Thematisch nicht ganz so weitreichend wie ihr Titel verspricht, analysiert
 Claudia Bruns’ Hamburger Dissertation die Entwicklung der Männerbundtheorien
 von Hans Blüher, vor allem seiner kurz vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichten
 Geschichte des Wandervogels, dem er selbst angehörte. Auch wenn Blüher
 und der weitere ideengeschichtliche Kontext der Jahrhundertwende (Bachofen,
 Schurtz, Weininger, Freud u.a.) in der einschlägigen Historiographie 
 vielfach bearbeitet worden sind  und insofern wenig Chancen für
 Neuentdeckungen bieten, gebührt Bruns’ Studie doch das Verdienst, all
 dies in einer Gründlichkeit zu tun, die ihresgleichen sucht. Insbesondere
 bietet dieses Buch auch eine genaue Bestandsaufnahme der zeitgenössischen
 Rezeption Blühers. Dass die Arbeit bei ohne weiteres möglicher
Kürzung um die Hälfte konziser und lesbarer geworden wäre,
mag auf das Konto deutscher Dissertationskultur, die schlampige Redaktion
(die Seitenangaben des Inhaltsverzeichnisses stimmen nicht mit denen im Buch
 überein) dagegen auf das Konto der Verlagspolitik gebucht werden.
   
   Ein erstes großes Kapitel stellt die beiden großen Ausgangspunkte
 von Blühers Theorien dar – Johann Jakob Bachofens Mutterrecht von 1861 und Heinrich Schurtz‘
 Altersklassen und Männerbünde
 von 1902. Während Blüher Schurtz in der Verwerfung von Bachofens
 Matriarchatstheorien und in der kulturanthropologisch basierten Vorstellung
 vom „Männerhaus“ oder Männerbund als der Keimzelle politischer
Vergesellschaftung und Staatsbildung folgte, ging er über den 1903 früh
verstorbenen Volkskundler hinaus, indem er nicht einen diffusen „Gesellschaftstrieb“
 des Mannes, sondern dessen Geschlechtstrieb als die treibende Kraft männlicher
 Vergemeinschaftung und damit auch Vergesellschaftung ansah. Bruns zeigt
eindringlich,  dass derlei Wissenschaft und die mit ihr einhergehenden Stereotype
von weiblicher  Gesellungsunfähigkeit im geistigen Horizont der Jahrhundertwende
in Deutschland weit verbreitet waren. Das Vereinswesen des 19. Jahrhunderts,
das ja infolge des um 1800 definierten bürgerlichen Politikverständnisses
 tatsächlich männlich dominiert war, diente als Beweis für
die Richtigkeit dieser Annahme.
   
   Ihre eigentliche Schubkraft erhielt Blühers geistige und publizistische
 Entwicklung allerdings durch die öffentlichen, von Bruns eingehend
nachgezeichneten  Homosexualitätsdebatten nach der Jahrhundertwende,
die bekanntlich in  den italienischen Affären des Industriellen Krupp
1902 und dann vor allem in den Skandalen um den Freundes- und Regierungskreis
Kaiser Wilhelms II. ihren Ausgangspunkt nahmen, bevor sie auf die Jugendbewegung
überschwappten  und dort zu einer regelrechten Kultur von Homosexualitätsängsten
 und Homosexualitätsverdächtigungen führte. Es schien, als
ob sowohl das politische Establishment des Kaiserreichs wie auch seine nachwachsende
 politische Führungsschicht „effeminiert“, also verweichlicht und verweiblicht
 seien. Blüher, der infolge körperlicher Schwächen nie zum
Militärdienst eingezogen wurde – im Männlichkeitsdiskurs des Kaiserreichs
ein kaum zu überschätzender Makel --, antwortete auf diese tiefgreifende 
 Verunsicherung maskuliner Normen, indem er die Not zur Tugend machte und
 Homosexualiät oder genauer Homoerotik zum Inbegriff von Männlichkeit
 stilisierte. Blüher stand mit dieser  „maskulinistischen“ Antwort
 auf die vermeintlichen Effeminierungserscheinungen Deutschlands nicht allein,
 wie Bruns zeigt, aber seine Schriften waren die populärsten. Die maskulinistischen 
 Autoren bemühten sich, Homosexualität vom Stigma der Effeminierung
 zu befreien und gleichgeschlechtliches Begehren in das diskursive Feld hegemonialer
 Männlichkeit einzuschreiben. Bruns deutet dies als Normalisierungsstrategie.
 Indem sie die Bindungsfähigkeit des Einzelnen zum Maßstab von 
Normalität erhoben, konnten Blüher und seine Gesinnungsgenossen 
Homosexualität – oder genauer Homoerotik -- als Inbegriff staatspolitisch 
wirksamer Sozialität ausgeben. In jeder freundschaftlichen oder kameradschaftlichen 
Regung des Mannes sah Blüher ein Zeichen der sublimierten Anlage zur 
Homosexualität, die wiederum die Grundlage der staatspolitischen Kompetenz 
des Mannes war.
   
