule, Kirche und / oder Elternhaus aufgewachsen sind und – trotz großer Bemühungen meinerseits ihn in der Lehre zu überwinden – immer wieder in seine Falle tappen. Da ist zum anderen – und meiner Meinung nach das größere Problem – eine exegetische Literatur, gegen deren bis heute grassierende stereotype, teils abwertende Darstellung des Judentums von der Zeit Jesu bis in die Gegenwart kein Kraut gewachsen zu sein scheint. Diese Art Literatur verstärkt das latente antijudaistische Denken vieler Studierender und kann nur durch die Auseinandersetzung mit einer leider immer noch zu seltenen, bewusst nicht antijudaistischen Literatur verändert werden.

Gegen diese Mischung aus Vorprägungen/Vorurteilen und deren Verstärkung durch die entsprechende exegetische Literatur helfen keine filigranen, komplizierten und teilweise schwer verständlichen Argumentationen, sondern zu allererst eine klare Positionierung mit Problembenennung und deutlicher Gegendarstellung. Genau hier setzt das kompakte und handliche kleine Lexikon an, das von zwei katholischen Mitgliedern des Gesprächskreises Juden und Christen beim ZdK, Dr. Paul Petzel, Gymnasiallehrer für Kunst und Religion, und Dr. Norbert Reck, freier Autor und Übersetzer (u.a. Concilium, Stimmen der Zeit) im Auftrag dieses Gesprächskreises 2017 herausgegeben wurde. Es ist damit nicht nur an „interessierte Nichtfachleute und vielbeschäftigte Gemeindemitarbeiter“ (S. 11) adressiert, sondern füllt auch eine Lücke in der exegetisch-theologischen Lehre an Universitäten und Hochschulen.

Die Idee hinter diesem Lexikon ist einfach und bestechend, und es stellt sich die Frage, warum niemand früher darauf gekommen ist: nämlich zentrale (biblische) Stichwörter, „in denen Judentum und Christentum einander berühren“ (S. 11) und die in der Vergangenheit und z.T. noch heute antijudaistisch verwendet wurden und werden, auf ihre ursprüngliche Bedeutung hin zu untersuchen und die mit ihnen verbundenen christlichen „Irrtümer“ deutlich zu benennen. Plakativ stehen dafür die beiden Stichwörter „Abba“ und „Zorn Gottes“ im Titel, der erste und der letzte untersuchte Begriff des Lexikons. Gerade diese beiden Begriffe verweisen inhaltlich auf eine lange Zeit gängige, perfide christliche Strategie der Entwertung und Abwertung des Alten Testaments und des Judentums, die sich in den Gottesbildern verdichtet, die Christen sich selbst auf der einen und dem Judentum auf der anderen Seiten zugeschrieben haben: hier Gott als der liebende, allzeit vergebende „Abba“-Vater Jesu und der Christen, da der zornige, vergeltende Gott des AT und des Judentums.

Wie schon angedeutet beziehen sich die meisten analysierten und kommentierten Stichwörter auf biblische Begriffe oder Sachverhalte, da die christliche Seite durch die Jahrhunderte hindurch ihren herablassenden, ausgrenzenden bis gewalttätigen Umgang mit Juden/Jüdinnen und dem Judentum immer wieder durch Bibelstellen zu rechtfertigen suchte. Dazu gehören klassisch stereotyp antijüdisch gedeutete Begriffe, Wendungen und Inhalte, wie z.B. die sogenannte Talionsformel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, oder auch „Bund. Alter Bund – Neuer Bund“, „Erwählung/Berufung“, „Gnade“, „Kreuz/Kreuzigung“, „Opfer“, „Pharisäer“, „Rache“, „Reinheit/Unreinheit“, „Verheißung/Erfüllung“, daneben aber auch Begriffe und Inhalte, bei denen erst auf den zweiten Blick klar wird, dass sie Anlass zu Irrtümern über das Judentum gaben und geben, wie z.B. „Auferweckung/Auferstehung“, „Gottesknecht“, „Johannes der Täufer“, „Prophetie“, „Reich Gottes“, „Umkehr“, „Zebaot“. Einzelne Stichworte fallen allerdings aus dem biblischen Rahmen heraus. Dazu gehören neben „Dreifaltigkeit“, „Gottesmörder“ und „Judenmission“, die zwar biblische Wurzeln haben, aber ihre Bedeutung erst in nachneutestamentlicher Zeit entfalteten, drei jüngere Dokumente einer christlich-katholischen („Nostra aetate 4“) und jüdischen („Dabru emet“, „Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“) Annäherung und Wertschätzung der jeweils anderen Religion. Angesichts der bewussten biblischen Orientierung in der Konzeption des Lexikons mit dem Ziel, antijudaistische Irrtümer aufzuklären, irritiert die Aufnahme dieser drei Dokumente. Sie wirken eher wie Fremdkörper und wären besser in einem Anhang oder in einem kommentierenden Schlussteil aufgehoben.