   Allerdings waren Homosexualität und selbst Homoerotik im sexualfeindlichen
 Muff des wilhelminischen Deutschland viel zu anrüchig, als dass sich
 Blühers Zeitgenossen mit solchen Theorien hätten beruhigen lassen.
 Selbst innerhalb der Jugendbewegung gab es eine starke Strömung, die
 davon nichts wissen wollte und jedwede Form von Homosexualität oder
Homoerotik als Anfang vom Ende aller Männlichkeit und damit Staatlichkeit
 ansah. Die aus diesen Phobien resultierenden zahllosen Querelen und Spaltungen
innerhalb der Wandevogelbewegung zeichnet Bruns detailliert nach, größtenteils
 auf der Basis gedruckter Quellen, die auch sonst dominieren. Aber nicht
nur  Blühers Publikum reagierte, auch er selbst versuchte, sein Gedankengebäude
 gegen Kritik aus den eigenen und benachbarten, antifeministischen und völkischen 
 Reihen abzusichern. Bruns zeigt sehr deutlich, wie Blüher erst unter
 dem Eindruck dieser Auseinandersetzungen, ansatzweise bereits vor 1914,
die  antifeministische Stoßrichtung seiner Theorien um eine noch schärfere
 antisemitische erweiterte und sich damit in den rassistischen Diskurs seiner
 Zeit einfügte. Inklusion ist nicht ohne Exklusion möglich, und
je brüchiger die Grundlage von Gemeinschaftsbildung ist, desto radikaler
 das Bedürfnis nach Außenabgrenzung.
   
   Während Bruns’ Analyse des deutschen ideengeschichtlichen Kontextes
 minutiös ausfällt und mit zahlreichen langen, mitunter zu langen
 Zitaten aus Primärtexten geschmückt ist, fehlt nahezu jedwede
sozial-  oder politikgeschichtliche Einordung. In welcher Weise sich Blühers
und andere Männerbundtheorien zu den praktischen und im Kaiserreich
vielfältig praktizierten Vergemeinschaftungen von Männern verhalten,
wird mit Bezug auf das Vereinswesen ganz knapp als Problem benannt, aber
nicht analysiert, und noch weniger kommen Bezüge zwischen Theorie und
Praxis, etwa des Militärs (unter den Bedingungen der Wehrpflicht immerhin
ein namhafter Faktor von Männerbündelei), der studentischen Burschenschaften
oder lokaler, regionaler und politischer Organisationen ins Blickfeld. Von
Ausblicken auf Blühers zweites und für Bruns’ Thema zweifellos
relevantes Hauptwerk Die Rolle der Erotik
in der männlichen Gesellschaft (1917) und auf die beiden maßgeblichen
Männerbundtheoretiker nach 1918, Hermann Schmalenbach und Alfred Bäumler,
abgesehen, bricht die Studie im wesentlichen mit dem Ersten Weltkrieg ab,
ohne dass der in dieser Zeit inflationierende Diskurs um Männerfreundschaft
und Kameradschaft auch nur eines Seitenblickes gewürdigt würde.
Dass es parallele Diskurse und Diskussionen um Männerbündelei und
 deren politische Funktionen auch in anderen Ländern gab, erwähnt
Bruns. Aber entsprechende komparative Analysen bleiben wie vieles andere
künftiger Forschung vorbehalten.