Mit Ausnahme des Eintrags zu „Nostra aetate 4“, der nach einer einleitenden Vorbemerkung den gesamten Text dieses Teils des Konzilsdokuments wiedergibt (S. 122-125), sind alle übrigen Beiträge nach demselben Schema aufgebaut. Sie beginnen mit einer unterschiedlich langen Problemerhebung, in der Regel mit der Nennung der christlichen antijudaistischen Irrtümer, die sich mit dem entsprechenden Begriff oder Inhalt verbinden. Darauf folgt die Diskussion des bzw. der jeweiligen biblischen Kontexte(s) und ihrer Interpretation. Hier wird u.a. Folgendes behandelt: die Frage nach der Herkunft eines Begriffes in AT, NT, biblischer Umwelt (z.B. „JHWH“), seiner Entwicklung innerhalb der biblischen Schriften (z.B. des Stichworts „Israel“) und recht oft auch die nachbiblische Entwicklung in Christentum und Judentum, die nicht selten miteinander verflochten ist (vgl. z.B. so unterschiedliche Begriffe wie das nichtbiblische „Gottesmörder“ und das biblische „Erlösung/Befreiung“). Am Schluss jedes Stichwortes steht dann ein Ausblick, Perspektiven genannt, in dem die AutorInnen ausloten, wie bestimmte Themen und Inhalte auf dem Hintergrund der (neu) gewonnenen Erkenntnisse und jenseits verfestigter Stereotype heute weitergeführt werden und jüdisches, vor allem aber christliches Denken bereichern können. Das gilt selbst für den hochproblematischen Begriff „Gottesmörder“ (S. 82-85). Die Perspektive, die die VerfasserInnen des Eintrags mit ihm verbinden, ist seine Rolle als Stachel im Fleisch einer selbstzufriedenen Kirche. Er fordert die christlichen Kirchen dazu auf, sich über ihn bleibend ihrer Mitschuld am ausgrenzenden und mörderischen Umgang mit den Juden in der Geschichte des Abendlandes zu erinnern und sich der daraus erwachsenen Verantwortung für eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft zu stellen.

Kein Stichwort hat nur einen Verfasser. Wie die Herausgeber in der Einleitung schreiben, haben alle einen längeren Entstehungsprozess hinter sich, da die zunächst von anerkannten Fachleuten geschriebenen Texte von mehreren jüdischen und christlichen Mitgliedern des Gesprächskreises kommentiert wurden. Anmerkungen, Ergänzungen und Kritik arbeiteten die beiden Herausgeber dann behutsam in die vorliegenden Texte ein, holten bei Unklarheiten aber auch zusätzliche Expertise ein. Nicht zuletzt überprüften sie die Texte auf Verständlichkeit und Kürze. Herausgekommen ist ein Lexikon, in dem trotz der vorgegebenen gemeinsamen Struktur und unabhängig von den selbstredend unterschiedlichen Inhalten Texte versammelt sind, die sich in Diktion, im Ansatz und in der Argumentation und Durchführung unterscheiden. Und das liegt in der Natur der Sache, oder wie die Herausgeber betonen: „Die Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften ist ein offener Prozess; er wird niemals abschließbar sein.“ (S. 13)

Manche Artikel sind ausschließlich biblisch orientiert (z.B. „Auferweckung/Auferstehung“, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, „Bund. …“, „Ich aber sage euch …“, „Johannes der Täufer“, „Opfer“, „Reich Gottes“, „Vergebung“), eine Reihe Artikel haben eher systematischen Charakter (z.B. „Erlösung/Befreiung“, „Jesus von Nazaret“, „Prophetie“, „Rache“, „Volk Gottes“, „Verheißung/Erfüllung“), andere beziehen stärker die jüdische Tradition mit ein (z.B. „Exodus“, „Gnade“, „Gottesknecht“, „Nächstenliebe“, „Speisegebote“), wieder andere mehr die christliche Tradition (z.B. „Blut“, „Dreifaltigkeit“, „Opfer“, „Ostern/Pessach“). Alle Artikel sind spannend und gut zu lesen, und es macht Spaß, durch das Lexikon zu surfen und an einzelnen Stichworten hängen zu bleiben. Am Schluss jedes Eintrags findet die Leserin eine hilfreiche Literaturauswahl zum Weiterlesen und Vertiefen. Beinahe alle Artikel sind gut recherchiert, trotz der Kürze fundiert begründet und informieren zuverlässig. Gut gefallen haben der Rezensentin auch Artikel, die sich nicht scheuen, Unsicherheiten und Ambivalenzen zu formulieren (ein gutes Beispiel dafür ist das Stichwort „Volk Gottes“ S. 187-191, bes. S. 190). Selbstverständlich hätte sie das eine oder andere selbst anders geschrieben und empfindet bestimmte Darstellungen zu wenig pointiert, aber das ist angesichts der breiten jüdisch-christlichen Beteiligung am Lexikon und des damit einhergehenden Prozesscharakters gar nicht zu vermeiden und macht im Gegenteil gerade den Charme des Lexikons aus.

Nicht immer ganz nachvollziehbar sind Auswahl (s.o. zur Aufnahme dreier zentraler Dokumente des christlich-jüdischen Dialogs) und inhaltliche Zuordnung einzelner Stichworte. Selbstverständlich ist es nicht von Nachteil, wenn das eine oder andere wiederholt wird – und es liest ja auch nicht jeder alles – doch so ganz erschließt sich nicht, warum es neben dem Stichwort „Zorn Gottes“ auch ein Stichwort „Rache“ gibt, das inhaltlich nicht menschliche Rache, sondern Gottes Rache / Vergeltung behandelt (vgl. dazu weiter „Gott“, „Gerechtigkeit“, „Kriegsgott JHWH“, „Zebaot“). Auch dass der sogenannte Blutruf des Volkes aus Mt 27,25 gleich mehrmals im Zentrum von Stichworten steht („Blut“, „Gottesmörder“, „Passionserzählungen“), gibt ihm ein Gewicht, das ihm vielleicht wirkungsgeschichtlich, nicht aber biblisch zusteht. Mit dem Stichwort „Blut“ verbindet die Rezensentin zudem andere Erwartungen als eine ausschließliche Abhandlung über den Blutruf. Ähnliches gilt für das Stichwort „Jesus von Nazaret“. Statt etwas über den Juden Jesus von Nazaret zu erfahren oder doch über seine Darstellung in den Evangelien, wird Jesu Gottessohnschaft problematisiert. Hier hätte es sich angeboten, den durchaus ansprechenden Artikelinhalt unter einem Stichwort „Sohn Gottes“ abzuhandeln.

Zwei inhaltliche Fehler sollten in einer weiteren Auflage verbessert werden: Im Eintrag „Gottesknecht“ werden die Gottesknechtslieder fälschlich dem Propheten Jesaja aus dem 8. Jh. v. Chr. zugeschrieben, der „zur Zeit der assyrischen Eroberungsfeldzüge lebte“ (S. 80 f.), und nicht, wie der biblische Kontext eindeutig zeigt, einem unbekannten Propheten in der Nachfolge Jesajas am Übergang von der babylonischen zur persischen Herrschaft. Möglicherweise nur unglücklich formuliert ist auf S. 83 der letzte Satz des ersten Absatzes, der suggeriert, dass Meliton von Sardes‘ (160 n. Chr.) Satz vom Gottesmord Israels eine Folge der Konzilien von Nizäa (325 n. Chr.) und Chalkedon (451 n. Chr.) seien.


Fazit: Das von Paul Petzel und Norbert Reck herausgegebene Lexikon ist unbedingt lesenswert und sollte in keiner theologischen/kirchlichen Bibliothek fehlen! Angesichts des bis heute nicht ausgerotteten latenten Antijudaismus in allen Bereichen von Kirche und Gesellschaft (s.o.) ist es daher nicht nur denen zu empfehlen, die sich in Gemeinde, Schule und verschiedenen pastoralen Feldern haupt- und ehrenamtlich engagieren, sondern auch Lehrenden und Studierenden in Theologie und Religionspädagogik an Universitäten und Hochschulen.



Zur Rezensentin:

Dr. Angelika Strotmann, Professorin für Neues Testament am Institut für Katholische Theologie der Universität Paderborn.



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